Mit dem Rennrad auf das Stilfser Joch
Das Stilfser Joch mit dem Rennrad: Eine Reportage

Das Stilfser Joch - Berg der Träume

Das Stilfser Joch mit dem Rennrad: Eine Reportage

Das Stilfser Joch ist einer der berühmtesten Anstiege der Alpen. Und einer der schwierigsten – sowie Teil der Strecke des „Gran Fondo Stelvio“. Unser Autor ist mitgefahren. Eine Reportage über Berge, Qualen und Freude.
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Mit dem Rennrad aufs Stilfser Joch

Bis hierhin und nicht weiter. Ich krieche. Nein, ich taumle. Eiskalte Wassertropfen treffen mein Gesicht, sie fühlen sich an wie Nadelstiche. Es ist eine Mischung aus Regen und Graupel, die auf mich niederprasselt. Neben mir schwanken ausgezehrte Körper auf ihren Rädern. Sie fahren Schlangenlinien. Der Asphalt ist an dieser Stelle bis zu 12 Prozent steil. An den Straßenrändern ragen 1,50 Meter hohe Schneemauern auf. „3 KM“ steht auf dem Schild, das ich anstarre. Darüber türmt sich eine weiße Nebelwand auf. Mein Körper ist im Überlebensmodus. Gedanken sind zu diesem Zeitpunkt längst keine mehr in meinem Kopf. Ich bin ganz bei mir, im Hier und Jetzt. Mein Blick geht zur nächsten Kehre. Fünf davon sind es noch bis ins Ziel. 33 Kehren habe ich hinter mir. Dies sind die letzten Kilometer meines ersten Radmarathons auf italienischem Boden. Mein erster Gran Fondo. Das Stilfser Joch fasziniert mich seit meiner Kindheit. Damals habe ich heimlich eine Liste angelegt, die Liste meiner Rennrad-Träume. Darauf standen die Namen der Passstraßen, die ich durch wochenlanges TV-Studium von Tour de France und Giro d’Italia verinnerlicht habe. Ganz oben: L‘Alpe d’Huez, der Mont Ventoux und eben das Stilfser Joch.

„Ich höre die Klänge des Triumphes“

Der Stelvio, wie ihn die Italiener nennen, ist die zweithöchste asphaltierte Straße der Alpen, die „Königin der Passstraßen“ oder je nach Perspektive auch der „höchste Rummelplatz Europas“. Aus meiner heutigen Sicht ist es ganz einfach das Ziel des Gran Fondo Santini Stelvio. Ich kann die Musik schon Kilometer vor der Passhöhe hören. Der Wind weht die Klänge des Trubels zu mir hinunter. Die Musik treibt mich an nicht abzusteigen, obwohl ich allen Grund dazu hätte. Nicht ein Muskel krampft. Mein ganzer Körper streikt. Bei jedem Zug am Lenker schießen Krämpfe durch meine Unterarme. Meine Beine sind längst betäubt von der Kälte. Die Luft ist drei Grad Celsius kalt. Stunden zuvor und etwa 1500 Höhenmeter tiefer waren es noch 20 Grad mehr. Doch hier oben, 2400 Meter über dem Meer, scheint es, als wäre der Winter gerade erst zu Ende gegangen. Ab Juni ist der berühmteste Pass Italiens normalerweise befahrbar. Das kalte Weiß am Straßenrand zeugt von einem langen Winterschlaf.

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Tornante 34

Schlafen und Essen zählen zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Hier oben, kurz vor dem Ziel und am Ende meiner Kräfte werde ich wieder daran erinnert. Ich habe seit Tagen zu wenig geschlafen. Der Start um 6:30 Uhr in Bormio kommt erschwerend hinzu. Als Morgenmuffel fällt Sport vor 10 Uhr für mich unter Folter. Ausgelaugt von mehr als 130 Kilometern Rennstrapazen, versuche ich meinen Körper zu überlisten. Ich träume vom Zucker – in fester und flüssiger Form: Kuchen, Muffins, Cola. Dieser Dreiklang treibt mich an und bringt mich wieder eine Kehre nach oben. Tornante 34 lese ich verschwommen am Straßenrand.

Mortirolo: Kurz, steil, legendär

Dabei hatte ich mich „nur“ für die mittlere Route des Gran Fondo Santini Stelvio entschieden. Sie ist 138 Kilometer lang und hat 3055 Höhenmeter. Das Stilfser Joch wartet erst zum finalen Höhepunkt: 21,5 Kilometer sind es von Bormio aus, 1560 Höhenmeter geht es am Stück bergauf. Auf der Route dazwischen liegen zwei eher kleinere Berge in Teglio und La Motta. Eigentlich nichts Besonderes, genau richtig für meinen ersten Radmarathon auf italienischem Boden. Für Andere bietet der Gran Fondo Stelvio noch zwei weitere Streckenvarianten: Die kurze, über 60 Kilometer, beginnt in Bormio, dreht eine kleine Schleife über Sondalo, bevor es hinauf zum Stelvio geht. Die lange Route ist um einiges schwieriger. Sie ist 151 Kilometer lang, hat 4058 Höhenmeter und eine weitere echte Pass-Legende im Programm: den Mortirolo. Die „Mauer“ nennen die Einheimischen den Weg hinauf. Der Mortirolo zählt zu den steilsten und härtesten Anstiegen im Alpenraum. Seine Durchschnittssteigung beträgt von Tovo di Sant‘Agata mehr als zwölf Prozent. An der brutalsten Stelle ist der Asphalt rau, die Straße extrem schmal und sie schraubt sich mit 17 Prozent in die Höhe.

Krämpfe, Nebel, Serpentinen

Der Mortirolo war einer der Gründe, warum ich bei der Streckenwahl im Vorfeld lange überlegt habe. Ein niederländischer Kollege hatte mich vorgewarnt: „Die lange Runde ist zwar deutlich kürzer als der Ötztaler Radmarathon, aber mindestens genauso anstrengend. Hast du den Mortirolo in den Knochen, wird es am Stelvio brutal hart.“ Wie Recht der Kollege aus Groningen hatte. Auch ohne die „Mauer“ hat es der Gran Fondo in sich. Das spüre ich jetzt auf den letzten drei Kilometern bis ins Ziel. Der Tacho pendelt zwischen neun und zehn Kilometern pro Stunde. Weiter unten, in den ersten Serpentinen, waren es noch doppelt so viele. Ich bin hierhergekommen, um mehr vom Stelvio-Feeling zu erfahren, dem Gefühl, von dem jeder schwärmt, der den Pass schon bezwungen hat. Von diesem Flow bin ich aktuell weit entfernt. Mir ist kalt, ich habe Krämpfe, um mich herum ist nichts als Nebel. Ich will einfach nur das Zielbanner sehen, eine heiße Dusche, eine heiße Suppe. An Genuss ist in diesem Augenblick nicht zu denken. Viel Zeit zum Genießen blieb mir von Anfang an nicht. Vom Start weg schießt das Feld los. Die ersten knapp 50 Kilometer führen leicht bergab. Die austrainierten italienischen Fahrer – geschätztes Durchschnittsgewicht 62 Kilogramm – um mich herum schlagen sofort ein hohes Tempo an. Rechts und links von mir fahren dünne, ölige Zahnstocherbeine vorbei. Die Sehnen und Venen verraten, dass sie schon viele Lebens- und Jahreskilometer absolviert haben. Zu viele für mich. Immer wieder versuche ich ein Hinterrad zu erhaschen. Meistens erfolglos. Nach einer Stunde Fahrzeit zeigt mein Tacho 42,4 Kilometer. Einen 40er Schnitt in meinem ersten Gran-Fondo-Rennen auf italienischem Boden hätte ich mir nicht erträumt. Doch ich weiß auch, dass noch fast 100 Kilometer vor mir liegen. Dieser Traum könnte noch zum Albtraum werden.

Durch Weinfelder und alte Dörfer

Als der erste echte Anstieg kommt, bin ich fast erleichtert. Kein Hinterradsuchen mehr, kein Stress, jeder fährt sein eigenes Tempo. Ich schlängele mich durch einen bunten Wald aus Radtrikots, deren Träger sich den Berg hinaufkämpfen. Rechts und links der Straße wachsen Weinreben. Ab und an stehen ein paar Weinbauern mit ihren Traktoren am Rand und schauen dem Treiben mit stoischer Ruhe zu. Der Anstieg führt mitten durch ihre Anbaugebiete. An diesem Sonntag müssen sie ihre Berge ein paar Stunden lang mit den Radfahrern teilen. Dann gibt die Straße einen Blick ins Tal frei. Unter mir liegt Teglio, eine 4500-Einwohner-Gemeinde mit uralten Häusern. Im nächsten Moment werde ich von einem lauten „Hey“ aus den Gedanken gerissen. „Wie geht’s dir?“, werde ich gefragt. Ich brauche zwei Sekunden, um Willem zu erkennen, meinen niederländischen Kollegen. Er war am Anfang in der Spitzengruppe und lässt sich jetzt zurückfallen. „Noch gut“, sage ich, „der Anfang war mir etwas zu schnell.“ Er grinst und meint: „Du machst es richtig. Ich bin jetzt schon fertig.“ Wir verabschieden uns, jeder fährt seinen Rhythmus.

Stilfser Joch Granfondo Ziel

Überall wird man wie ein Held empfangen

Spätestens nach dem ersten Berg hat man auch als Gran-Fondo-Neuling eine Gruppe zum Mitfahren gefunden. Meine ist in diesem Fall acht Fahrer stark und bunt zusammengewürfelt. Auf dem Rückweg Richtung Bormio kreiseln wir wie ein eingespieltes Team. Die Verständigung klappt wortlos. Wir passieren alte urige Dörfer, in denen die Menschen an diesem Sonntag aus ihren Häusern gekommen sind, um uns anzufeuern. Italien ist noch immer radsportverrückt. Das sieht man, das spürt man. Vom kleinen Kind bis zum Senior. Die Menschen stehen am Straßenrand und schwenken grün-weiß-rote Fähnchen. Selbst die Häuser sind beflaggt. Jeder einzelne Fahrer wird hier wie ein Held empfangen.

Kein leichter Weg

Unser Weg zurück nach Bormio ist mühsam. Die Gruppe zerfällt zunehmend. Die letzten 45 Kilometer bis ins Ziel steigen stetig an. Je näher es in Richtung des berühmten Skiorts geht, desto mehr kriecht die Anspannung in mir hoch. Als wir nur noch zu dritt das Ortsschild passieren und Richtung Altstadt abbiegen, fragt mich einer der italienischen Begleiter: „Are you ready for Stelvio?“ Ich zögere. Ob ich bereit bin oder nicht, spielt ohnehin keine Rolle. Ich muss da hoch. Vorher wartet noch die „Henkersmahlzeit“. Auf dem Marktplatz haben die Organisatoren eine große Verpflegungs-Station errichtet. Es gibt frisches Obst, Kuchen, belegte Brote und sogar Kaffee. Ich bleibe kurz stehen, schnappe mir so viel ich kriegen kann und schwinge mich wieder aufs Rad. Mit vollem Mund rumpele ich über das Kopfsteinpflaster und durch die engen Gassen zurück zur Hauptstraße. Dort beginnt der Anstieg des Stelvio. Die ersten Meter auf der SS 38 sind noch recht gemütlich. Schnell habe ich einen Rhythmus gefunden. Oberhalb der Bagni di Bormio, der berühmten Thermalheilbäder, passiere ich einen ersten 150 Meter langen Tunnel. Es wird mit einem Schlag finster. Um mich herum tropft das Wasser von der Decke und den Wänden. Ich spüre die Kälte mittlerweile am ganzen Körper. Auf dem Weg zur Passhöhe warten in kurzen Abständen sechs weitere in den Fels gehauene, irgendwie altertümliche Tunnel. Der längste von ihnen ist rund 250 Meter lang. Nicht alle davon sind gut ausgeleuchtet. Nach dem letzten Tunnel türmt sich dann eine zwölf Prozent steile Rampe auf. Gleich im Anschluss muss ich 14 weitere Kehren und über 300 Höhenmeter erklimmen. Noch ist mein Tritt einigermaßen rund. Schnell bin ich trotzdem nicht mehr.

Eineinhalb Stunden bergauf

Ich schleppe mich die letzte der Serpentinen nach oben. Hier ist man plötzlich in einer anderen Welt. Das fast baumlose Hochtal Bocca del Braulio erinnert eher an ein schottisches Hochmoor als an ein Alpental. Für die traumhafte Schönheit habe ich zu diesem Zeitpunkt keinen Blick mehr. Seit eineinhalb Stunden fahre ich jetzt bergauf – und sehne das Ende herbei. Nach fast 18 Kilometern Kletterei kommt die Abzweigung zum Umbrailpass. Die Schweizer Grenze ist nicht weit, der Umbrail liegt nur rund zwei Kilometer Luftlinie vom Stilfser Joch entfernt. Der Gran Fondo führt auf italienischem Terrain weiter. Es folgen die letzten dreieinhalb Kilometer und noch einmal fast 300 Höhenmeter zur Passhöhe. Hier oben spürt man die dünne Luft. Ich kämpfe, während mein Oberkörper von rechts nach links wiegt. Trotzdem werde ich immer langsamer. Das Ziel ist nur drei Kilometer entfernt. Doch in diesem Moment ist das eine Unendlichkeit.

Wenn Träume wahr werden

Die Steigung lässt kein bisschen nach. Dann beginnt es auch noch zu regnen. Erst sind es wenige schwere Regentropfen, die auf mein Trikot prasseln. An Kehre drei sammeln sich Schneekristalle auf meinen Armlingen. 200 Meter vor dem Ziel zieht keine Böe auf. Sie ist einfach da. Der Wind zerrt an mir. Mit 80 km/h zieht er über mich hinweg. Ich kämpfe, ich taumle, ich gehe aus dem Sattel. Zum Sprinten habe ich keine Kraft mehr. Meine Augen fixieren die Absperrgitter und den blauen Zielbogen. Das Ziel steht genau auf der Passhöhe. Die Menschenmasse dort nehme ich kaum wahr. Als mein Vorderrad über die Ziellinie rollt, huscht ein Lächeln über mein Gesicht und ich blinzle gen Himmel. Weißes Sonnenlicht trifft mein Gesicht. Die Sonne durchbricht für einen kurzen Moment die Wolkendecke. Mein Traum ist wahr geworden. Ich bin oben. //

Die Region Bormio

Die Lage: Bormio liegt in der norditalienischen Provinz Sondrio (Lombardei) und hat nur rund 4500 Einwohner. International bekannt ist es vor allem als Thermalzentrum und Wintersportort.

Die Anreise: Von München aus sind es über die A95 Richtung Garmisch-Partenkirchen, Fernpass, Landeck, Reschenpass, Schena, Prad und die Nordrampe des Stilfser Jochs rund 320 Kilometer; Fahrzeit: etwas mehr als fünf Stunden.

Unsere Hotel-Empfehlung: Das Hotel Funivia im Herzen von Bormio. Das Drei-Sterne-Hotel bietet gemütlich eingerichtete Zimmer, einen Radkeller mit Werkstatt sowie einen großen Wellness- und Spa-Bereich. Hotelbesitzer Daniele Schena ist leidenschaftlicher Radsportler. Er und sein Team ausgebildeter Bike-Guides begleiten Rennradfahrer auf die bekannten Pässe der Region. Stilfser Joch, Gavia- und Mortirolo-Pass stehen mindestens einmal pro Woche auf dem Plan.

Hotel Funivia Bormio

Hotel-Adresse: Hotel Funivia, Via Funivia 34, BORMIO (SO), Telefon: +39 0342903242, Mehr Infos unter: www.hotelfunivia.it

Granfondo Stelvio Santini: Die 2017er Ausgabe des Granfondo mit Ziel auf der Passhöhe des Stilfser Jochs findet am 11. Juni statt. Zur Auswahl stehen drei Routen: Die kurze Runde (60 Kilometer; 1950 Höhenmeter) führt von Bormio aus nach Sondalo und retour nach Bormio, bevor der 21 Kilomter lange Anstieg zum Stelvio beginnt. Die Medium-Route (138 Kilometer; 3053 Höhenmeter) schlängelt sich über Tirano und Aprica, zurück nach Bormio und dann aufs Stilfser Joch. Auf der langen Route (152 Kilometer; 4058 Höhenmeter) wartet zur Rennhälfte der Mortirolo, einer der steilsten Anstiege der Alpen. Das Stilfser Joch wartet als Krönung zum Schluss.

Route Granfondo Stelvio Santini

Mehr Infos zu Bormio: www.bormio.eu; www.granfondostelviosantini.com; www.stelvioexperience.it.

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