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Autofahrer vs. Radfahrer: Leitartikel zur öffentlichen Diskussion

Gespalten

Autofahrer vs. Radfahrer: Leitartikel zur öffentlichen Diskussion

Autofahrer vs. Radfahrer. Viele gesellschaftliche Diskurse werden kaum mehr sachlich geführt. Das Medienphänomen „Kampfradler“ und die Hintergründe.
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Die Definition von Polemik lautet laut Duden: ein scharfer, oft persönlicher Angriff ohne sachliche Argumente. Damit wäre über die heutige Debattenkultur fast alles gesagt. Was man sieht, hört, liest: Es werden vermehrt Konflikte geschaffen, mit immer drastischeren Worten, mit immer weniger Inhalt, weniger Argumenten – und mehr Furor. „Radfahrer sind die Plage unserer Zeit“, lautete eine Überschrift auf Welt.de – unter der Zeile: „Kampf der Kulturen.“ Der Teasertext und die Überschrift eines neueren Artikels, der im Dezember veröffentlicht wurde, lauteten: „Zwischen zwei Beinah-Unfällen hebt der Wutradler die Faust zum Gruße. Wutradler: Junge weiße Männer tragen den Klassenkampf auf die Straße.“ (Die Zeilen stammen laut Autorenzeile von Henryk M. Broder, ergo ist in diesen Fällen von einer bewussten Überspitzung auszugehen) Das Wort, das alles zusammenfasst, lautet: Kampf. Eine Gruppe gegen die andere. Wir gegen die. Dies ist eine Polemik, die beispielhaft für den heutigen medial-gesellschaftlichen Alltags-Diskurs steht. Der lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Spaltung. Die Gesellschaft ist polarisiert – und wird immer tiefer gespalten. Einer der vielen „Konflikte“, die immer wieder geschürt werden, lautet: Autofahrer vs. Radfahrer vs. Fußgänger.

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Unfallzahlen

Beispiele gibt es unzählige. Ein besonders einprägsames war ein offener Brief des Kabarettisten Christian Springer, der in der Münchner „Abendzeitung“ erschien. Der Inhalt: eine subjektive, weitgehend faktenfreie Polemik gegen Radfahrer. Dieser hatte ich mit einem offenen Brief geantwortet, in dem ich auf Springers „Argumente“ einging. Er wurde von der Abendzeitung ignoriert.

Springer kam in seinem Pamphlet zu dem Schluss, dass sich die meisten Verkehrsteilnehmer an die Regeln halten, nur die Radfahrer nicht. Zitat: „Alle? Nein. Aber leider fast alle.“ Er unterstützte seine „Argumentation“ mit exakt zwei Zahlen, Zitat: „In Bayern gibt es jedes Jahr über 14.000 verletzte Radfahrer im Verkehr. An fast zwei Dritteln der Unfälle sind aber die Radfahrer schuld. Das ist Irrsinn.“ Irrsinn ist, wie Springer diese Zahl fehlinterpretierte und somit instrumentalisierte. Denn zu den Unfällen zählen all jene, an denen sonst niemand beteiligt ist: also jeder Sturz, jedes Wegrutschen.

Aussagekräftig sind dagegen die Zahlen zu Unfällen mit zwei Beteiligten, die da zeigen: Bei Unfällen zwischen Radfahrern und Pkw waren die Autofahrer zu 75 Prozent die Hauptverursacher. Bei jenen zwischen Lkw und Radfahrern traf die Hauptschuld zu 80 Prozent die Lkw-Fahrer. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie man durch das Auswählen einiger und das Weglassen anderer Fakten objektiv erscheinende Informationen vermitteln kann, die die eigene Weltsicht wiedergeben und die Realität verzerren.

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„Gravierende Bedrohung“

Mit solchen Artikeln werden Zorn und Ressentiments geschürt. Sie wirken wie Keile, die in einen Holzstamm getrieben werden. Die Menschen werden in Gruppen eingeteilt, Konflikte werden aufgebaut, statt auf die strukturellen Ursachen und auf Lösungen einzugehen – auf Zahlen, Fakten, Konsequenzen. Egal, gegen wen es geht – Ausländer, Inländer, Frauen, Männer, Alte, Junge, Radfahrer, Autofahrer, Flugreisende, Dorfbewohner, „Klimaleugner“, „Linksgrünversiffte“, „Ewiggestrige“, Arbeiter, Ostdeutsche, die „Babyboomer“, die Generationen X, Y, Z, Städter gegen Dörfler, Links gegen Rechts, Wessis gegen Ossis, „Globalisierungsgewinner“ gegen „-verlierer“ –, die Mechanik ist immer dieselbe. Mal subtiler – in den Medien –, mal plumper – in den sozialen Netzwerken.

Empört zu sein, wird zu einem Hobby, zu etwas, über das man sich definiert, zum Mittel der Identitätsarbeit. Es ersetzt oftmals den nüchternen Blick auf Fakten. Es gibt etliche „Bruchstellen“ einer Gesellschaft. Man kann sie kitten, über die systemischen Ursachen der Probleme sprechen, die objektiv nachweisbar sind – oder man kann dort die verbalen Meißel ansetzen, um zu spalten. Die Emotionalisierung, die Personalisierung, das Ausgrenzen geht schneller, spart Denk- und Recherchearbeit und generiert mehr Aufmerksamkeit: Empörung von der einen Seite, Zuspruch und die Bestätigung der Überlegenheit der eigenen Weltsicht von der anderen, zumindest von der eigenen Filterblase.

Wenig Aufwand, viele Klicks und Kommentare – die digitale Währung. Für Medien wie für Einzelne, die damit an ihrem Selbstbild arbeiten. Wir leben in einer „postfaktischen“ und „überkomplexen“ Zeit, liest und hört man überall. Das Buch, an dessen Inhalt man sich erinnert fühlen könnte, erschien bereits vor rund 100 Jahren. Der Titel: Public Opinion. Walter Lippmann, einer der wohl wirkungsmächtigsten Wegbereiter des Neoliberalismus, veröffentlichte es 1922.

Faktenfrei

Darin beschrieb er das Konzept einer gelenkten Demokratie, in der die Meinung der Massen gezielt gesteuert wird. Denn die einfachen Bürger sind in diesem Szenario überfordert und nicht in der Lage, die komplexen gesellschaftlichen Zusammenhänge zu verstehen. Deshalb müsse eine politische Elite die Entscheidungen treffen.

Eine Lenkung ist heute auf vielen Ebenen zu beobachten: Per Framing, Nudging – eine Nudging-Arbeitsgruppe wurde 2015 im Kanzleramt installiert und trägt den drolligen Namen „Wirksam regieren“ – oder, auf niedrigerem Niveau, Polemik und Ausgrenzung. Und sie funktioniert hervorragend. Das einzige wirksame Gegenmittel lautet: Bildung. Das Lesen, Diskutieren, Lernen, das Wissen um die Geschichte, um Sozialismus und Kapitalismus und ihre Auswirkungen und Ausprägungsformen, um Zusammenhänge und langfristige Konsequenzen kurzfristiger Entscheidungen. Kurz: Mündigkeit.

Das Humboldtsche Erziehungsideal ist nicht mehr das Ziel

Doch die Bildungsreformen, die massive Niveauabsenkung, die „Kompetenz“- statt Wissensfixierung legen nahe, dass das Humboldtsche Erziehungsideal des mündigen Bürgers wohl längst nicht mehr das Ziel ist. „Es ist längst nicht mehr der Autoverkehr, von dem sich die Fußgänger in den Innenstädten unserer Städte bedroht fühlen. Längst sind rücksichtslose Radfahrer und seit Mitte Juni 2019 auch die E-Tretroller die viel gravierendere Bedrohung. Sie rasen mit Höchsttempo durch Fußgängerzonen, nötigen Fußgänger zum Ausweichen oder verschaffen sich durch penetrantes Klingeln freie Fahrt auf Gehwegen. Es scheint, als würden die Fahrer die Verkehrsregeln komplett vergessen, sobald sie auf ihr Gefährt steigen.“

Was für viele wohl klingt, als hätte es ein um eine groteske Überspitzung, Plumpheit und Pauschalisierung bemühter, aber talentbefreiter Satiriker geschrieben, stammt aus einer Pressemitteilung des Automobilclubs von Deutschland. Keine Empathie, keine Diskussion, keine Ursachenanalyse, stattdessen Generalisierung, Schuldzuweisung, Gruppendenken, Ausgrenzung, Whataboutism und ein verbales Sündenbock-zur-Schlachtbank-Treiben. Willkommen in der neuen deutschen „Diskussionskultur“.

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Die urbane Seuche

Naturgemäß kommt die Rad-Rambo- und Kampfradler-Thematik vor allem in Großstädten auf. Teils zu Recht. Etwa wenn es darum geht, dass Radfahrer auf Gehwegen unterwegs sind. Diese Unart grassiere derart, so formuliert es ein Vertreter des „Fachverbands Fußverkehr Deutschland“ im Berliner Kurier, dass es „von vielen inzwischen als urbane Seuche empfunden“ werde. Manche Radfahrer seien im Kopf leider „dort, wo viele Autofahrer vor 50 Jahren waren: Sie halten sich für die Guten, Fortschrittlichen und glauben, sie dürften alles“.

Die Berliner Polizei hat im vergangenen Jahr 465 Kollisionen zwischen Radfahrern und Fußgängern registriert – 46 mehr als im Jahr 2016. In einer älteren Umfrage des Berliner Senats gaben 56 Prozent der Befragten an, dass sie als Fußgänger Radfahrer auf Gehwegen als das größte Sicherheitsrisiko empfinden. Diese Thematik ist somit eine wichtige.

Nur sollten dazu auch die Sachfragen gestellt werden. Wie: Warum? Warum fahren einige Radfahrer auf Gehwegen? Welche sind die größten Gefahrenquellen für Fußgänger und Radfahrer? Und die wichtigste: Wie ließe sich das Problem lösen? „Der häufigste Grund dafür, dass Menschen auf dem Gehweg Rad fahren ist, dass sie sich auf der Straße nicht sicher fühlen“, sagt Nikolas Linck vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club. Der Hauptgrund lautet demnach schlicht: Angst. 52,3 Prozent der Unfälle zwischen Radfahrern und Fußgängern in Berlin wurden von den Fußgängern verursacht oder mitverursacht.

Radfahrer haben Angst

„Die echte Gefahr“, sagt Linck , „geht für beide Gruppen nach wie vor vom Autoverkehr aus: Zwei Drittel der Verkehrstoten in Berlin sind Radfahrer oder Fußgänger, obwohl sie zusammen an nur fünf Prozent aller Unfälle beteiligt sind.“ 2018 registrierte die Berliner Polizei 2159 Kollisionen zwischen Kraftfahrzeugen und Fußgängern. 19 Fußgänger starben. An vier von fünf Fußgängerunfällen sind Autos beteiligt.

Die Zahl der in Berlin schwer verletzten Radfahrer stieg innerhalb eines Jahres von 627 auf 743, die der leicht verletzten von 4350 auf 4886, die der getöteten von neun auf elf. Dabei hat Berlin als erstes Bundesland eine „Vision Zero“ gesetzlich verankert. Darin heißt es: „Ziel ist, dass sich im Berliner Stadtgebiet keine Verkehrsunfälle mit schweren Personenschäden ereignen.“

Zahl der Radfahrer in Berlin

Die Zahl der Radfahrer – in Berlin und anderen Städten – steigt nicht wegen, sondern trotz der vorhandenen beziehungsweise nicht vorhandenen Fahrrad-Infrastruktur. Im Rahmen einer Forsa-Umfrage wurde festgestellt: Mehr als acht von zehn Berliner Radfahrern, 84 Prozent, geben an, dass sie sich im Straßenverkehr nicht sicher fühlen. „Sehr sicher“ fühlt sich niemand, „sicher“ nur jeder Sechste. In einer Umfrage des Tagesspiegel nannten mehr als 90 Prozent der befragten Berliner Radfahrer zu eng überholende Autos als Hauptgefahrenquelle.

Daraufhin wurden 100 Test-Radfahrer aus allen Bezirken zwei Monate lang mit Abstandssensoren ausgerüstet. Fast 17.000 Überholvorgänge wurden ausgewertet. Das Ergebnis: Der vorgeschriebene Mindestabstand von 1,5 Metern wurde in 56 Prozent aller Messungen unterschritten. In 18 Prozent der Fälle betrug er sogar weniger als einen Meter.

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Sicherheit?

Gemessen an der Realität müsste das Radfahrer-Sterben auf deutschen Straßen eines der großen medialen Themen sein: Die Zahl der Verkehrstoten geht zurück – 2019 sind nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts 3090 Menschen im Straßenverkehr getötet worden, so wenige wie nie zuvor seit Beginn offizieller Zählungen.

Doch die Zahl der getöteten Radfahrer steigt seit Jahren – auf 445 Menschen im Jahr 2018, 63 mehr Tote als im Jahr zuvor. Insgesamt verunglückten 88.850 Radfahrer, elf Prozent mehr als 2017. In einer landesweiten Umfrage des ADFC mit 170.000 befragten Radfahrern gaben diese der „Sicherheit auf dem Rad“ im vergangenen Jahr die Note 4,2. Zwei Jahre zuvor lag die Note noch bei 3,9. 81 Prozent der Befragten ist es demnach wichtig, auf dem Rad vom Autoverkehr getrennt zu sein. Knapp drei Viertel gaben an, dass sie Kinder nur mit einem schlechten Gefühl allein mit dem Rad fahren lassen.

Mögliche Lösungen

Die ADFC-Sprecherin Rebecca Peters sagt angesichts dieser Ergebnisse: „Wir brauchen gute, breite Radwege, getrennt vom starken Autoverkehr, durchgängige Netze, Radschnellwege für Pendler und viel mehr komfortable Fahrradparkhäuser.“ Etliche Studien und die Erfahrungen in Städten und Ländern, in denen eine solche Infrastruktur vorhanden ist, bestätigen diese Sicht. In der auf den Radverkehr eingestellten und ausgelegten Hauptstadt Dänemarks, Kopenhagen, ist das Unfallrisiko für Radfahrer in 15 Jahren um mehr als 70 Prozent zurückgegangen.

Zum Abschluss ein Zahlenspiel: die Summe, die der für die Radverkehrsinfrastruktur verantwortlichen Berliner Landesgesellschaft Infravelo 2019 zur Verfügung stand: 6,5 Millionen Euro. Die Summe, die dafür in den Radwegebau floss: 73.000 Euro. Die Summe, die für das Anmalen von Radwegen mit grüner Farbe – Fachjargon „Grünbeschichtung von Radverkehrsanlagen“ – ausgegeben wurde: 4,13 Millionen Euro. Die Summe, die eine Machbarkeitsuntersuchung zu einem einzigen geplanten Radschnellweg – dem „Panke-Trail“ – kostet: 1,07 Millionen Euro. (Dies geht aus der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus hervor. Quelle: Tagesspiegel) Die Summe, die in der niederländischen 340.000-Einwohner-Stadt Utrecht seit Langem jährlich in die Radin­frastruktur investiert wird: mehr als 15 Millionen Euro.


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