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Veränderung: Leitartikel zum Generationswechsel im Profi-Radsport

Ablösung

Veränderung: Leitartikel zum Generationswechsel im Profi-Radsport

Vom Aufstieg und Fall: Neue Generationen kommen, Alte gehen. Die Saison 2020 brachte Veränderung – und eine neue Spitze der Leistungspyramide. Von Leistung, Doping, Begeisterung und dem Image einer Sportart.
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Es ist die ewige Geschichte des Kampfes zwischen David und Goliath – zwischen einem kleineren, jüngeren, vermeintlich schwächeren Herausforderer und einem großen, etablierten, mächtigen Gegner. Jeder Goliath wird einmal fallen. Gestürzt, verdrängt, abgelöst von einem David. Einem hungrigeren, härteren, besseren, einem früheren Außenseiter, einem „Newcomer“.

Wie er selbst einmal einer war – bevor er aufstieg und zum Goliath wurde. Dies ist die ewige Abfolge. In der Geschichte, der Politik, der Wirtschaft*. Klein gegen Groß, neu gegen alt, arm gegen reich, innovativ gegen träge, hungrig gegen satt, pragmatisch gegen abgehoben – dies ist der Plot vieler Aufstiege und Untergänge. Es ist jener der Relation zwischen Teilen Asiens und Westeuropa. Und jener der Tour de France 2020.

Dominatoren

Es ist ein Plot, den das Publikum liebt. Das Duell zweier Teams war vor dieser Tour einfach zu prognostizieren. Und es trat ein. Nur mit einem völlig unerwarteten Ausgang – und ohne den erwarteten Spannungsbogen: Dieser war kürzer und weniger dramatisch, als ihn viele prognostiziert hatten. Lange vor den finalen Bergetappen in den Alpen war das Duell entschieden – am Schlussanstieg der 15. Etappe. Egan Bernal, der Vorjahressieger, brach an dem 17 Kilometer langen Grand Colombier ein. Er verlor allein an diesem Berg 7:20 Minuten auf die Tagesbesten. Zum Start der 17. Etappe trat er nicht mehr an.

Sein Team Ineos, der Goliath in diesem Vergleich, hatte vor der Tour alles auf ihn gesetzt, auf den einen Kapitän, den 23-jährigen Kolumbianer, den Tour-Sieger des Vorjahres. Die beiden anderen potenziellen Kapitäne wurden nicht für den Tour-Kader nominiert: Chris Froome, der Tour-Sieger der Jahre 2013, 2015, 2016 und 2017 und Geraint Thomas, der Tour-Sieger von 2018. Das Team Ineos verfügt, angeblich, über einen Jahresetat von mehr als 40 – das Team Jumbo-Visma über einen von rund 20 Millionen Euro. Ineos verpflichtete vor dieser Saison mal eben den Giro-Sieger des Vorjahres, Richard Carapaz.

Kommt Ineos stärker zurück?

Mit Fahrern wie Michal Kwiatkowski, Dylan van Baarle und Jonathan Castroviejo hat man zudem einige der stärksten und erfahrensten Helfer, und mit Pavel Sivakov und Ivan Sosa – sowie ab 2021 Daniel Martinez und Tom Pidcock – vier der größten Rundfahrer-Talente im Team.

2012 begann die Ära der Equipe Ineos – vormals Sky – mit dem Tour-Sieg von Bradley Wiggins, dem ersten von sieben seither. 2020 endet sie – vorerst. Doch: Es ist noch völlig unklar, ob Egan Bernal und sein Team endgültig abgelöst werden. In dieser Tour wurden sie geschlagen – jetzt sind sie aufgewacht. Und werden Vieles ändern. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie stärker zurückkommen werden.

Neue Stars

Die Saison 2020 ist eine der Ablösungen – eine des Aufstiegs neuer Stars. Auch bei den Klassikern gilt: Die über Jahre dominierende Generation – um Van Avermaet, Terpstra, Sagan, Stybar, Nibali, Valverde – wird abgelöst von einer neuen.

Der stärkste Eintages-Fahrer dieses Jahres heißt: Wout van Aert. Der Belgier ist 26 Jahre alt, seit 2019 World-Tour-Profi, dreimaliger Cyclocross-Weltmeister, und auf allen Terrains Weltklasse. Er gewinnt Massensprints oder als Solist. Er zerlegt Pelotons in den Bergen wie im Flachen. Er siegt bei Zeitfahren wie bei welligen Rennen.

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Wout van Aert war einer der größten Gewinner auf der Profi-Tour 2020

Remco Evenepoel als ein Überfahrer der Zukunft

Gleich mehrere Fahrer der neuen Klassiker-Weltspitze kommen aus dem Querfeldeinsport: Van Aert, 26, Mathieu van der Poel, 25, Julian Alaphilippe, 28.

Ein potenzieller „Überfahrer“ der Zukunft ist erst 20 Jahre alt. Ein schwerer Sturz bei der Lombardei-Rundfahrt, bei dem er sich die Hüfte brach, beendete seine extrem erfolgreiche Saison, seinen kometenhaften Aufstieg: Remco Evenepoel trat 2020 bei vier Rundfahrten an – und gewann alle vier. Er wäre einer der Top-Favoriten für den Giro d’Italia gewesen. Für seine erste Grand Tour. Mikel Landa, der Vierte der Tour de France 2020, sagt über ihn: „Wir müssen jetzt noch so viele Rennen wie möglich gewinnen, denn in zwei, drei Jahren wird er unschlagbar sein.“

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Remco Evenepoel gilt als Überfahrer der Zukunft

Top-Talent Tadej Pogačar

Diese Aussage stammt von vor der Tour. Nach der Zielankunft von Paris hätte er sicher einen zweiten Fahrer miteingeschlossen: den Tour-de-France-Sieger, Tadej Pogačar. Der damals noch 21-Jährige war – bei seiner ersten Tour-de-France-Teilnahme – der einzige echte Gegner seines slowenischen Landsmanns Primož Roglič. Er war in den Bergen stets früh auf sich gestellt, fuhr meist im „Schatten“, und im Wind-Schatten, des übermächtigen alles erdrückenden Jumbo-Visma-Teams – und siegte letztlich als One-Man-Show. Mehr David-gegen-Goliath geht wohl nicht.

Pogačar ist schon jetzt ein Mann der Rekorde: 1. Er ist der jüngste Fahrer aller Zeiten, der die Tour und gleich drei Wertungstrikots gewann: das Gelbe, das Weiße, das Rot-Gepunktete. 2. Im Vorjahr holte er bei der Vuelta gleich drei Etappensiege, was noch keinem 20-Jährigen je bei einer Grand Tour gelang. 3. Er stellte gleich mehrere neue Bestzeiten an legendären Tour-de-France-Anstiegen auf – so etwa während der achten Etappe am Col de Peyresourde. An dem 9,7 Kilometer langen Anstieg attackierte er drei Mal. Die letzte Attacke saß. Er flog den Berg in 24 Minuten und 35 Sekunden hinauf.

In den 10:25 Minuten nach seinem Antritt leistete er, laut Berechnungen anhand seiner Strava-Daten, durchschnittlich 447 Watt – was 6,77 Watt pro Kilogramm Körpergewicht entspricht. Schon am zweiten Berg dieser Etappe, dem Port de Balès, fuhr er 30 Minuten lang durchschnittlich mit 404 Watt – 6,1 Watt pro Kilogramm. Am Peyresourde unterbot er die bislang schnellste je gemessene Auffahrt-Zeit deutlich. Um 45 Sekunden. Die alte Rekordzeit lag bei 25:20 Minuten – sie war von Alexander Vinokourov und Iban Mayo 2003 aufgestellt worden. In der „dunklen Ära“ des Profi-Radsports. Dem EPO-Zeitalter. Von zwei Profis, die beide des Dopings überführt wurden.

Rekorde, Rekorde

Auch an der Steigung nach La Planche des Belles Filles stellte Pogačar einen neuen Rekord auf – obwohl er zuvor bereits rund 30 Zeitfahr-Kilometer absolvierte und am Fuß des Anstiegs noch von seinem Zeitfahr- auf sein Straßenrad wechselte. Er überwand die extrem schweren 5,9 Kilometer in 16:10 Minuten. Laut der Plattform „Velofacts“ leistete er dabei durchschnittlich 6,5 Watt pro Kilogramm. Diese Zeitfahrleistung am vorletzten Tag der Tour brachte ihm seinen dritten Etappen- und den Gesamtsieg.

Und: Die Rekord-Zeit – ebenso wie am Col de Peyresourde, am Col de Marie-Blanque, am Pas de Peyrol und am Grand Colombier. Diese Leistungen triggerten viele Reaktionen: Erstaunen, Ungläubigkeit, Respekt, Begeisterung – und Verdächtigungen. Ist eine solche Tour „sauber“ möglich?

Schlimmer als Floyd Landis?

Eine Grundsatzfrage: Kann man „unmenschliche“ Leistungen und Doping-Vergehen anhand von Auffahrt-Zeiten und Watt-Werten entdecken beziehungsweise definieren? Antoine Vayer glaubt: ja. Er war einst Trainer des Festina-Teams, dessen Doping-Praktiken der Hauptauslöser für die Skandal-Tour 1998 waren.

Nach dem Zeitfahren der Tour 2020 stellte er ein Video ins Netz, im dem er Pogačars Leistung als „schlimmer als jene von Floyd Landis“ bezeichnete. Zitat: „Schaut euch Pogačars Entourage an. Ich hoffe, dass die Institutionen und die Polizei ihre Arbeit machen.“

Vayer führt seit Jahren Berechnungen zu den Bergauf-Leistungen der Tour-Profis durch. Nach diesen leisteten allein während der Tour de France 2012 vier Fahrer auf dem Weg nach La Planche des Belles Filles Werte zwischen 6,5 und 6,65 Watt pro Kilogramm. 2017 traf dies auf fünf Profis zu. 2019 sogar auf zwölf.

Der „Doping-Arzt“ Michele Ferrari – Szene- beziehungsweise Spitzname „Dottore EPO“ – soll bei seinem Kunden Lance Armstrong ab einer Schwelle von 6,7 Watt pro Kilogramm von einer „Tour-Sieg-Form“ ausgegangen sein. Was ist das natürliche Limit? Welche Leistung ist noch „menschlich“?

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Was ist das natürliche Limit?

Fakt ist: Die genauen Leistungswerte – ebenso wie das genaue Gewicht eines Fahrers – kennen nur die jeweiligen Team-Verantwortlichen und der Fahrer selbst. Zudem müssen diese Zahlen auch je in einen Kontext gesetzt werden – Stichworte: Taktik, Höhe, Vorbelastung, Windschatteneffekte, Windrichtung. All diese Parameter beeinflussen die Leistungsdaten und Auffahrzeiten.

Würde man einen bestimmten Leistungswert, wie etwa 6,5 Watt pro Kilogramm, als klaren Hinweis auf Doping definieren, wären viele Fahrer verdächtig. Gerade in diesem Jahr waren erstaunlich viele Fahrer erstaunlich schnell – so unterboten, laut „Climbing Records“, neben Pogačar auch Primož Roglič, Richie Porte, Mikel Landa und Nairo Quintana die bestehende Rekordzeit am Peyresourde.

System Radsport selbst schuld?

Natürlich hat sich das System Profi-Radsport diese Verdächtigungen auch selbst zuzuschreiben. Wegen seiner Intransparenz etwa. Und vor allem: Wegen seiner Inkonsequenz gegenüber in Doping verstrickten Personen.

All jene aufzuzählen, die aus einem Doping-System kommen, damit in Berührung kamen, darin involviert waren und dennoch heute noch wichtige Positionen im Radsport einnehmen, würde den Rahmen dieses Leitartikels sprengen. Leider.

Andrej Hauptman ist der Sportdirektor des UAE Team Emirates. Er gilt als „Entdecker“ Tadej Pogačars. Als Profi wurde er im Jahr 2000 vom Start der Tour de France ausgeschlossen, da sein Hämatokritwert bei über 50 lag. Gegen einen „Entdecker“ Rogličs, den Rad-Manager Milan Erzen, wurden im Rahmen der „Operation Aderlass“ Ermittlungen eingeleitet. Erzen war der Sportliche Leiter des Teams Adria Mobil, in dem Roglič seine Karriere begann.

Über Mauro Gianetti, den Leiter des Teams UAE sagte der Tour-Chef Christian Prudhomme bereits 2008: „Der Manager ist ein Mann von schlechtem Ruf.“ Damals leitete Gianetti das Team Saunier-Duval. Sein Fahrer Riccardo Ricco wurde als Führender der Bergwertung des Dopings überführt.

Mit Leonardo Piepoli wurde ein zweiter Saunier-Fahrer des EPO-Dopings verdächtigt, und später für zwei Jahre gesperrt. Das komplette Team zog sich von dieser Tour zurück. 2011 war die Equipe unter dem Namen Geox-TMC bei der Vuelta am Start – und gewann die Rundfahrt mit dem Spanier Juan Jose Cobo.

Verdächtig?

Nur wurde ihm dieser Titel, wie viele weitere Ergebnisse, 2019 aufgrund von Auffälligkeiten in seinem Blutpass aberkannt. Als Profi fiel Mauro Gianetti unter anderem durch einen Vize-Weltmeister-Titel auf. Und durch ein Ereignis während der Tour de Romandie 1998: Er stürzte ohne Fremdeinwirkung vom Rad. Der behandelnde Arzt sprach davon, Gianetti sei dem Tod nahe gewesen, da er ein Mittel namens Perfluorcarbon im Blut gehabt habe. Offiziell wurde ein durch eine Allergie hervorgerufener Schwächeanfall als Ursache genannt.

Im Zuge der „Aderlass“-Doping-Ermittlungen wurden die beiden slowenischen Ex-Radprofis Kristijan Koren und Borut Bozic je für zwei Jahre gesperrt. Die Zeitung „Le Monde“ analysierte, dass innerhalb von zehn Jahren 42 Prozent aller slowenischen World-Tour-Profis wegen Dopings suspendiert wurden – acht von 19. Im Leistungssport, nicht nur im Radsport, sind Extrem-Leistungen für Viele mit Zweifeln verbunden. Nachvollziehbarerweise.

Aber: Sollten nicht auch in diesem Bereich zwei Grundprinzipien einer freien demokratischen Gesellschaft erhalten bleiben? Die Unschuldsvermutung, bis Beweise erbracht wurden – und die Ächtung jeder Form der Sippenhaft-Verdächtigungen. „Von meiner Seite aus könnt ihr mir vertrauen. Ich habe nichts zu verstecken“, sagt Primož Roglič, der Mann, der einst der beste Ski-Springer der Welt sein wollte – und erst mit 26 Jahren endgültig zum Radsport wechselte.

Märchenhaft

Seine Geschichte ist eine des märchenhaften Aufstiegs. Ähnlich jener des Vorjahressiegers des wichtigsten Radrennens der Welt: Egan Bernal wuchs in Zipaquira auf, einem „Barrio“, in einem von der Guerilla gegründeten Armenviertel, 40 Kilometer nördlich der kolumbianischen Hauptstadt Bogota, 2650 Meter über dem Meer.

Sind solche Aufstiege – vom David zum Goliath – zu „schön“, um wahr zu sein? Wer weiß es? Es gilt: Das extrem ineffiziente Doping-Kontrollsystem zu reformieren. Es gilt: Viel mehr Zeit und Geld in die Aufklärung junger Athleten zu investieren. Es gilt: Überführte Doper und ihre Dealer und Hintermänner lebenslang aus dem System Profisport zu verbannen.

Doch was wäre der Sport letztlich – und was wäre das Leben – ohne den Glauben daran, dass solch „märchenhafte“ Aufstiege möglich sind?

*Ausnahmen sind Wirtschafts-Monopole. Weshalb diese von Kartellbehörden kontrolliert und gegebenenfalls zerschlagen werden (sollten). Aktuelle Goliaths wie Amazon, Facebook, Alphabet, Microsoft, Blackrock, Alibaba, Tencent und Co. haben eine Machtfülle erreicht, die in einem „normalen“ Wettbewerb wohl nicht wieder zu brechen ist. / Anmerkung: Die eingeleitete Untersuchung zu Doping-Verdächtigungen gegen Angehörige des Teams Arkea-Samsic während dieser Tour de France war zum Redaktionsschluss noch nicht abgeschlossen.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 11-12/2020Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.


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