André Greipel, Karriere, Portrait, Rückblick
André Greipel: Rückblick auf die Karriere des Radsport-Profis

Goodbye Gorilla

André Greipel: Rückblick auf die Karriere des Radsport-Profis

17 Jahre Profi, 158 Siege: André Greipel war ein Weltklasse-Sprinter. Portrait und Rückblick auf eine beeindruckende Karriere im Radsport.
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17, 158, 22 – lauten drei Zahlen, die einen deutschen Ausnahme-Athleten mit definieren: 17 Jahre lang war André Greipel Radprofi. In dieser Zeit gewann er 158 Radrennen – 22 davon bei Grand Tours, elf bei der Tour de France, vier bei der Vuelta, sieben beim Giro. Vor der Saison 2020 wechselte er zu dem Team Israel Start-Up Nation. Er unterschrieb einen Vertrag bis Ende 2022. Doch in diesem Juli verkündete er das Ende seiner langen Karriere.

Der Sparkassen Münsterland Giro in Deutschland war sein letztes Profi-Rennen. Jetzt kann er zurückblicken auf eine erfolgreiche Karriere und sich in Ruhe Gedanken über seine Zukunft machen. Beruflich kann er sich langfristig eine Position im Radsport-Umfeld vorstellen, wenn auch nicht als Sportdirektor: „Dann bin ich wieder unterwegs. Dann bräuchte ich nicht aufhören. Ich möchte auch mal gerne zu Hause bleiben und nicht wieder durch die Gegend reisen. Ich werde keinen Cut machen. Ich werde dem Radsport erhalten bleiben, aber mit einem überschaubaren Pensum“, sagt Greipel. „Ich bin glücklich mit dem, was ich erreicht habe. Ich blicke mit viel Freude in die Zukunft, weil ich jetzt machen kann, was ich will und viel Zeit mit meiner Familie verbringen kann.“

Die Ära von André Greipel

Die Ära des „Gorillas“ geht zu Ende. Diesen Spitznamen verpassten ihm einst Teamkollegen – wegen seiner muskulösen athletischen Figur und seinen enorm hohen Watt-Werten bei Sprints.

Über viele Jahre hinweg war André Greipel der Fahrer mit der wohl höchsten maximalen Leistung im Profi-Peloton. Schon aufgrund seiner Statur – ein Gewicht von mehr als 80 Kilogramm bei 1,84 Metern – hob er sich von den meisten anderen Radprofis ab. Durch seine Fähigkeit zu enormen Kraft- beziehungsweise Schnell-Kraft-Leistungen konnte er gegen die Weltelite der Sprinter wie Mark Cavendish oder Caleb Ewan, die beide deutlich kleiner und leichter sind, bestehen. Mehr als 2000 Watt soll Greipel maximal geleistet haben.

Einen Einblick in seine Leistungen gewährte er etwa nach der 6. Etappe der Tour Down Under 2018, bei der er im Finale eine Geschwindigkeit von 76,8 km/h erreichte. Während der sechsten Etappe der Tour de France 2014 sprintete er mit einer Durchschnittsleistung von 983 Watt über 29 Sekunden und einer Maximalleistung von 1600 Watt zum Sieg. Die Sprintleistung ist zu einem Großteil, aber nicht gänzlich von der genetischen Veranlagung abhängig. Der Anteil der schnellzuckenden Muskelfasern ist ein entscheidender Faktor für Schnellkraft-Leistungen.

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Akribischer Arbeiter

Das Problem: Während die Ausdauerleistung zu einem Großteil gut trainierbar ist und sich „schnelle“ und „intermediäre“ Muskelfasern in langsam-zuckende, ausdauernde Muskelfasern umwandeln können, ist der Prozess in die andere Richtung kaum möglich. Dennoch kann die Sprintleistung im Durchschnitt um bis 15, 20 Prozent verbessert werden: durch eine verbesserte Ansteuerung der bestehenden Muskelfasern und einer Steigerung der Maximalkraft.

André Greipel hat sich nie auf sein Talent verlassen. Er galt immer als akribischer Arbeiter auf und neben dem Rad. André Greipel kam 1992 zum Radsport – als Zehnjähriger. Seine ersten Rennen fuhr er für den PSV Rostock. Seine Profi-Karriere begann 2005 beim Team Wiesenhof.

Ein Jahr später wechselte er zum deutschen Top-Team T-Mobile. In jener Phase lag der deutsche Radsport „am Boden“. Der einstige Superstar Jan Ullrich war in die Dopingaffäre um Eufemiano Fuentes verstrickt.

Dass Radsportler auf der Straße beim Training beschimpft wurden, gehörte für einige zum Alltag. „Für mich war das keine einfache Zeit. Ich habe immer an das Gute im Athleten geglaubt und musste dann erfahren, dass viele Idole, zu denen man hochgeguckt hat, Fake-Idole waren“, sagte Greipel in der ARD-Dokumentation „Der Tanz des Gorillas“. Zwei Jahre lang war er Teamkollege von Erik Zabel, dem großen Sprinter des Teams T-Mobile, das später in HTC Highroad umbenannt wurde. Während der zwölf Jahre ältere Zabel bei der Tour de France um Etappensiege kämpfte, startete André Greipel bei der Rheinland-Pfalz-Rundfahrt – und gewann Etappen. Auch nach Zabels Karriereende stand Greipel bei T-Mobile in der zweiten Reihe: Der Brite Mark Cavendish hatte die Rolle des Top-Sprinters übernommen und bekam den Vorzug bei der Tour-Nominierung. Greipel nahm das hin. Er entwickelte sich von Jahr zu Jahr weiter. Die Erfolge wurden größer, wichtiger.

André Greipel, Karriere, Portrait, Rückblick

André Greipel bei der Baloise Belgium Tour 2018

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Eindruck von Paris-Roubaix 2017

Endgültiger Durchbruch

Das Jahr 2008 war das Jahr seines endgültigen Durchbruchs in die Weltspitze. Er gewann vier Etappen und die Gesamtwertung der Tour Down Under und feierte seinen ersten Etappensieg beim Giro d`Italia. Ein Jahr später gewann er seine erste Vuelta-Etappe. 2010 holte er 21 Siege. Doch im teaminternen Duell blieb Mark Cavendish die Nummer eins.

So wechselte der gebürtige Rostocker 2011 das Team: Er ging nach Belgien zur Equipe Omega Pharma-Lotto, die später in Lotto-Soudal umbenannt wurde. Dort prägte er eine Ära. Acht Jahre lang war er der Sprint-Kapitän – und lieferte Top-Ergebnisse. „Es war eine großartige Reise mit ihm. Er war der wichtigste Fahrer des Teams in den vergangenen zehn Jahren“, sagte sein damaliger Teamchef Marc Sergeant.

André Greipel: Emotionaler Etappensieg bei der Tour de France

Einer seiner emotional größten Siege war wohl jener bei der zehnten Etappe der Tour de France 2011: Er schlug dabei seinen ehemaligen Teamkollegen Mark Cavendish.

Im gleichen Jahr bescherte ihm der Brite jedoch auch einen „bitteren Moment“: Vor den Weltmeisterschaften von Kopenhagen war André Greipel in Top-Form. Zum ersten Mal seit Jahren schien der WM-Titel für einen deutschen Fahrer greifbar nah. Doch im Schlusssprint nach einem kontrollierten Rennen waren zwei Fahrer schneller als er: Mark Cavendish und der Australier Matthew Goss. Greipel fuhr auf den Bronze-Rang. Mit Marcel Kittel und John Degenkolb gehörten zwei weitere Sieganwärter zum deutschen Team.

Rivalität mit Mark Cavendish

Die Rivalität mit Mark Cavendish wurde zu einem roten Faden seiner Karriere. Der Brite ließ einmal verlauten, Greipel gewänne nur die „beschissenen kleinen Rennen.“ Der Deutsche ließ sich auf keinen verbalen Schlagabtausch ein. Er blieb – und ist es heute – professionell und respektvoll und konstatiert: „Cavendish war der beste Sprinter unserer Generation. Ein Konkurrent, der in meiner Karriere leider viel zu oft vor mir gelandet ist.“

Diese Aussage spricht für Bescheidenheit. Denn seine Ergebnisse sprechen für eine herausragende Karriere. 2013 wurde er zum ersten Mal Deutscher Straßenmeister. 2014 und 2016 holte er sich das Meistertrikot zwei weitere Male. Was umso bemerkenswerter war, da er mit seinem langjährigen Freund, Weggefährten und Sprint-Anfahrer, dem gleichaltrigen Marcel Sieberg, je nur einen Helfer hatte.

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Eine ewige Rivalität: Mark Cavendish und André Greipel

Rivalen & Watt-Werte

Nach elf gemeinsamen Jahren trennten sich die Wege der beiden Freunde erst vor der Saison 2019: Sieberg wechselte zum Team Bahrain-Merida, Greipel zum Team Arkéa-Samsic. Ihre Verträge waren nicht verlängert worden. Stattdessen setzte man bei Lotto-Soudal auf den zwölf Jahre jüngeren Australier Caleb Ewan als Sprint-Kapitän. Doch bei Arkéa-Samsic fand Greipel zu wenig Unterstützung. Er löste seinen Vertrag vorzeitig auf und ging zum Team Israel Start-Up Nation, wo er in Rick Zabel einen neuen Anfahrer fand.

Noch vor einem Jahr nach einer langen Verletzungspause nach einem möglichen Karriereende gefragt, schob er diese Option weit von sich. Auch mit 38 Jahren spürte er noch die Lust am Radfahren. Auch wenn die Siege in den vergangenen Jahren seltener wurden. 2016, im Jahr seines letzten Tour-Etappensieges, gewann er zehn Rennen, darunter drei Giro-Etappen.

Im Februar 2020 stürzte er während einer Trainingsfahrt auf nasser Straße – und erlitt eine schwere Schulterverletzung. Auch als die Beschränkungen während der Corona-Pandemie die Rennpause um viele Monate verlängerten, blieb er weiter motiviert – und nutzte die Zeit. Sein Trainingsfleiß war ungebrochen, seine Wattwerte optimal. Im Frühjahr 2021 holte er seinen ersten Sieg seit 28 Monaten: Er gewann die Trofeo Alcúdia auf Mallorca. Fünf Tage später gewann er eine Etappe der Vuelta a Andalucía. „Aber aus irgendeinem Grund hat mich das nicht mehr geflasht. Andere haben sich mehr über diese Siege gefreut als ich selbst“, sagte er später – und deutete das als Zeichen.

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André Greipel feiert einen Etappensieg beim Giro d’Italia 2017

Zeit aufzuhören

„Das war für mich der Moment, in dem ich gespürt habe, dass es Zeit ist, aufzuhören.“ Die Leistungsanalyse zeigt, dass er noch immer ähnliche Watt-Werte treten kann wie vor einigen Jahren. Es ist der Kopf, der müde ist.

Ein spätes Highlight seiner finalen Saison als Profi war der Sieg eines anderen Fahrers, eines Freundes: Während der zwölften Etappe der Tour de France fuhr Greipel extrem „sprinter-untypisch“. Er attackierte früh mit und schaffte es in die Ausreißergruppe des Tages. Mit ihm in der Gruppe: sein Freund und Trainingspartner Nils Politt aus dem Team Bora-Hansgrohe. Greipel gab dem zwölf Jahre Jüngeren Tipps – etwa jenen, im Finale zu attackieren. Politt setzte das Ganze um – und fuhr als Solist zu seinem ersten Tour-Etappensieg. Greipel kam auf Rang sechs. Er leistete während dieser Etappe durchschnittlich 315 Watt – über einen Zeitraum von 3:35 Stunden hinweg. Seine normalisierte Durchschnitts-Leistung: 360 Watt. Seine Maximal-Leistung: 1816 Watt. „Ich bin sicher nicht mehr so hungrig wie zu Beginn meiner Karriere. Ich überlege mehr, bremse vielleicht früher, bin nicht mehr so risikofreudig.“

An Verträgen oder Jahreszahlen habe er seine Karriere nie festgemacht, sagt er. Es war einfach Zeit. Einen Tag vor dem Finale seiner elften und letzten Tour de France verkündete er in einer Videobotschaft sein Karriereende. Auf den Champs-Élysées, dort wo er 2015 und 2016 als Etappensieger zwei der größten Triumphe seiner Laufbahn feierte, sprintete er noch einmal auf den fünften Platz. „Ich habe den Radsport gelebt, geliebt und manchmal auch gehasst.“

Dieser Artikel erschien in der RennRad 11-12/2021. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.


André Greipel: Steckbrief

Geboren 16. Juli 1982 in Rostock
Größe/Gewicht 1,84 Meter /82 Kilogramm
Wohnort Hürth
Familie Ehefrau Kristina, Töchter Anna 17 & Luna 12 Jahre alt
Ausbildung Bürokaufmann
Spitzname Gorilla
Liebelingsessen selbstgemachte Kartoffelpuffer
Lieblingsgetränk Bierspezialitäten

Erfolge von André Greipel

  • 18 Etappen- & 2 Gesamtsiege Tour Down Under
  • 11 Etappensiege Tour de France
  • 11 Etappensiege Türkei-Rundfahrt
  • 10 Etappensiege Belgien-Rundfahrt
  • 7 Etappensiege Giro d‘Italia
  • 7 Etappensiege Eneco Tour
  • 4 Etappensiege Vuelta a España
  • 3 Etappensiege Polen-Rundfahrt
  • 3 Deutsche Meistertitel
  • 2 Siege Brussels Cycling Classic
  • 1 Sieg Cyclassics in Hamburg
  • 1 Philadelphia International Championship
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