Leistung, Talent, Doping-Verdächtigungen, Leitartikel
Leistung, Talent, Training und Doping-Verdächtigungen: Ein Leitartikel

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Leistung, Talent, Training und Doping-Verdächtigungen: Ein Leitartikel

Training plus Talent und Wille ist gleich Leistung. Oder? Von Watt-Werten, Doping-Verdächtigungen und Narrativen. Ein Leitartikel.
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Citius, altius, fortius – schneller, höher, stärker. Das Motto der Olympischen Spiele steht für den Geist, das Grundprinzip, des Spitzensports. Und für dessen Problem: Wie weit geht es – in Sachen Leistung? Und: Wie weit gehen Menschen – für die Leistung? Zu den Reaktionen auf Weltrekorde zählt heute auch oft: ein Verdacht. Und damit die Frage: Welche Leistungen sind noch „normal“, „menschlich“, durch eine reine Kombination von Training, Talent, Motivation, Willen erreich- und leistbar?

Es ist eine Frage, die extrem schwierig zu beantworten ist. Wie kann jemand, konkret etwa Karsten Warholm, 400 Meter Hürden in 45,94 Sekunden laufen? Wie kann ein bislang kaum bekannter Sprinter, konkret Lamont Jacobs, Doppel-Olympiasieger von Tokio werden, über 100 Meter und in der Vier-Mal-100-Meter-Staffel? Welche Rolle spielt das Material bei solchen Extrem-Leistungen?

Debatte um Leistung

Im Vorfeld der Olympischen Spiele gab es Debatten um die Rolle von Lauf-Schuhen, ausgelöst durch den 2017 erschienenen Nike „Vaporfly“. Dessen Sohlenkonstruktion ist extrem voluminös, denn darin ist neben Schaumstoff auch eine Carbonplatte integriert. Durch diese Technik soll ein Teil der Energie, die beim Auftreten abgegeben wird, an den Läufer „zurückfließen“. Die dadurch potenzielle Leistungsersparnis: bis zu vier Prozent. „Ab einem gewissen Punkt kann man Leistungen nicht mehr mit dem Genpool erklären, nicht mehr mit den Trainingsmethoden und auch nicht mit dem Material. Es gibt Grenzen, die uns der Körper setzt, die niemand von uns selbst mit den besten Voraussetzungen überschreiten kann“, sagt der Mann, der jene Grenzen der menschlichen Leistung errechnet haben will, in einem SZ-Interview: Antoine Vayer, der „geläuterte“ frühere Trainer des Skandal-Radteams Festina.

Seiner Meinung nach sind alle Dauer-Leistungen am Berg zwischen 430 und 450 Watt „Wunder“. Mehr als 450 Watt könnten dauerhaft nur „Mutanten“ treten. Lance Armstrong konnte demnach mit seinem Gewicht von 71 Kilogramm an langen Anstiegen durchschnittlich 470 Watt leisten: 6,6 Watt pro Kilogramm. Tadej Pogačar leistete während der Tour de France 2020, laut Berechnungen anhand seiner Strava-Daten, über mehr als zehn Minuten durchschnittlich 447 Watt – was 6,77 Watt pro Kilogramm Körpergewicht entspricht. Am Port de Balès fuhr er 30 Minuten lang durchschnittlich mit 404 Watt – 6,1 Watt pro Kilogramm. Zu den Leistungen des inzwischen zweimaligen Tour-Siegers sagt Vayer: „Nach meinen Berechnungen liegt Pogačar zehn Watt über den anderen Favoriten. Das ist monströs, da liegen Welten dazwischen. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Seit einiger Zeit ziehen sie jedes Jahr ein neues Supertalent aus dem Hütchen. Erst Bernal, dann Pogačar, mit Evenepoel steht der nächste bereit. Wir müssen aufhören, diesen Unsinn zu glauben, es gäbe außergewöhnliche Champions, die mit einem Peloton spielen, in dem bereits lauter außergewöhnliche Champions fahren.“

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Berechnungen beruhen auf Schätzwerten

Auch Ross Tucker, Professor für Sportphysiologie an der Universität Kapstadt, beschäftigt sich seit Jahren mit den Leistungsdaten der Top-Athleten – und kommt zu ähnlichen Schlüssen wie Vayer. In den späten 1990ern und frühen 2000er-Jahren, so Tucker, mussten Profis an den Schlussanstiegen der Tour-Etappen zwischen 6,4 und 6,7 Watt pro Kilogramm treten, um vorne dabei zu sein. „Was Menschen tun, die 6,5 Watt pro Kilogramm leisten, geht über meinen Glauben. Das ist physiologisch eigentlich nicht möglich.“

2015 soll der viermalige Tour-Sieger Chris Froome, nach Berechnungen des Pariser Sportphysiologen Pierre Sallet, am Schlussanstieg von La Pierre Saint-Martin durchschnittlich 7,04 Watt pro Kilogramm geleistet haben. Eine Leistung, die nur von wenigen Fahrern der „Epo-Hoch-Ära“ erreicht worden sei.

Doch: Die meisten dieser Berechnungen beruhen, zumindest teilweise, auf Schätzwerten. Zudem bleiben oft die Tages-, Wetter und taktischen Bedingungen unberücksichtigt. Der Mann, der für Tadej Pogačars Leistungsentwicklung mitverantwortlich ist, und alle seine physiologischen sowie die Leistungs-Daten kennt, heißt: Dr. Iñigo San Millán. Er ist Professor an der University of Colorado im Fachbereich Medizin und auf die Krebsforschung, Diabetes und kardiometabolische Krankheiten spezialisiert.

Watt pro Kilogramm

Er arbeitete bereits für die Rad-Teams Once, Saunier-Duval, Garmin und Astana. Seit 2018 betreut er die Athleten des UAE-Team-Emirates.

Nach der Tour 2021 konstatierte er: „Es ist frustrierend, dass die Leute meinen, Tadej wäre ‚außerirdisch‘ gefahren. Er hat nie seine Leistungswerte aus dem Vorjahr erreicht. Er wurde einfach nicht herausgefordert. Er konnte langsamer als im Vorjahr fahren, weil die anderen nichts zu bieten hatten. Sie konnten nicht einmal attackieren. Innerhalb von einer Minute Abstand im Klassement gab es sechs oder sieben Fahrer, die sich nicht attackierten. Das ist merkwürdig. Die Tour de France 2021 hatte eine der langsamsten ersten Wochen – gerade im Vergleich zu kürzeren Etappenrennen. Und trotzdem sind die Fahrer am Ende. Das ist das eine. Das andere ist, dass viele Teams wie Ineos und Jumbo-Visma Fehler in der Vorbereitung bei den Höhencamps gemacht haben, genau wie im vergangenen Jahr. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass das der Grund ist.“

Konkret zur 8. Etappe der Tour – und zur Leistung des UAE-Fahrers Davide Formolo bilanzierte er: „Davide war mit in der ersten Gruppe, obwohl er an diesem Tag Durchfall hatte. Er litt die letzten drei, vier Tage an einer Gastroenteritis. Ich habe seine Daten, denn er fährt in meinem Team. Und wenn ich sehe, dass Formolo 5,79 Watt pro Kilogramm leistet, muss ich sagen: Tut mir leid, aber das ist sehr wenig. Kein Wunder, dass Tadej zwei Minuten schneller als diese Gruppe am Col de la Colombiere war. Mit 5,8 Watt pro Kilogramm erreichst du auf diesem Niveau nichts. Die anderen Fahrer kommen nicht über sechs Watt pro Kilogramm. In anderen Rennen aber schon – Tirreno-Adriatico, Paris-Nizza, Katalonienrundfahrt – dort leisten sie 6,2, 6,3, 6,4 oder sogar 6,5 Watt pro Kilogramm. Diese Etappe nach Tignes war lächerlich. Tadej hat knapp unterhalb seiner Schwellenleistung attackiert und ist während der letzten 1,5 Kilometer sogar etwas langsamer geworden. Wir haben nichts Besonderes getan. Wir haben unseren Job gemacht. Tadej hält dieses Level das ganze Jahr über. Er fährt bessere Zahlen im Training als an diesen Tagen in den Alpen.“

De Gendt über Leistung bei der Tour

Diese Aussagen und Schlüsse blieben nicht unwidersprochen. So attestierte Thomas de Gendt, der 34-jährige Belgier und viermalige Grand-Tour-Etappensieger, dem Tour-Peloton bereits nach der achten Etappe eine massive Leistungssteigerung: „Ich bin eine meiner besten Zehn-Minuten-Leistungen seit 2013 gefahren. Normalerweise könnte ich mit diesen Werten das gesamte Peloton auseinanderreißen. Diesmal war ich 100 Meter hinter der Spitze in einer Gruppe mit 70 anderen – und als es losging, war ich in der ersten Reihe. Wenn man dann nicht im Hauptfeld bleibt, wird einem klar, dass das Niveau einfach sehr viel höher ist.“

Sein belgischer Landsmann Greg Van Avermaet, der Olympiasieger von 2016, pflichtete ihm einen Tag später bei: „Ich hatte von den Watt-Zahlen her einen meiner besten Tage und war in der letzten Gruppe. Die anderen fahren einfach schneller.“ Und wieder bleiben dieselben Fragen: Wie „entstehen“ diese Leistungen? Und: Was ist noch „normal“? Letztlich basieren die Diskussionen dazu meist nur auf: Verdächtigungen, Gerüchten, Erfahrungswerten und Ableitungen davon.

Anti-Doping-Kampf

Was klar und erwiesen – und eine Grundlage dieser Debatten – ist: Das bestehende Anti-Doping-System funktioniert nicht. Quasi keiner der großen Radsport-Dopingfälle ist über dieses System entlarvt worden. Es waren Whistleblower, Razzien und staatliche Ermittlungen, die Dopingtäter überführten. Allein Lance Armstrong ist tausende Male getestet worden – ohne je „positiv“ zu sein.

Klar ist auch: Die Pharma-Technologie macht immer weitere Fortschritte – und somit werden immer mehr und immer effizientere potenziell zur illegalen Leistungssteigerung dienende Mittel entwickelt. Theodore Friedmann, ein Experte der Welt-Anti-Doping-Agentur, geht davon aus, dass das Genome Editing, die Möglichkeit Gene zielgerichtet zu verändern, auch im Sport Anwendung finden wird. Es gebe Hinweise darauf, dass dies im Spitzensport bereits versucht werde, sagte er in einem Deutschlandfunk-Interview.

Seit Jahren wird diskutiert, ob Sportler so weit gehen, ihre Gene manipulieren zu lassen. Eine Veränderung der DNS bedeutet eine „Umprogrammierung“ des Körpers. „Ich denke, es wird passieren, weil es zu verlockend ist. Die neue Technologie ist zu gut, um sie zu ignorieren. Das ist eine neue Welt. Das wird den Anti-Doping-Kampf komplett verändern und den Sport treffen.“ Bei Tieren wird die Technologie seit Jahren angewandt. So entfernten chinesische Forscher Hunden mittels der CRISPR-Technik das Myostatin-Gen, das das Wachstum der Muskulatur kontrolliert. Die manipulierten Hunde bauten die doppelte Muskelmenge normaler Beagles auf. Gendoping könnte auf dieser CRISPR/Cas-Technik oder dem Einschleusen von DNA, mRNA oder siRNA basieren. Auch die „einfachere“ Veränderung der Genexpression kann in leistungssteigernden physiologischen Veränderungen resultieren.

Hase-Und-Igel-Spiel

Der Anti-Doping-Kampf ist ein Hase-Und-Igel-Spiel: Die Doper – und ihre Hintermänner – sind immer schneller. Eine der wenigen potenziellen „Waffen“ der Anti-Doping-Behörden sind nachträgliche Analysen. Und somit: Das Einfrieren von Proben, das Spielen auf Zeit, das Entwickeln neuer Nachweismethoden. Was bleibt, sind Zweifel.

Denn: Auch die weltbesten Athleten sind nur Menschen. Und das Betrügen – oder, wie es in anderen Lebens- beziehungsweise Gesellschaftsbereichen heißt, das „Sich-Selbst-Optimieren“ – ist ein menschliches Verhalten. Wenn man sich Vorteile verschaffen kann, wenn es irgendwo einen „leichten Weg“ gibt, hin zu Erfolg, Ruhm, Geld, Bestätigung, wird es immer Menschen geben, die diese „Gelegenheit“ ausnutzen. In allen Lebensbereichen – auch im Sport.

Dieser Leitartikel erschien in der RennRad 11-12/2021. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.

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