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München – Meran: Tour über die Alpen – Reportage zum Selbstversuch

München – Meran

München – Meran: Tour über die Alpen – Reportage zum Selbstversuch

Über die Alpen – von Deutschland durch Österreich nach Italien. An einem Tag. 265 Kilometer, 3000 Höhenmeter, ein Erlebnis. Der Selbstversuch.
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25 Kilometer Anstieg, sechs Fahrer, die zusammenarbeiten, Einerreihe, aktuell drei Prozent Steigung – und 33 km/h. Ich fahre im Windschatten bergauf. An einem Pass, den wir noch gar nicht als solchen wahrnehmen. Mein offenes Trikot flattert im heißen Fahrtwind. Auf seiner Schwärze wachsen weiße Salzkristalle – sie funkeln im grellen Sonnenlicht. Dies ist der Brennerpass. Die alte Straße. Wir haben sie fast für uns. Es ist 12:30 Uhr. Mehr als sechs Stunden zuvor sind wir aufgebrochen. Fast vor meiner Haustüre, in München, 180 Kilometer von hier entfernt. Unsere Durchschnittsgeschwindigkeit bis zum Fuß des Brenners: rund 33 km/h. Dies ist erst der Auftakt. Der Scharfrichter dieser Tour steht uns noch bevor. Nach weiteren 20 Kilometern bergauf, und einer Abfahrt: der Jaufenpass.

Berge und Tempo

Gleichmäßig wechseln wir uns in der Führungsarbeit ab. Unterlenker. Fünf Männer und eine Frau. Eine Frau, die erst seit einem Jahr Rennrad fährt. Und heute fast alle Männer abhängen wird. Linda Klose ist 27 Jahre alt und Studentin. Diese 265-Kilometer-Tour wird die mit Abstand längste Radstrecke ihres Lebens. Diese beiden Anstiege – der Brenner- und der Jaufenpass – zählen zu den ersten richtigen Pässen ihres Lebens. „Im letzten Jahr saß ich zum ersten Mal auf einem geliehenen Rennrad“, sagt sie. „In diesem Frühjahr habe ich mir ein gebrauchtes Specialized gekauft. Ich fahre immer mehr. Es macht einfach Spaß.“

Es wird immer heißer, 30, 31, 32 Grad. Heute Morgen, vor etlichen Stunden, war noch alles anders. Am Abend zuvor kamen schwarze Gewitterwolken. Als mein Wecker um 4:30 Uhr klingelte, war der Himmel noch dunkel-grau, die Straßen waren schwarz vor Nässe. Die Temperatur: 15, 16 Grad. Um 6:15 Uhr fuhren wir los. 29 andere und ich. Vor dem Eingang des Bikedress-Stores in der Innenstadt in München.

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München – Meran an einem Tag

Es war der Start zu einem der längsten Tage des Jahres – und zur längsten Rennrad-Strecke meines Lebens. Unser Ziel: Meran in Südtirol, rund 265 Kilometer entfernt. An einem Tag über die Alpen.

Auf die Idee kam Heiko Wild, der Gründer des Monaco Veloclub. In drei Zehn-Fahrer-Gruppen rollen wir los. Unter luxuriösen Begleitumständen: Denn unser Gepäck wird per Van transportiert. Darin ist auch Werkzeug, Verpflegung, Wasser, Cola, und eine Siebträger-Espressomaschine. Die sonst so übervolle Stadt ist fast leer. Wir haben die Straßen an diesem Samstagmorgen für uns.

Nach rund vier Kilometern biegen wir auf einen der Radfahrer-Schleichwege in München überhaupt ein: den schmalen Teerweg durch den Perlacher Forst. Eine schnurgerade Straße durch ein Waldgebiet. Danach ist die Navigation einfach: immer gen Süden.

Die rund 53 fast nur flachen Kilometer von München bis nach Bad Tölz verfliegen. Die Gräue des Morgens weicht den ersten warmen Sonnenstrahlen. Schon die ersten Ausblicke auf die grauen Formationen der Berge am Horizont belohnen uns für alles. Für den wenigen Schlaf, das schnelle Müsli-Frühstück, die anfangs noch nasse Straße. Wärme und Weite. Normalerweise meide ich diese Straße wegen des vielen Verkehrs. Normalerweise bin ich etwas weiter östlich unterwegs, auf den vielen schmalen Wegen zwischen Grünwald und Dietramszell. Auf asphaltierten Wegchen, die teils nur einzelne Bauernhöfe miteinander verbinden. Auf Wegen, auf denen, gefühlt, vor allem Rennradfahrer unterwegs sind.

Heute Morgen sehen wir, auch hier, auf dieser „großen“ Straße, im Durchschnitt alle zehn Minuten ein Auto. Die motorisierten Samstags-Ausflügler schlafen noch. Zwischen Bad Tölz und Lenggries werden sie, leider, schon deutlich zahlreicher. Bald kommen wir an den ersten „Pass“ des Tages. Nur führt das Wort in diesem Fall in die Irre, denn ein Anstieg ist hier, am Achenpass, kaum wahrnehmbar. Oben an der Staumauer des Sylvensteinspeichers machen wir die erste Pause. Wasser-Auffüllen, ein Gruppenfoto, Windjacke ausziehen, weiter.

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Teamwork

Die Altersstruktur in unserer Gruppe reicht von Mitte 20 bis Mitte 50. Mit dabei sind: eine Studentin, ein Unternehmensberater, ein Zahnarzt, ein IT-Berater. Die einen fahren etwas länger vorne „im Wind“, die anderen etwas kürzer. Es rollt. 33, 34 km/h.

Auf einem Schild am Straßenrand steht: „Innsbruck 65 Kilometer.“ Eine Unterhaltung mit meinem Nebenmann später sehe ich, dass es nur noch 48 Kilometer sind. Dieser erste Teil der Strecke „verfliegt“. Vielleicht weil ich abgelenkt bin. Vielleicht weil mein Gehirn noch immer nicht ganz wach ist.

Mehr als die Hälfte unserer Strecke ist fast vollständig flach. Auch der Brenner ist kein Anstieg für „Bergfahrer“. Er ist ein „Rollerberg“ – lang, aber nie steil.

Zählt man Innsbruck beziehungsweise Aldrans als Startpunkt des Anstiegs, so lauten seine Daten: 43,5 Kilometer, 800 Höhenmeter. Eigentlich stand dieser Anstieg nicht auf dem Streckenplan. Doch die Organisatoren von Bikedress mussten umdisponieren. Denn ein Teil der angedachten Strecke war wegen eines Erdrutsches wochenlang gesperrt. Ein ganz entscheidender Teil: Das, von dieser Seite aus, 22 Kilometer lange und 2500 Meter hohe Timmelsjoch, das Sölden im Tiroler Ötztal und St. Leonhard im Passeiertal in Südtirol verbindet.

Oben am Brenner

Irgendwann sind wir oben am Brenner, nach rund sieben Stunden auf dem Rad. Mittagspause in einer Pizzeria. Una Pizza Salame Picante. Der Boden ist knusprig. Doch das Ganze liegt etwas schwer im Magen. Angesichts dessen, was uns erwartet. Die Verdauungszeit ist kurz. Einen Cappuccino und eine Abfahrt lang. An das, was uns bevorsteht, habe ich extrem schlechte Erinnerungen.

An jenen Anstieg, der in Sterzing beginnt. Einen Anstieg, an dessen Fuß ich bereits einmal keine Energiereserven mehr hatte, da ich zuvor viel zu schnell gefahren war: den Jaufenpass. Er ist ein Teil der Strecke des berühmten Ötztaler Radmarathons.

Heute habe ich noch genug Energie, um meine Umgebung wahrzunehmen. Heute bedeutet nicht jede Pedalumdrehung Schmerz. Heute ist alles anders. Vor allem: das Wetter. Damals waren die Bedingungen ganz andere: Regen, Kälte, teils Schnee. Heute tropfen Schweißperlen von meiner Nase auf den schwarzen heißen Asphalt.

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Pizza Salame Picante – Pause nach sieben Stunden auf dem Rad

Serpentinen

Hier, am Jaufenpass, muss man sich seine Kraft gut einteilen. Dafür sprechen schon seine Daten: 15 Kilometer, 1150 Höhenmeter. Meine Beine fühlen sich noch erstaunlich gut an. Ab dem ersten Meter fährt jeder sein Tempo. Der Anstieg beginnt erst angenehm – und wird sehr bald steil, mit zehn, elf, zwölf Prozent Steigung geht es bergan.

Die Sonne brennt auf uns herab. Kein Schatten, nirgends. Der Jaufen ist auch psychisch anspruchsvoll. Denn: Nachdem man, gefühlt, bereits ewig unterwegs ist, biegt man um eine Kurve – und sieht, was einem noch bevorsteht. Die Straße. Den nächsten Punkt. Noch etliche Kilometer und hunderte Höhenmeter entfernt.

Am Straßenrand stehen unser Begleitauto und, darum verteilt, viele Fahrer aus der Gruppe, die vor uns gestartet ist. Sie suchen Schatten und Wasser, Cola, Zucker. Ich fahre weiter. Es läuft. Es fühlt sich gut an. So anders, so viel besser als bei meiner ersten Auffahrt auf diesen Pass. So viel besser als während des Ötztaler Radmarathons. Die Work-Ride-Sun-Life-Balance – heute stimmt sie. Ich fahre durch ein Waldstück. Die Sonne ist nicht zu sehen. Schatten. Kühle. Erlösung.

Doch dann: stehende Autos. Eine rote Ampel. Baustelle. Die Straße wird schmal und hört auf, eine Straße zu sein. Der Asphalt ist abgefräst. Zurück blieb eine extrem raue Oberfläche. Lehm, grober Schotter und dazwischen scharfkantige große Steine. Ich bin dankbar für meine 28 Millimeter breiten Reifen mit nur rund sechs Bar Luftdruck – und für meine Kompaktübersetzung. Ausgerechnet hier ist der Berg zwölf, 13 Prozent steil.

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Ende der Baustelle

Es geht kaum vorwärts. Es holpert. Ich komme mir unendlich langsam vor. Der Schotterabschnitt umfasst wohl weniger als einen Kilometer – mir kommt er vor wie drei. Das Ende der Baustelle, der Wiederbeginn des Asphalts sorgen für Gefühle des Glücks, der Erlösung. So einfach können die Bedürfnisse, Emotionen – so einfach kann das Leben – sein. In langgezogenen Serpentinen geht es bergauf – steil.

Der Ausblick nach unten: Man sieht kilometerweit. Eben jene Straße, die man sich hinaufgekämpft hat. Auf ihr sind einige farbige Punkte unterwegs. Rot, Flieder, Hellblau. Andere Fahrer. Mitstreiter. Mitleider. Miterleber. Teamkollegen. Heute, an diesem besonderen, an diesem längsten Tag des Sommers. Oben: ein braunes Passschild. Eine Holzhütte. Davor: Ein auf Biergarnituren aufgebautes Buffet: Schinken, Käse, Brötchen, Apfelstrudel, selbstgemachte Reiskuchen. Und daneben: eine Espressomaschine. Alles ist perfekt organisiert. Auch hier oben, 2094 Meter über dem Meer, ist es noch angenehm warm. 20 Grad.

Es dauert lange, bis die letzten Fahrer unserer Gruppe hier oben ankommen. Es dauert lange, bis ich satt bin. Der schwierige Teil des Tages ist überstanden. Der Rest der Strecke führt bergab oder durch flaches Terrain. Die Abfahrt ist schnell, kurvig, teils mit Spurrillen und Schlaglöchern – und dennoch überwiegt nur eines: Fahrspaß. Dann: Der erste und einzige Defekt eines Begleiters, den ich mitbekomme. Ein Platten. Die ganze Gruppe wartet. Gemeinsam geht es weiter.

Der Schlauchwechsel dauert keine vier Minuten. In der Einerreihe geht es immer weiter gen Süden, leicht bergab, bis nach Meran. Und von dort in Richtung Bozen. Auf die letzten sechs, sieben flachen Kilometer. Bis zu unserem Ziel: Burgstall.

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Eindrücke vom Selbstversuch: München – Meran an einem Tag

München – Meran: Momente und Erlebnisse

Ein Fahrer entschloss sich, am Brenner umzudrehen. Alle anderen erreichen das Ziel. Ihr persönliches Ziel. Ihre Eintages-Alpen-Überquerung. Ein gerissener Schaltzug wurde unterwegs in einer Werkstatt repariert. Das älteste Rad, das hier im Einsatz war, ist ein Eddy Merckx mit einem Stahlrahmen aus den 90er Jahren. Der „leichteste“ Gang: 39 Zähne vorne, 25 hinten.

Unsere GPS-Geräte piepsen. Links einbiegen. Ein Restaurant. Vor uns stehen Stühle und Tische in der Sonne. Darauf: ein großer Behälter voller Crushed-Eis. Darin: eiskaltes Bier. Wir sind am Ziel. Des Tages, der Tour – und unserer Wünsche. Alle klatschen sich ab. Alle stoßen an. Alle strahlen. In ihren salzverkrusteten und mehr oder weniger müffelnden Trikots. Welcher Moment könnte besser sein als dieser? An diesem Tag. Meinem längsten Tag auf dem Rennrad.

Eine Stunde später. Abendessen. Es wird spät. Für einige sehr spät. Der nächste Morgen, zehn Uhr. Ein Bus mit einem Anhänger steht bereit. Räder einladen. Abfahrt. Heimfahrt. Wieder zurück gen Norden. Über die Alpen. Zurück in den Alltag. Fahrzeit: vier Stunden. Etwas weniger als halb solange wie wir am Tag zuvor brauchten. Über einen Pass mehr und ohne PS. An einem der längsten – und schönsten – Tage des Sommers.

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