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Nove Colli: Reportage über den größten Radmarathon Italiens

9 Hügel

Nove Colli: Reportage über den größten Radmarathon Italiens

Nove Colli – vom Meer über neun Hügel der Emilia-Romagna führt der größte Radmarathon Italiens. 12.000 Starter, 50 Jahre Geschichte, eine Reportage.
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Barbotto. Ein Name, den ich nie mehr vergessen werde. Nicht, weil er lustig klingt, sondern, weil er für einen Berg steht. Und weil er mit einer Zahl verbunden ist: mit der 18. Diese Zahl steht gerade auf meinem Radcomputer. Dahinter ist ein Prozentzeichen. Die Straße vor mir wird immer steiler. Erst ging es mit sechs Prozent Steigung bergan, dann mit acht, dann mit zwölf. Sechs Kilometer lang. Jetzt, nach einer gefühlten Ewigkeit, bin ich fast oben. Am „Gipfel“, am höchsten Punkt des vierten Anstieges des Tages. Am Gipfel eines „Hügels“. Eines von neun. Diese „Hügel“ sind für mich – und die meisten der anderen rund 12.000 Rennradfahrer vor, neben und hinter mir – keine Hügel, sondern Berg-Pässe. Doch sie geben diesem wohl größten und berühmtesten Radmarathon im Mutterland aller Radmarathons seinen Namen: Granfondo Nove Colli – die neun Hügel.

Die Daten der Strecke: 205 Kilometer, 3840 Höhenmeter. Und für mich auch: 36/25. Meine Übersetzung ist mein Verhängnis: 36 Zähne auf dem kleinen Kettenblatt. 25 Zähne am größten Ritzel der Kassette. Ich fahre auf einem Leihrad, an dem eine Profi-Übersetzung montiert ist. Zu dicke Gänge für zu viele Höhenmeter.

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Nove Colli: Langdistanz und Höhenmeter

Höhenmeter, die ich unbedingt einmal erleben und erfahren wollte. Auf dieser Strecke, auf diesen Straßen. Denn diese Hügel sind Teil eines Mythos, des Mythos „Nove Colli“. Dieser Radmarathon ist einer der größten der Welt. Dies ist ein Tag, an dem ich diesen Mythos erleben kann. Diese Region, die Emilia-Romagna. Diese Radsport-Tradition und -Kultur. Heute ist der 19. Mai.

Der Tag von: Polenta, Pieve di Rivoschio, Ciola, Barbotto, Monte Tiffi, Perticara, Passo delle Siepi und Gorolo. Der Tag der neun Hügel. Der Tag, den man nie wieder vergisst. Der Hügel, gegen den ich kämpfe, ist sechs Kilometer lang: der Barbotto. 372 Höhenmeter stellt er mir und den tausenden anderen um mich herum in den Weg. Wenig, eigentlich. Doch der Barbotto ist der vierte Anstieg des Tages – und er wird immer steiler. Er ist die wichtigste, die Schlüsselstelle des ganzen Radmarathons. Des ganzen Tages.

Rund dreieinhalb Stunden, nachdem ich im berühmten Küsten-Urlaubsort Cesenatico gestartet bin, erreiche ich seinen Gipfel. Und ahne, wie lange und schmerzhaft dieser Tag auf dem Rennrad noch sein wird.

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Mit jedem Hügel müder

Zwar ist keiner der neun Anstiege länger als neun Kilometer. Doch mit jedem Hügel werde ich müder. Mehr als 200 Kilometer und 3800 Höhenmeter – im Mai. Wie kam ich nur auf diese bescheuerte Idee? Je schwerer mein Tritt und je niedriger meine Frequenz werden, desto mehr bereue ich, mich nicht besser vorbereitet zu haben. Dabei hatte dieser Tag so gut begonnen.

Um 4.30 Uhr morgens klingelt mein Wecker. Und ich frage mich zum ersten Mal: Warum? Nach einem Frühstück aus Haferflocken, Weißbrot mit Honig und einigen Espressi geht es schon besser. 45 Minuten später stehe ich an der Startlinie in Cesenatico. Zitternd, bei acht Grad Celsius. Es nieselt, an den vergangenen Tagen hat es heftig geregnet. Ich rechne mit einem langen, harten, kalten und nassen Tag. Und trotzdem freue ich mich. Endlich, Nove Colli.

Gleichmäßige Intensität

Vor dem Startschuss um sechs Uhr ertönte die italienische Nationalhymne. Viele singen mit – Fratelli d’Italia, wie vor einem Fußball-Länderspiel. Danach erleuchtet ein Feuerwerk das Morgengrauen in Grün, Weiß und Rot. Ich stehe nicht ganz vorne – nach dem Startschuss dauert es zwölf Minuten, bis ich die Startlinie passieren kann.

Die ersten Kilometer gelten als gefährlich, da viele Starter übermotiviert und nervös sind. Ich fahre vorsichtig – und komme immer wieder an gestürzten Fahrern vorbei. Je länger ich fahre, desto weniger bekomme ich mit, was um mich herum geschieht. Ich höre Fluche, Grüße, Rufe auf Italienisch, einer Sprache, die ich schon in der Schule gelernt habe, aber ich bin auf mich konzentriert.

Ich versuche, meinen eigenen Rhythmus zu finden. Ich strebe eine gleichmäßige Intensität an, was für ein so langes Rennen so wichtig wäre. Doch das Auf und Ab über neun Hügel zwingt mir den Nove-Colli-Rhythmus auf. Es ist nicht wie bei einem gleichmäßigen Walzer. Es ist ein lautes, heftiges, störendes Durcheinander, mal zu schnell, mal zu langsam.

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Regen, Nebel, Hügel

Ich bemerke, dass es regnet, immer wieder ein wenig. Nebel liegt über der Landschaft. Die Sichtweite: 50 Meter. Ich weiß, dass die Hügellandschaft der Romagna um mich herum wunderschön ist – doch ich kann sie nicht wahrnehmen. Der erste Anstieg: der Polenta. Während den acht Kilometern bergauf muss ich immer an Essen denken, da der Hügel wie das leckere italienische Maisgrieß-Gericht Polenta heißt.

Ich fühle mich gut. Noch. Denn durch die „dicke“ Übersetzung muss ich öfter und länger aus dem Sattel gehen und im Wiegetritt fahren, als ich es gewohnt bin – und als es mir guttut. Die nächsten Anstiege folgen: der Pieve di Rivoschio und der sechs Kilometer lange Ciola. Noch fahre ich im oberen Grundlagenbereich, mit Respekt vor der Gesamtdistanz. Ich esse, trinke und überhole. Noch.

3840 Höhenmeter, 18 Prozent Steigung

Nach 91 Kilometern beginnt der Anstieg zum Barbotto im Ort Mercato Saraceno. Ich fahre über den Fluss Savio, folge den Streckenschildern, biege ab – und stehe vor einer Wand. Nicht einmal die Hälfte der Strecke ist geschafft, weit weniger als die Hälfte der Höhenmeter. Doch gedanklich bin ich schon im Ziel. In meinem Kopf sehe ich Bilder einer kalten Coladose, eines Cappuccinos, eines riesigen Tellers Pasta, einer Dusche, eines Bettes. Es geht bergab. Ich lasse es einfach rollen, ohne zu pedalieren.

Rechts neben der Straße ist ein Schild, das zeigt: Hier teilt sich die Strecke. Hier hat man die Wahl – zwischen den 205 Kilometer langen Lang- und der 130 Kilometer langen Kurz-Strecke. Letztere Option würde bedeuten: Ich hätte es fast geschafft: Erst noch ein paar Kilometer leicht bergab, dann im Flachen zurück ans Meer. Mittags würde ich ins Ziel kommen, mir bliebe ein halber Tag zum Entspannen. Der Kampf in meinem Kopf dauert drei Sekunden. Dann verdränge ich diesen schönen Gedanken. Ich kam hierher, um neun Hügel zu fahren. Ich kam, um den Mythos Nove Colli zu erleben. Den ganzen Mythos.

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Die höheren Colli

Immer wieder erkenne ich zumindest die höheren „Colli“ um mich herum. Ansonsten fokussiere ich mich auf den grauen nassen Asphalt. Es regnet immer wieder. Acht Verpflegungsstationen gibt es auf der Strecke, an jeder davon wird man umsorgt: Die freiwilligen Helfer reichen mir Kekse und Kuchen. Sie füllen meine Trinkflasche auf, putzen meine Brille, schieben mich an, wenn ich nach dem Stopp wieder losfahre.

Doch sie sind auch – zu Recht – streng: Wer seinen Müll achtlos wegwirft und erwischt wird, wird für die kommende Ausgabe gesperrt. Auch beim Thema Doping greift man beim Granfondo Nove Colli inzwischen hart durch. Überführte Doper müssen eine Strafe von 25.000 Euro bezahlen. Das Geld kommt der Förderung des Jugendsports zugute.

Mein Radcomputer zeigt: 142 Kilometer. Ich bin am höchsten Punkt der Strecke, rund 800 Meter über dem Meer, am Gipfel des Monte Pugliano. Abfahrt. Dies ist der siebte von neun Hügeln. Auf knapp neun Kilometern habe ich 528 Höhenmeter überwunden. Sechs Stunden sind bereits vergangen. Die schnellsten Fahrer sind schon im Ziel. Ich falle aus meiner Gruppe heraus. Und bin allein. Umgeben von 12.000 anderen. Zwei Anstiege habe ich noch vor mir. Und zwei Stunden Fahrzeit. Wenn ich jetzt nicht mehr einbreche.

Gorolo: der letzte Hügel

Gorolo – ein schöner Name, ein Name wie Musik. Der Name des Finales. Dies ist der letzte der neun Hügel. Als ich oben bin, als ich die letzten Rampen mit 17 Prozent Steigung überwunden habe, erscheint mir alles so einfach. Ich weiß: Ab jetzt geht es nur noch bergab. Zwischen den grauen Wolken über mir brechen Sonnenstrahlen hervor.

Die letzten Kilometer vor dem Ziel sind flach. 34, 35, 36 km/h. Es läuft. Ich hole eine große Gruppe ein – und hänge mich in deren Windschatten. Plötzlich fährt mein Rad wie von allein. So fühlt es sich an. 40 km/h. Mühelos. Ich sehe, wie auf meinem Radcomputer die Kilometerzahl von 199 auf 200 springt. Und ich bereue: nichts.


Emilia-Romagna

Die Emilia-Romagna ist eine von 20 Regionen Italiens. Sie liegt in Norditalien und erstreckt sich mit der Romagna im Osten von der Adria mit der Emilia bis weit in den Westen des Landes und grenzt dort an Ligurien und an die Piemont-Region. Bologna ist die Hauptstadt der Region mit rund 4.456.000 Einwohnern. Die vor allem wegen des Strandtourismus bekanntesten Orte an der Adria sind Orte wie Cesenatico, Rimini, Riccione oder Cattolica.

In dieser Gegend liegt auch der Kleinststaat San Marino. Aus der Emilia-Romagna stammen die bekannten Automobilmarken Maserati, Ferrari, Lamborghini und kulinarische Spezialitäten wie der Parmaschinken, der Parmesan-Käse oder der Balsamico aus Modena. Die Landschaft im Landesinneren ist geprägt von den Hügeln des Apennin-Gebirgszuges.

Einer der berühmtesten Sportler der Region ist der erfolgreiche, aber auch in Zusammenhang mit Dopingermittlungen stehende und unter tragischen Umständen im Jahr 2004 verstorbene Radprofi Marco Pantani. Er wurde in Cesena geboren und wird in Italien von vielen Radsportfans weiterhin verehrt. Von München aus ist die rund 650 Kilometer entfernte Region in etwa sieben Fahrstunden mit dem Auto zu erreichen. Zur Anreise mit dem Flugzeug bieten sich etwa die Flughäfen von Bologna oder Florenz an.

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