Triumphe & Skandale
Olympische Spiele: Rückblick auf die Radsport-Historie bei Olympia
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Vier Kilometer in drei Minuten und 42 Sekunden – mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 64,8 km/h: Das ist der aktuelle Weltrekord im „Vierer“. Die Mannschaftsverfolgung auf der Bahn galt lange als „Königsdisziplin“ des Radsports. Der Ablauf: Vier Fahrer reihen sich auf, finden sich nach dem Start, bilden eine Formation, lösen sich ab im Kampf gegen den Windwiderstand. Es geht dabei um Taktik, Pacing, Teamwork und extrem hohe Watt-Werte.
Der „deutsche Vierer“ galt bei den großen Rad-Events – der WM und den Olympischen Spielen – jahrzehntelang als das „Flaggschiff“. Dies änderte sich erst ab den frühen 2000er-Jahren – davor waren Medaillen fast garantiert. Angesichts der bevorstehenden Olympischen Sommerspiele von Paris blicken wir von RennRad einmal zurück auf die Geschichte dieser besonderen Rad-Disziplin.
Olympische Spiele 1964 in Tokio
Bis zu den Olympischen Spielen von Tokio im Jahr 1964 standen gerade einmal zwei olympische Goldmedaillen in der deutschen Olympia-Erfolgs-Bilanz. 1936 hatten Toni Merkens im Sprint und Ernst Ihbe und Carly Lorenz im Tandem Gold gewonnen. 28 Jahre lang sollte kein weiteres Edelmetall hinzukommen.
Erst wieder 1964 galt der bundesdeutsche Vierer als ein Sieg-Favorit auf der Olympiabahn von Hachioji. Die BRD-Fahrer hatten sich in einem Auswahlverfahren gegen die Verfolger der DDR durchgesetzt: Damals mussten beide deutsche Staaten in einer Ost-West-Ausscheidung um den Startplatz fahren, denn nur eine deutsche Mannschaft war bei den Spielen zugelassen. Karl Link, der einzige heute noch lebende Olympiasieger aus dem Tokio-Vierer, erinnert sich: „Die Spiele selbst waren für uns gar nicht mehr so strapaziös, viel schlimmer war es zuvor bei den Ost-West-Ausscheidungen. Die erste haben wir gewonnen, die zweite verloren. Dann wurden wir in Paris Weltmeister, was aber immer noch nicht reichte. Es ging danach noch ein paarmal hin und her, aber schließlich haben wir uns durchgesetzt.“
Für Karl Link und seine Teamkollegen Lothar Claesges, Karl-Heinz Henrichs und Ernst Streng, damals alle 22 Jahre alt, begann das Abenteuer Olympia bereits auf dem Frankfurter Flughafen. „Der Flug nach Tokio war mein erster überhaupt“, erinnert sich Link. In der Lufthansa-Maschine wurden sie von einer Nichte Toni Merkens begrüßt, dem ersten deutschen Bahnrad-Olympiasieger. Sie war als Stewardess bei der Fluggesellschaft angestellt. Jedoch schon vor den Spielen kam es zu etlichen Problemen: Lothar Claesges zog sich einen Hexenschuss zu, Ernst Streng litt unter Erkältungssymptomen und Karl Link unter einer Magenverstimmung.
Als die vier das erste Mal die offene Bahn von Tokio testeten, wurde die Stimmung nicht besser. „Die Bahn war holprig und vor allem in den Kurven musste man höllisch aufpassen. Man fuhr an manchen Stellen wie auf Kopfsteinpflaster, dazu kamen die steilen Kurven. Das war echt kein Vergnügen.“
Goldmedaille und Disqualifikation
Im ersten Duell gegen England klappte dann nicht viel, und auch der italienische Vierer fuhr eine bessere Zeit als die Deutschen, die bei starkem Wind eine 4:42,28 hinlegten und damit drei Sekunden langsamer waren. Gegen Dänemark aber drehte der Vierer dann auf – und setzte mit 4:36,98 Minuten eine Marke, die von keinem anderen Team bis ins Finale unterboten wurde. Im Halbfinale traf Deutschland auf Australien und gewann.
Man zog ins Finale gegen Italien ein. In diesem lagen zunächst die Italiener vorn. Erst einige Hundert Meter vor dem Ziel holten die Deutschen auf. Am Ende entschieden sieben hundertstel Sekunden über Olympia-Gold. Mit ihrer Zeit von 4:35,67 Minuten machten sich die deutschen Fahrer zu Olympia-Siegern.
Henrichs und Link traten auch vier Jahre später unter dem Bundestrainer Gustav Kilian bei den Spielen von Mexiko City an. Zusammen mit Udo Hempel und Jürgen Kißner erreichten sie das Finale gegen Dänemark, wurden aber anschließend wegen eines Regelverstoßes disqualifiziert. Zu diesem Skandal findet man noch heute online Artikel mit vielsagenden Überschriften wie: „Der größte Betrug aller Zeiten – Wie der Bahnvierer bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko Gold verlor.“ Henrichs sollte eigentlich in der vorletzten Runde die Führung abgeben, fuhr aber weiter an der Spitze und scherte dann entkräftet aus. Als er fast mit Jürgen Kißner auf einer Höhe war, hielt der Kölner reflexartig die rechte Hand raus, weil er dachte, Henrichs fahre in ihn rein. Die kurze Berührung führte dazu, dass der Vierer disqualifiziert wurde. Die Italiener, die anstelle der deutschen Mannschaft die Silbermedaillen erhalten sollten, weigerten sich zunächst, das Podest zu betreten. Erst 1969 beschloss die IOC-Exekutive, dem BDR-Vierer trotz der Disqualifikation die Silbermedaillen auszuhändigen.
Jürgen Kißner stammte ursprünglich aus der DDR, er hatte sich vier Jahre zuvor in Köln von seiner Mannschaft abgesetzt und war in Westdeutschland geblieben. Da einer der Schiedsrichter bei den Olympischen Spielen, Jürgen Gallinge, aus der DDR stammte, vermuteten die bundesdeutschen Medien, dieser habe Kißners Verhalten „aus Rache für Köln“ sanktioniert. Der Bundestrainer Gustav Kilian bezeichnete den DDR-Wettkampfrichter Gallinge bis an das Ende seines Lebens als „Golddieb“.
Mannschaftsgold gab es dann erst wieder 1972 bei den Olympischen Sommerspielen in München. Udo Hempel, Günther Schumacher, Jürgen Colombo und Günter Haritz setzten sich im deutsch-deutschen Duell gegen den Vierer der DDR durch. Vier Jahre später, in Montreal, gab es sogar zwei Goldmedaillen in den Bahnradsport-Disziplinen zu feiern: Hans Lutz, Günther Schumacher, Peter Vonhof und Gregor Braun fuhren in Kanada zum Sieg, Braun gewann zudem Gold in der Einerverfolgung.
Boykott und Gegenwind
Nach dem Boykott der Spiele von Moskau 1980, wo der DDR-Vierer in der Besetzung Gerald Mortag, Uwe Unterwalder, Matthias Wiegand und Volker Winkler Silber gewann, galt es, für Los Angeles wieder eine erfolgreiches Team zu formen. Der „Goldschmied der Nation“, wie der Bundestrainer Gustav Kilian wegen der großen Erfolge des Vierers genannt wurde, hatte sich längst in den Ruhestand zurückgezogen.
Nun war es an Udo Hempel, dem Olympiasieger von München, ein neues „Gold-Team“ aufzubauen. Dies gelang dem Düsseldorfer: Bereits zwei Jahre vor den Spielen von Los Angeles überraschte der „Baby-Vierer“, wie er damals genannt wurde, mit der Silbermedaille bei den Weltmeisterschaften in Leicester.
Olympische Spiele 1984 in Los Angeles
Ein Jahr später, 1983, wurden Rolf Gölz, Roland Günther, Gerhard Strittmatter und Michael Marx in Zürich Weltmeister und gewannen bei den Olympischen Spielen 1984 schließlich die Bronzemedaille. Statt Strittmatter fuhr in L.A. Reinhard Alber. Damals aber wurde der dritte Platz als Niederlage gewertet, denn immerhin ging das Quartett als amtierende Weltmeister an den Start. Rolf Gölz gewann dann zwei Tage später noch die Silbermedaille in der Einerverfolgung – Uwe Messerschmidt holte Silber im Punktefahren.
Weder die Einerverfolgung noch das Punktefahren gehören heute noch zum Olympischen Programm und auch nicht das 1000-Meter-Zeitfahren, jene Disziplin, in der deutsche Fahrer einst sehr erfolgreich waren.
Auch 1984: Freddy Schmidtke, ein 23-jähriger Obergefreiter aus Worringen bei Köln, fuhr in Los Angeles im 1000-Meter-Zeitfahren das Rennen seines Lebens. Er war mit 1:06,104 Minuten drei Zehntel schneller als der Kanadier Curtis Harnett und gewann die Goldmedaille. Dabei hatte er als letzter Starter am meisten mit dem heftigen Wind zu kämpfen: „Ich war in den ersten drei Runden zu schnell. Wenn man dreimal voll gegen den Wind fahren muss, wird der Kilometer ziemlich schwer“, erzählte er nach dem Rennen. Mit 48 x 14 Zähnen fuhr der Olympiasieger eine so „kleine“ Übersetzung wie selten zuvor.
Begonnen hatten die Spiele von L.A. mit einer einzigartigen Eröffnungsfeier. Hollywoods Starregisseure verwandelten das Coliseum vor 92.000 Zuschauern auf den Tribünen und mehr als zwei Milliarden zu Hause vor den Bildschirmen in eine „Zauberbühne“. So etwas hatte es zuvor noch nicht gegeben.
Auch sportlich hatten diese Spiele viel zu bieten. Erinnert sei an Carl Lewis, den König der Leichtathleten, der Gold über 100, 200, 4 x 100 Meter und im Weitsprung gewann. Ähnliches hatte vor ihm nur Jesse Owens 1936 in Berlin geschafft.
Kleine Sensation bei den Frauen
Am ersten Wettkampftag sorgte die junge Deutsche Sandra Schumacher nicht nur für die erste deutsche Medaille überhaupt. Auch ihr dritter Platz im Straßenrennen der Frauen, die zum ersten Mal bei Olympischen Spielen in einem Straßen-Wettbewerb antraten, war eine kleine Sensation. Gerade erst 17 Jahre jung gehörte sie zu einer sechsköpfigen Spitzengruppe, die in Mission Viejo, rund 80 Meilen von Los Angeles entfernt, um den Sieg sprintete.
Aber gegen das US-Doppel Connie Carpenter und Rebecca Twigg, die für den Gastgeber USA Gold und Silber gewannen, konnte sie am Ende wenig ausrichten. Platz drei war jedoch ein Top-Resultat für die junge Deutsche. Im Ziel erlitt sie fast einen Kreislaufkollaps, weil sie mehr als eine halbe Stunde in der brütenden Hitze auf die Siegerehrung warten musste. „Es war schrecklich“, sagte sie später über den Moment ihres größten Triumphes, den sie nicht wirklich genießen konnte.
Desaströses Abschneiden der Männer
Während die deutschen Frauen bei ihrer Olympiapremiere ein gutes Bild boten, war das Abschneiden der Männer fast schon ein Desaster. Sie hatten zuvor bei der Rheinland-Pfalz-Rundfahrt brilliert, die damals fast so etwas wie die Tour de France der Amateure war. Profi-Athleten waren bei Olympischen Spielen damals nicht zugelassen. Beim Überraschungssieg des US-Amerikaners Alexi Grewal belegte Thomas Freienstein als bester Deutscher dann jedoch „nur“ den 22. Platz.
Der Straßenvierer in der Besetzung Thomas Freienstein, Hartmut Bölts, Bernd Gröne und Michael Maue fuhr dann im 100-Kilometer-Zeitfahren mit fast zehn Minuten Rückstand auf die siegreichen Italiener nur auf Rang zwölf. Der damalige Vizepräsident Hans Schwelm wetterte: „Das war keine Mannschaftsleistung, keine Moral. Das kommt einer Bankrotterklärung gleich.“ Ende des Jahres trennte sich der BDR schließlich von dem damaligen Bundestrainer Klaus-Peter Thaler.
Verfolger und Sprinter
Der Überraschungs-Olympiasieger des Männerrennens, Alexi Grewal, war eigentlich als Helfer eingeteilt, um den US-Topfahrer David Phinney zu unterstützen, dessen Frau Connie Carpenter am Morgen Olympiasiegerin geworden war. Jahre später wurde ihr gemeinsamer Sohn Taylor Phinney ein erfolgreicher Profi: Er war unter anderem Vize-Weltmeister im Einzelzeitfahren und Giro-Etappensieger.
Weil David Phinney im Olympischen Straßenrennen patzte, war der Weg frei für Grewal, der sich selbst hinterher als „Verlegenheitssieger“ betitelte. Grewal konnte später nie wirklich an diesen Erfolg anknüpfen, sondern schrieb als Radprofi unrühmliche Schlagzeilen. Schon vor den Spielen war er negativ aufgefallen: Da in seinem Urin die Substanz Phenethylamin nachgewiesen wurde, war er für 30 Tage suspendiert worden. Grewal begründete die Einnahme damals damit, dass es zu einem „Versehen“ bei der Auswahl von Medikamenten gekommen sei. Und so wurde die Doping-Sperre wenige Tage vor den Spielen wieder aufgehoben.
2008 gestand er gebenüber dem Radsportmedium VeloNews wiederholtes wissentliches Doping mit Aufputschmitteln wie Ephedrin. Daraufhin wurde er 2016 wieder aus der Hall of Fame ausgeschlossen.
Olympische Spiele 2004 in Athen
Bei den Olympischen Sommerspielen von Athen 2004 erfüllten dann vor allem die Bahn-Sprinter die Erwartungen der deutschen Fans: Jens Fiedler, René Wolff und Stefan Nimke fuhren in jenem Jahr zur Goldmedaille im Teamsprint. Für den Chemnitzer Jens Fiedler war es das dritte Olympische Gold nach seinen beiden Siegen im Sprint von Barcelona 1992 und Atlanta 1996. Das Trio harmonierte, obwohl Stefan Nimke sehr kurzfristig zum Einsatz kam.
Auch René Wolff kehrte mit zwei Medaillen heim: Er gewann zusätzlich noch Bronze im Sprint. Der deutsche Verfolgungs-Vierer – in Sydney noch Olympiasieger – ging dagegen leer aus und belegte am Ende im kleinen Finale „nur“ den vierten Rang hinter den Spaniern.
Jan Ullrich und „Skandal-Olympia“
Der Tour-de-France-Sieger von 1997, Jan Ullrich, 2000 in Sydney Olympiasieger, verpasste im Straßenrennen am steilen Athener Hausberg Lykavittos den Anschluss, als der Italiener Paolo Bettini erfolgreich attackierte. Am Ende fuhr Ullrich auf den 19. Platz. „Die vielen Ecken waren nicht gut für mich. Das war nicht mein Kurs“, sagte er im Ziel. Kritik an ihm wurde schon vor dem Rennen laut, da er sich angeblich nicht optimal auf die Spiele vorbereitet hatte. Im Einzelzeitfahren belegte er „nur“ Rang sieben, nach Silber in Sydney vier Jahre zuvor.
Drei Plätze besser war noch Michael Rich aus Reute: Er wurde Vierter. Als die „Bild“-Zeitung Ullrich einen Tag nach dem Straßenrennen mit einem vollen Weizenbierglas in der Hand zeigte und das Ganze mit „Skandal-Olympia“ betitelte, war die Häme in Deutschland groß.
Judith Arndt sorgt für Eklat
Ein „gefundenes Fressen“ für die Medien war dann auch die Zieldurchfahrt von Judith Arndt, die als Zweite des Frauen-Straßenrennens über die Linie rollte – und zwar mit einem ausgestreckten Mittelfinger. Es war das Bild einer Athletin, die den Moment ihres größten Triumphes dazu nutzte, vor einem Millionenpublikum ihr Missfallen über die Nominierungspolitik des Verbandes auszudrücken. „Hätte der BDR anders nominiert, wäre es gar nicht erst zu dieser Situation gekommen“, versuchte Arndt, die Situation zu entschärfen.
Der Bund Deutscher Radfahrer hatte bei der Nominierung Angela Brodtka den Vorzug gegeben und die amtierende Deutsche Meisterin und weitaus erfahrenere Petra Roßner – zum damaligen Zeitpunkt Arndts Lebensgefährtin – zu Hause gelassen. „Wäre Petra im Feld gewesen, hätte ich an der Spitze ganz anders agieren können, denn sie gehört zu den schnellsten Sprinterinnen der Welt. So aber musste ich die Führungsarbeit allein leisten“, sagte Arndt nach dem Rennen. Die UCI ahndete ihr Fehlverhalten später mit einer Geldstrafe von 200 Euro.
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