Remco Evenepoel, Radsport, Portrait, Weltmeister, Vuelta-Sieger
Remco Evenepoel: Weltmeister und Grand-Tour-Sieger im Portrait

Die Krönung

Remco Evenepoel: Weltmeister und Grand-Tour-Sieger im Portrait

Remco Evenepoel ist der neue Weltmeister – und der erste Grand-Tour-Sieger aus Belgien seit 44 Jahren. Sein Alter: 22. Einblicke.
TEILE DIESEN ARTIKEL

Kurz hinter der Ziellinie bricht es aus ihm heraus: Remco Evenepoel weint. Er verbirgt sein Gesicht in den Händen. Er ist am Ziel. In seiner vierten Saison als Radprofi – mit 22 Jahren. Dies war die letzte Etappe seiner zweiten Grand Tour. Dies ist: sein erster Gesamtsieg bei einer der großen Landesrundfahrten. Der Belgier ist der mit Abstand stärkste Fahrer dieser Vuelta, dieser ungewöhnlichen Rundfahrt. Sie ist geprägt von Ausfällen, Stürzen – und von einem Generationenwechsel. Der 22-jährige Evenepoel gewinnt vor Enric Mas, 27, und Juan Ayuso. Der Spanier ist zum Ende der Spanien-Rundfahrt noch 19 Jahre alt. Auch er steht für die neue, extrem starke und früh erfolgreiche Generation.

Die Generation um Remco Evenepoel, Tadej Pogačar, Egan Bernal, Ethan Hayter, Biniam Girmay, Juan Ayuso und viele andere. Bei der Vuelta zeigte Evenepoel nach seinen Siegen bei kleineren Rundfahrten und Klassikern wie Lüttich-Bastogne-Lüttich, dass er auch bei den Grand Tours die Besten schlagen kann.

Eintagesrennen und Rundfahrten

Remco Evenepoel ist eines der größten Talente des Radsports: Schon in der U19-Klasse bekam er von den Belgiern den Spitznamen „Kannibale von Schepdaal“ in Anlehnung an den wohl größten Radsportler aller Zeiten, Eddy Merckx, verpasst. Dabei begann seine Radsportkarriere spät. Zuvor war er belgischer Jugend-Fußball-Nationalspieler. Er spielte unter anderem für die Top-Klubs RSC Anderlecht und PSV Eindhoven.

2017 wechselte er zum Radsport – und war sofort extrem erfolgreich. Die Bilanz: 34 Siege in 44 Rennen in eineinhalb Jahren bei den Junioren. 2018 gewann er bei den Europameisterschaften in Tschechien – neben dem Zeitfahren – das U19-Straßenrennen mit einem Vorsprung von 9:44 Minuten auf den Zweitplatzierten. Diesen Doppelsieg wiederholte er bei der WM in Innsbruck.

Evenepoel zählt zu den wenigen Rennfahrern, die die U23-Klasse überspringen und direkt in die WorldTour wechseln – und direkt erfolgreich sind. Seit 2019 steht er beim Team Quick-Step unter Vertrag. Im ersten Profijahr, mit 19 Jahren, gewann er die Belgien-Rundfahrt, das EM-Zeitfahren und die Clásica San Sebastián.

Die Saison 2020 verlief noch erfolgreicher. Er gewann jede Rundfahrt, bei der er an den Start ging, sowohl vor als auch nach der coronabedingten Wettkampfpause: die Vuelta San Juan in Argentinien, die Algarve-Rundfahrt, die Burgos-Rundfahrt und die Polen-Rundfahrt.

Test Spezial 2023, Banner, Test, Kaufberatung

Hier können Sie das Test Spezial 2023 des RennRad-Magazins als E-Paper bestellen

Zäsur

Mit 20 Jahren ging er als einer der Top-Favoriten in sein erstes großes Klassiker-Rennen – die Lombardei-Rundfahrt. Dieses Rennen wird zur Zäsur in seiner Karriere. Evenepoel will in einer Abfahrt den Kontakt zur Spitze wiederherstellen. Er verschätzt sich in einer Kurve, prallt gegen eine Brückenmauer und fällt eine Böschung hinab. Die Diagnose: eine gebrochene Hüfte – eine monatelange Pause folgte.

2021 bestreitet er seine erste Grand Tour. Er liegt beim Giro d’Italia in der ersten Rennhälfte auf dem zweiten Platz. Während der Etappe nach Montalcino über die weißen Schotterstraßen der Toskana verliert er erstmals Zeit. In der dritten Woche bricht er am Passo Giau ein: Er erreicht das Ziel in Cortina d’Ampezzo 24 Minuten nach dem Etappen- und späteren Gesamtsieger Egan Bernal. Am folgenden Tag stürzt er in einer Abfahrt schwer und muss das Rennen aufgeben.

Attacken und Ausreißer

Diese Erfahrung war der Beginn eines weiteren Lernprozesses. Die großen Siege blieben 2021 zunächst aus. Er stellt sein Training um, verbessert seine Technik, baut mehr Krafttraining ein. Und wird stärker. Bei der Vuelta 2022 soll er am Start 64 Kilogramm gewogen haben. Beim Giro im Vorjahr waren es nur 60 – bei einer Körpergröße von 1,71 Metern.

Er dominiert weiterhin kleinere Rundfahrten: Er gewinnt die Algarve- und die Norwegen-Rundfahrt. Und: Er gewinnt zwei Eintagesrennen in seiner typischen dominanten Fahrweise – als Solist. Bei Lüttich-Bastogne-Lüttich attackiert er 14,5 Kilometer vor dem Ziel – und niemand kann ihm folgen. Auch bei der Clásica San Sebastián schlägt er an den Anstiegen ein so hohes Tempo an, dass auch die restliche Welt-Elite nicht folgen kann. In San Sebastián hat er am Ende zwei Minuten Vorsprung auf den Zweitplatzierten Pavel Sivakov. Nach 44,5 Kilometern ist er allein an der Spitze.

In die Vuelta startet er als Mitfavorit. Den Auftakt dominieren der dreifache Sieger Primož Roglič und sein niederländisches Team Jumbo-Visma. Sie gewinnen überlegen das Mannschaftszeitfahren in Utrecht – Roglič selbst holt sich das Rote Trikot mit einem folgenden Etappensieg.

Verdienter Vuelta-Sieg

Doch die sechste Etappe bringt die Wende: Evenepoel attackiert im Finale, wird Etappenzweiter – und übernimmt die Führung im Gesamtklassement. „Das war das beste Rennen, das ich je gefahren bin“, sagt er im Ziel. Mit einem deutlichen Sieg im Einzelzeitfahren festigt er seine Position. In der zweiten Rennhälfte muss er das Trikot des Gesamtführenden gegen die Angriffe von Primož Roglič, Enric Mas, Juan Ayuso und Carlos Rodríguez verteidigen.

Die Tagessiege werden meist aus Fluchtgruppen heraus entschieden: Dreimal gewinnt allein Richard Carapaz. Vor den schweren Schlussetappen liegt Evenepoel rund 1:30 Minuten vor Roglič und zwei Minuten vor Mas. Der Slowene attackiert im Finale der 16. Etappe. Kurz darauf hat Evenepoel einen Defekt. Die letzten drei Kilometer sind die chaotischsten und spannendsten dieser Rundfahrt. Roglič kämpft um jede Sekunde. Doch: Wenige Meter vor der Ziellinie stürzt er. Zur nächsten Etappe tritt er nicht mehr an. Die Gesamtwertung ist entschieden. Evenepoel ist unantastbar. Nach seinem Sieg bei der 18. Etappe konstatiert er: „Es ist unglaublich. Ich weiß gerade nicht, was im Moment durch meinen Körper und meinen Kopf geht. Es ist schon ein unglaubliches Jahr, und ich freue mich, der erste Fahrer zu sein, der für Patrick Lefevere eine Grand Tour gewinnt.“ Evenepoel gewinnt diese Vuelta verdient. Er war über drei Wochen der stärkste Fahrer.

Remco Evenepoel, Weltmeister

Remco Evenepoel ist Weltmeister 2022

Remco Evenepoel wird Weltmeister

Nach dieser Leistung ging er als einer der Top-Favoriten in das WM-Rennen von Wollongong, Australien. Die Streckendaten: 266 Kilometer, 4200 Höhenmeter. Der Dominator: Remco Evenepoel. 35 Kilometer vor dem Ziel attackiert er – und nur der Kasache Alexey Lutsenko kann ihm folgen. Zehn Kilometer später fährt Evenepoel bei der vorletzten Überquerung des steilen Mount Pleasant so schnell, dass Lutsenko abreißen lassen muss.

Der Belgier erreicht am Ende das Ziel mit 2:21 Minuten Vorsprung. Als neuer Weltmeister. Als legitimer Erbe seines Landsmanns Eddie Merckx, des „Kannibalen“. Mikel Landas Prophezeiung aus dem Jahr 2020 könnte sich erfüllen. Sie lautete: „Wir müssen jetzt noch so viel wie möglich gewinnen, bevor Evenepoel zu erfahren wird. Denn in zwei bis drei Jahren wird es unmöglich sein, ihn zu besiegen. Es ist echt beeindruckend. Er kann auf jedem Terrain gewinnen.“

Dieser Artikel erschien in der RennRad 11-12/2022Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

Schlagworte
envelope facebook social link instagram