Sportsucht, Wissen ist Macht, Studie, Wissenschaft, Training
Sportsucht: Suchtverhalten bei intensivem Ausdauersport

Sport & Sucht

Sportsucht: Suchtverhalten bei intensivem Ausdauersport

Training, Umfänge, Intensität, Glücksgefühle – und Suchtverhalten? Gibt es beim Sport ein „Zuviel“? Einblicke ins Thema Sportsucht.
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„Ich muss heute auf mein Rennrad – sonst fühle ich mich schlecht, unzufrieden, unausgeglichen.“ Dieser Gedanke, dieses Gefühl kennen wohl viele. Sport hat etliche positive Effekte – auf den Körper und die Psyche. Genetisch gesehen ist der Mensch ein Ausdauerjäger. Sich nicht zu bewegen widerspricht der eigenen Natur. Doch: Gibt es ein „zu viel des Guten“? Wie viel Training ist noch gesund? Wann ist man sportsüchtig – und was sind die Effekte dieser Sportsucht?

Was ist ein „normales“ Maß an Sport? Es kommt auf die Perspektive an, und auf die individuelle Trainings- und Bewegungserfahrung. So ist es für Ausdauer-Profiathleten völlig „normaler“ Alltag täglich vier, fünf, sechs, sieben Stunden lang zu trainieren. Fakt ist: Sportsucht ist kein Massenphänomen.

Studie zur Sportsucht

Breuer und Kleinert gingen 2009 von einer Zahl von 1000 Betroffenen in Deutschland aus. Psychologen gehen heute davon aus, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung „übermäßig“ Sport treibt. Zu einem anderen Ergebnis kamen Forscher der Universität Erlangen 2012. Für ihre Studie werteten sie die Aussagen von 1026 Ausdauer-Sportlern aus. Das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 41,12 Jahren, der mittlere Trainingsumfang bei 4,47 Einheiten pro Woche. Die Ergebnisse: 4,5 Prozent der Befragten wurden als sportsuchtgefährdet eingestuft. 83 Prozent wiesen ein oder mehrere Symptome einer Sportsucht auf. Bei 12,4 Prozent der Beteiligten war die Gefahr einer Sportsucht vollständig auszuschließen.

Besonders gefährdet: jüngere Athleten, Triathleten – und Sportler, die bereits jahrelang trainieren. In der Studie wurde zudem ein tendenzieller Zusammenhang zwischen einer Sportsucht-Gefährdung und bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen festgestellt. Etwa: ein negatives Selbstwertgefühl, Zwanghaftigkeit, den Hang zum Perfektionismus.

Sport als Droge?

Die Autoren der Erlanger Studie differenzierten erstmals zwischen einer ausgebildeten Sportsucht und der Gefährdung. Sportsüchtige ignorieren demnach Signale ihres Körpers – etwa Schmerz.  „Diese Menschen müssen zwingend therapiert werden“, sagt Heiko Ziemainz, einer der Studienautoren.

Ein weiteres Signal betrifft den Alltag der Athleten, genauer: ihr Sozialleben. „Sie tolerieren etwa, dass ihre Ehe in die Brüche geht oder dass sie ihr soziales Umfeld nicht mehr wahrnehmen, weil sie immer mehr Sport brauchen. Das Verhalten kontrolliert die Person, nicht umgekehrt.“

Von Sportsucht betroffene Athleten haben ein ständiges Verlangen nach Sport und können das eigene Verhalten kaum mehr kontrollieren. Es geht, gefühlt, nicht mehr ohne Training. Das Hobby wird zum Zwang. Die Sport-Zeit hat Vorrang vor allem anderen – auch wenn das familiäre und soziale Leben, sowie im Extremfall die eigene Gesundheit, darunter leidet. Sportsüchtige sind zudem meist nicht positiv, sondern negativ motiviert. Es geht ihnen darum, „Entzugserscheinungen“ wie Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, Nervosität oder depressive Verstimmungen zu reduzieren.

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Sport-Leidenschaft ist nicht unbedingt Sportsucht

Eine starke Leidenschaft für den Sport bedeutet natürlich – längst – nicht, dass man sportsüchtig ist. Wo liegt die Grenze zwischen Leidenschaft und Sucht? Die Sportsucht weist Ähnlichkeiten zu jener nach einer Droge auf.

Lange gingen Sportwissenschaftler und Psychologen davon aus, dass ein Hauptgrund der Sportsucht im menschlichen Gehirn zu finden ist: Glückshormone. Diese könnten potenziell abhängig machende neuro-physiologische Prozesse auslösen. Ein einst vielzitiertes Beispiel lautet: „Runners High“. Dieses wurde ursprünglich bei gut trainierten Langstrecken-Läufern festgestellt. Während des Trainings kam es bei ihnen zu einer vermehrten Ausschüttung körpereigener Endorphine. Endorphine wirken im Gehirn wie Opiate, da die Glückshormone an den gleichen Rezeptoren in unserem Körper andocken. Sportler im Glückshormon-Rausch? So lautete einer der Erklärungsansätze für die Entwicklung einer Sportsucht.

Bisherige Ergebnisse aus physiologischen Studien dazu sind jedoch widersprüchlich. In zwei Untersuchungen ließen sich mittels funktioneller MRT-Scans Aktivitäten in Belohnungsarealen des Gehirns nachweisen, wenn man den Probanden bewegungsbezogene Stimuli zeigte. Doch in Folgestudien konnte dieser Befund nicht bestätigt werden. Zudem wurde in keiner Studie eine Aktivierung im Nucleus Accumbens nachgewiesen – jener Gehirnstruktur, die eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung von Suchtverhalten spielt.

Sportsucht: Das Streben nach Glück

Fakt ist: Sport kann – durch biochemische Prozesse – einen belohnenden Effekt haben. Der Psychiater William Glasser verwendete in den 1970er Jahren entsprechend unkritisch den Begriff der positiven Abhängigkeit. In der Abgrenzung zu einer „negativen Abhängigkeit“ durch Drogen.

Seine Hypothese: Die Abhängigkeit vom Sport-Treiben erzeuge eine positive Wirk-Spirale aus dem Wunsch zu regelmäßiger Bewegung und der Entwicklung von mentaler Stärke. Dabei wurden jedoch einige potenzielle Effekte ausgeblendet. Etwa: Den Gewöhnungseffekt – und damit das Bedürfnis, den Trainingsumfang immer weiter zu steigern. Um den gleichen „Befriedigungs-Effekt“ zu erzielen beziehungsweise zu fühlen.

Was verleitet einen Menschen dazu, seinen Trainingsumfang immer weiter zu steigern – und wann wird dieses Verhalten „krankhaft“? „Wenn das Verhalten die Person bestimmt und nicht mehr die Person das Verhalten“, sagt Professor Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln in einem Deutschlandfunk-Interview. „Wenn die Pflicht, Sport treiben zu müssen, dazu führt, dass ich alle anderen Dinge vernachlässige: Meine Familie, meine Freunde – wenn ich mein Leben letztendlich nur danach ausrichte, dass Sport getrieben werden kann, dann ist es Sportsucht.“

Zu den potenziellen, unbewussten, Motiven zählen etwa: Das Regulieren von negativen Gefühlen, Frustrationen, Unsicherheit. Dieser psychologische Prozess kann eine Ursache einer Sportsucht sein. Denn durch die langen und häufigen Trainingseinheiten können zeitweise unangenehme Emotionen unterbunden – und eine Auseinandersetzung mit den dahinterliegenden Problemen – vermieden werden. Das Training ist dann ein Mittel, um diese negativen Gefühle zu betäuben. Oder sie in einer dysfunktionalen Form zu „kontrollieren“. Das Sucht-Verhalten wird somit immer weiter negativ verstärkt.

Sportsucht, Wissen ist Macht, Studie, Wissenschaft, Training

Ab wann ist ein intensives Ausdauertraining eine echte Sportsucht?

Extrovertiert, perfektionistisch, zwanghaft

Hausbenblas und Giacobbi stellten in ihrer Studie zum Zusammenhang von Sportsucht und Persönlichkeitsmerkmalen fest, dass Sportsüchtige zu Extrovertiertheit, Perfektionismus, Zwanghaftigkeit, Neurotizismus und Ängstlichkeit neigen. Diese Befunde wurden von Folge-Studien bestätigt. Eine – indirekte – Konsequenz der Leistungsgesellschaft?

Da sowohl die Bereiche beziehungsweise Parameter „Sport“ als auch „Leistung“ einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert besitzen, können sie dazu dienen, möglichst viel Anerkennung zu erlangen und den eigenen Selbstwert zu erhöhen.

Zudem können auch gesellschaftlich vermittelte Körperbilder dazu beitragen, exzessiv Sport zu treiben – um ein bestimmtes Körper-Ideal zu erreichen. Diese medial vermittelten „Ideale“ könnten für manche zum zentralen Motiv des Sporttreibens werden. Mehrere Untersuchungen stellten tendenzielle Zusammenhänge zwischen einer Sportsucht und Essstörungen fest. Das wohl bekannteste Beispiel: die sogenannte „Anorexia athletica“. So wird die Magersucht speziell bei Sportlern bezeichnet. Dabei wird die Störung des Essverhaltens häufig mit einer Sportsucht und anderen Zwängen kombiniert.

Regeneration

Der Sportpsychologe Oliver Stoll von der Universität Halle unterscheidet zwischen einer primären und einer sekundären Sportsucht. Letztere tritt in der Regel zusammen mit Magersucht auf. In einem Interview bilanziert er: „Das finden Sie bei jeder vierten essgestörten Patientin, dass die eben gleichzeitig exzessiv Sport treibt, damit sie möglichst viel Kalorien verbrennt. Diese Art kommt weitaus häufiger vor als die primäre Sportsucht, bei der es um das reine exzessive Sporttreiben mit Suchtcharakter geht.“

Auch bestimmte Strukturen im Leistungs- beziehungsweise Profisport könnten ein solch dysfunktionales Verhalten triggern. Dies betrifft nicht nur Sportarten wie Skispringen oder Eiskunstlauf, sondern auch den Radrennsport. Und somit: Sportarten, bei denen es sich auszahlt, möglichst „leicht“ zu sein.

Sportsucht und weitere psychische Erkrankungen

Übermäßig betriebener Sport beansprucht nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche. Dass Sport als Mittel gegen Depressionen eingesetzt werden kann, haben wir – inklusive der Nennung zahlreicher Studien – bereits mehrfach in der RennRad dargelegt. Zuletzt in der Ausgabe 10/2019.

Doch eine permanente extreme physische und psychische Beanspruchung, häufig in Kombination mit beruflichen und privaten Belastungen, kann ein Baustein beim Entwickeln einer psychischen Erkrankung sein. Besonders dann, wenn zu den eigenen hohen Ambitionen der Leistungsdruck von „außen“ kommt – von Trainern, Sportverbänden, Zuschauern, Medien, Sponsoren. So berichteten bereits zahlreiche Ex-Profisportler wie der Skispringer Sven Hannawald, der 23-malige Schwimm-Olympiasieger Michael Phelps, der ehemalige Fußball-Nationalspieler Per Mertesacker oder der Ex-Radprofi Dominik Nerz über enorme psychische Belastungen.

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Erfolgsdruck

Der Auslöser: der Erfolgsdruck – von sich selbst und von anderen. „Ich wollte niemanden enttäuschen, aber tagtäglich sehen zu müssen, dass du es nicht hinkriegst, so sehr du es auch willst, macht dich fertig“, sagt Dominik Nerz, der nach Depressionen und Magersucht seine Radsport-Karriere 2016 im Alter von 27 Jahren beendete.Bislang existieren nur wenige spezifische Therapieansätze, um eine Sportsucht zu behandeln. Wurde ein Suchtverhalten festgestellt, sollte man eine psychologische Beratung in Anspruch nehmen. Z

u den „Entzugserscheinungen“ bei einem Vermindern des Trainingsumfangs zählen in der Regel: Unruhe, Nervosität oder Angstzustände. Eine potenziell wirksame Gegenmaßnahme lautet: Meditation.

Der nächste Schritt beinhaltet das Bewusstwerden der Wichtigkeit von Regenerationsphasen – auch als essenzieller Bestandteil des Trainings. Das Anpassen der eigenen Umfänge an ein „normales“ beziehungsweise „gesundes“ Maß sollte langsam erfolgen. Nach und nach. Über mehrere Wochen oder gar Monate hinweg. Zudem können kognitive Techniken wie die Selbstwirksamkeitsüberzeugung eingesetzt werden.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 6/2021Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.

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