Muskelkrämpfe, Wissenschaft, Studien, Krämpfe
Muskelkrämpfe: Ursachen, Gegenmaßnahmen, Hintergründe

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Muskelkrämpfe: Ursachen, Gegenmaßnahmen, Hintergründe

Fast jeder Athlet erlebt sie: Muskelkrämpfe. Die Ursachen, die Gegenmaßnahmen – ein großer wissenschaftlicher Ein- und Überblick plus Tipps.
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Oft kündigen sie sich kurz vorher an – meist nach Stunden auf dem Rad – wenn sie „über einen“ kommen, von einer Zehntelsekunde auf die andere, hat man sie doch nicht erwartet: Krämpfe. Der Schmerz kommt plötzlich und fühlt sich oft „elektrisch“ an: unmittelbar, intensiv. Ein paar Sekunden lang – oder länger – gibt es nichts anderes als diesen Schmerz. Nichts geht mehr. Auf diese Weise enden viele Träume. Von Bestzeiten, von Siegen, von Radmarathon- oder Triathlon-Finishs etwa. Muskelkrämpfe zu erleben, ist für die meisten Ausdauer-Athleten leider nichts Ungewöhnliches. Sie sind weit verbreitet. So berichteten in einer Umfrage unter 2600 Triathleten 67 Prozent von ihnen über Krämpfe während oder nach dem Training. Vier Prozent der Befragten hatten bereits sehr schwere Muskelkrämpfe erlebt. Bei Ausdauer- scheinen Krämpfe häufiger aufzutreten als bei anderen Athleten.

Zu den – im Rahmen mehrerer großer Studien festgestellten – Risikofaktoren für ein vermehrtes Auftreten zählen: ein höheres Alter, kardiovaskuläre Erkrankungen, heiße und feuchte Bedingungen. Die meisten dieser Risikofaktoren sind jedoch nur mit Krämpfen korreliert – und nicht deren Ursachen. Diese sind trotz zahlreicher großer Untersuchungen noch immer nicht vollständig geklärt.

Muskelkrämpfe und Flüssigkeit

Zu den meistuntersuchten Erklärungsversuchen zählt die „Elektrolyt-These“. In deren Mittelpunkt steht ein gestörtes Elektrolytgleichgewicht und ein nicht optimaler Hydratationsstatus als Krampf-Ursache. Genauer: die schwitzbedingte Dehydrierung und der Verlust von Elektrolyten. Letztere sind für eine normale Muskelfunktion, für deren Kontraktion und Entspannung erforderlich. In mehreren aktuellen Studien wurde festgestellt, dass Athleten, bei denen während des Trainings gehäuft Krämpfe auftreten, auch größere Natriumverluste aufwiesen.

Auch ein Kohlenhydratmangel – das Leeren der Glykogenspeicher im Muskel – kann das Krampfrisiko erhöhen. In Untersuchungen zeigte sich, dass das Trinken von Kohlenhydrat-Elektrolyt-Getränken während langer sportlicher Belastungen den Zeitpunkt, an dem bei den Probanden Krämpfe einsetzten, signifikant verzögern konnte. In weiteren aktuellen Studien mit Radfahrern und anderen Ausdauersportlern wurde jedoch festgestellt, dass Athleten, die größere Flüssigkeitsverluste oder niedrigere Elektrolytkonzentrationen aufwiesen, keine höhere Krampfanfälligkeit zeigten als andere Sportler.

Muskelkrämpfe als Ermüdungseffekte?

Eine andere These zur Ursache von Muskelkrämpfen dreht sich um „Ermüdungseffekte“ und geht von Fehlfunktionen der Nervenzellen aus, die die jeweiligen Muskeln steuern. Der Mechanismus: Die Muskelkontraktionen werden von zwei „Sensoren“ gesteuert: den Muskelspindeln und den Golgi-Sehnenorganen. Im ermüdeten Zustand kann es dazu kommen, dass die Spindeln zu viele Signale aussenden, die Golgi-Sehnenorgane zu wenige. Bei einem Krampf senden die Nervenzellen demnach unkontrolliert Impulse an den Muskel.

Für diese These sprechen Studien-Ergebnisse wie jene, die zeigen, dass Krämpfe auch ohne eine Dehydrierung oder ein Elektrolyt-Ungleichgewicht und in kühler Umgebung auftreten können. Es wird angenommen, dass die zunehmende Ermüdung während einer längeren sportlichen Belastung zu einer erhöhten Muskelaktivierung führt – was im Extremfall in einer unkontrollierten Kontraktion und somit einem Krampf resultieren kann. Je besser ein Athlet trainiert ist, desto seltener erleidet er Muskelkrämpfe. Diese Korrelation wurde in vielen Studien errechnet. Zwischen der Krampfhäufigkeit und dem Laktatspiegel im Blut gibt es keine Wechselwirkung.

Treten bei einem Sportler sehr häufig Krämpfe auf, so kann das oftmals an einem „Fehler im System“ liegen, also an einem chronischen Problem des Körpers. Zum Beispiel: muskuläre Dysbalancen wie etwa eine verkürzte Wadenmuskulatur, Fuß- oder Beckenfehlstände. Auch ein Wechsel der Sitzposition auf dem Rad kann das Muskel-Rekrutierungsmuster verändern und somit das Risiko von Krämpfen erhöhen.

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Krämpfe & Mythen: Die Mehrzahl der Studien zeigt, dass keine Beziehung zwischen Krämpfen und der im Blut gemessenen Magnesiumkonzentration besteht

Aminosäuren und mehr

Der Schweizer Ernährungswissenschaftler und Sport-Ernährungs-Experte des „erpse-Instituts“ Jürg Hösli fasst seine Erkenntnisse zusammen: „Wir gehen davon aus, dass ein Krampf durch eine muskuläre Überbeanspruchung ausgelöst wird. Daraus würde folgen, dass in der Zielmuskulatur zu wenige Energiereserven vorliegen, sodass sich die Spannung nicht mehr lösen kann. Überlastete Muskeln zeigen eine Einschränkung in der Speicherfähigkeit von Kohlenhydraten. So müssten wir dem Muskel eine andere Form von Energie, sogenannte verzweigtkettige Aminosäuren, als Energie-Alternative zur Verfügung stellen können, um damit den Krampf wieder zu lösen. Und genau das hat sich als sehr wirksam erwiesen.“

Er empfiehlt somit die Einnahme sogenannter „BCAAs“, verzweigtkettiger Aminosäuren, um Krämpfe zu lösen beziehungsweise zu verhindern. Konkret: 0,5 Gramm bis ein Gramm BCAAs pro zehn Kilogramm Körpergewicht. Diese würden demnach bei einer Einschränkung der Speicherfähigkeit von Kohlenhydraten eine alternative Form von Energie bieten. Auch die frühzeitige Einnahme von Kohlenhydraten während langer oder intensiver Belastungen sieht er als Präventionsfaktor gegen Krämpfe an. „Kohlenhydrate bilden nicht nur eine wichtige Energiequelle, sondern sind auch Baustoff von Milchsäure und dem daraus folgenden Laktat. Dieses Laktat kann den Stoffwechsel deutlich verbessern, indem es – gezielt im Training gebildet – die Durchblutung, den Abtransport von Säuren aus dem Körper und vor allem die Säurepufferung in der Zelle fördert.“ Diese Effekte der Kohlenhydrat-Aufnahme werden von Low-Carb-Ernährungsverfechtern oftmals ignoriert, so Hösli.

Elektrolyt-Ungleichgewichte erklären wohl nur einen geringen Prozentsatz der Fälle von Muskelkrämpfen. Es ist zudem kaum möglich, die mit dem Schweiß verlorene Menge an Elektrolyten auszugleichen, doch es wird empfohlen, große Verluste zu vermeiden. Studienergebnisse suggerieren, dass ein Verlust von bis zu fünf Gramm Natrium unbedenklich ist. Salz während langer harter Belastungen zuzuführen, ist dennoch sinnvoll. Dies zeigt auch die Zusammensetzung des nebenstehenden „Zaubertranks“.

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Gurkensaft vs. Magnesium

Dass das Auftreten von Krämpfen stark mit einer zentralnervösen Ermüdung und einer „Überlastung“ zusammenhängt, zeigt sich in immer mehr Studien. Da Wettkämpfe in der Regel intensiver und belastender sind als selbst hochintensive Trainingseinheiten, ist die Wahrscheinlichkeit von Krämpfen in dieser Situation größer. Wenn leichte Krämpfe auftreten, kann das Dehnen eines betroffenen Muskels Abhilfe schaffen. Dies wurde bereits in mehreren Untersuchungen gezeigt. Dabei wird das „Golgi-Sehnenorgan“ aktiviert, was dem steuernden Nerv signalisiert, die Kontraktion zu reduzieren.

Jedoch sind auch dazu die Studienergebnisse nicht einheitlich und längst nicht ausreichend. Dass Magnesium und andere Elektrolyte wie Kalium oder Natrium gegen Krämpfe helfen, gehört zu den traditionell überlieferten Weisheiten. Aber die Mehrzahl der Studien zeigt, dass keine Beziehung zwischen Krämpfen und der im Blut gemessenen Magnesiumkonzentration besteht. Allerdings gilt: Magnesium ist vor allem im Zellinneren vorhanden, weniger im Blut.

In einer Studie von 2002 wurde festgestellt, dass gut trainierte Ausdauerathleten deutlich mehr Magnesium über den Urin ausscheiden als Freizeitsportler. Dies spricht für eine längerfristige prophylaktische Magnesiumeinnahme von Menschen, die krampfanfällig sind. Kurzfristige Einnahmen scheinen keinen Effekt zu haben. Auch eine Reihe von Nahrungsmitteln und Getränken wurde als hilfreich bei der Behandlung von Krämpfen vorgeschlagen – trotz begrenzter Beweise.

Ein „Getränk“, das sich als wirksam gegen Krämpfe zeigte, ist: Gurkenwasser, die essighaltige Flüssigkeit, in der „saure Gurken“ eingelegt sind. Einer US-amerikanischen Studie zufolge wurde durch dessen Einnahme die durchschnittliche Krampfdauer um fast die Hälfte auf im Schnitt 85 Sekunden verkürzt. Die Dosierung: ein Milliliter Gurkenwasser pro Kilogramm Körpergewicht. Woher dieser Effekt rührt, ist unklar. Womöglich ist es „nur“ der saure Geschmack, der die Aktivität der impulsgebenden Nervenzellen drosselt und krampflösend wirkt.

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Muskelkrämpfe, Wissenschaft, Studien, Krämpfe

Welche Tipps kann ich befolgen, um Muskelkrämpfen vorzubeugen?


Tipps gegen Muskelkrämpfe

  • Für intensive Trainingseinheiten ausgiebig – je mindestens 15 bis 20 Minuten – aufwärmen und ausfahren.
  • Kontinuierliches Training verbessert die Durchblutung und bereitet die Muskulatur auf schwere Belastungen vor.
  • An besonders warmen Tagen kann etwas Salz in der Trinkflasche einem Natrium-Mangel entgegenwirken.
  • Eine ausreichende Aufnahme von Kohlenhydraten und BCAAs erhält die Muskel-Energiereserven.
  • Wechselduschen mit kalter und warmer Temperatur können die Muskel-Durchblutung verbessern.
  • Regelmäßig – etwa zwei- bis dreimal pro Woche – Dehnübungen und Übungen mit der Faszienrolle durchführen.
  • An kalten oder regnerischen Trainingstagen wärmende Salben oder Cremes auf die Beinmuskulatur auftragen.
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