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Enhanced Games: Für und Wider der Freigabe von Doping

Doping & Moral

Enhanced Games: Für und Wider der Freigabe von Doping

Machen sportliche Top-Leistungen stets „verdächtig“? Ein neues Eventkonzept will Doping freigeben. Die Hintergründe.
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7,38 Watt pro Kilogramm über mehr als 13 Minuten – ist das „normal“? Ist diese Leistung „menschlich“? Ist sie erklärbar – auf Talent, Wille, Training und weitere „marginal gains“ zurückzuführen?* Top-Leistungen werfen, gerade im Radsport, Fragen auf.

Die schnellsten Auffahrt-Zeiten auf die Pässe der Tour de France stammten lange von Marco Pantani, Jan Ullrich, Bjarne Riis, Ivan Basso, Iban Mayo, Lance Armstrong.

Pantani hält bis heute den Rekord für die schnellste Auffahrt hinauf nach L‘Alpe d’Huez: 36:50 Minuten für den 13,8 Kilometer langen und durchschnittlich 8,1 Prozent steilen Anstieg. Seine geschätzte Leistung: 7,2 Watt pro Kilogramm Körpergewicht. Jan Ullrich fuhr bei seinem Tour-Sieg 1997 in 22:55 Minuten den zehn Kilometer langen und durchschnittlich sieben Prozent steilen Schlussanstieg zur Skistation Ordino-Arcalis hinauf – bis heute die Rekordzeit. Der Däne Bjarne Riis stellte 1996 am Anstieg hinauf nach Hautacam die bis heute gültige Rekordzeit auf: 34:38 Minuten benötigte er für den 13,5 Kilometer langen und 7,9 Prozent steilen Anstieg. Seine Durchschnittsgeschwindigkeit: 23,39 km/h. Seine geschätzte Leistung: 6,76 Watt pro Kilogramm Körpergewicht. Es sind Leistungen aus der EPO-Doping-Ära des Radsports.

Eine neue Zeit der Rekorde

Nun ist wieder eine Zeit der Rekorde angebrochen. Jonas Vingegaard und Tadej Pogačar brachen in diesem Jahr während der Tour de France unter anderem den 30 Jahre alten Rekord am Col du Tourmalet. Ihre Zeit: 45:35 Minuten. Die Durchschnittsgeschwindigkeit: 22,38 km/h bei 7,4 Prozent Steigung über 17 Kilometer.

Auch am Col du Marie-Blanque stellte Vingegaard einen Rekord auf: Er fuhr die 7,9 Kilometer mit 671 Höhenmetern in 20:58 Minuten – und leistete geschätzte 6,9 Watt pro Kilogramm Körpergewicht. Pogačar holte sich die Bestzeit am Grand Colombier: Er absolvierte die 17,6 Kilometer mit 7,1 Prozent Durchschnitssteigung in 44:32 Minuten.

Von Jahr zu Jahr wird die Tour de France im Mittel 0,1 bis 0,2 km/h schneller gefahren. Doch es ist nicht nur der Radsport, in dem sich enorme Leistungsentwicklungen zeigen. Im Marathonlauf liegt der aktuelle Weltrekord des Kenianers Eliud Kipchoge bei zwei Stunden und 69 Sekunden. Im Triathlon beträgt die Weltrekord-Zeit über die Ironman-Distanz: 07:24:40 Stunden. Der amtierende Eisschnelllauf-Weltrekordhalter über 10.000 Meter heißt: Nils van der Poel. Seine Zeit: 12:30,74 Minuten – aufgestellt während der Olympischen Winterspiele 2022. Im Jahr 1998 reichten knapp 45 Sekunden weniger zum Weltrekord.

Rekorde und Zweifel

Sind solche Leistungssteigerungen ohne Doping möglich? Kann man die menschliche Leistungsfähigkeit nur durch neues Material, moderne Trainingsmethoden und eine bessere Ernährung erklären? Alle diese Fragen und Diskussionen sollen nun „obsolet“ werden. Denn: Der Einsatz von Dopingmitteln soll erlaubt werden. Jede Leistung wird akzeptiert, gefeiert und belohnt. Völlig egal, wie sie zu Stande kam – und zu welchem Preis. Das ist das Prinzip der „Enhanced Games“ – einer neuen, privat organisierten, jährlichen Version der Olympischen Spiele. Es sind Wettkämpfe ohne „Hemmnisse“. Es sollen „transparente“ Spiele werden. 2024 sollen sie zum ersten Mal in Australien ausgetragen werden.

Jeder Athlet muss vor den Wettkämpfen offenlegen, welche Mittel er einsetzt. Ergo: Was er einnimmt, was er sich spritzt und in welcher Dosis. „Das ist besser, als wenn sich die Sportler gepanschte Dopingmittel im Internet bestellen“, sagt Brett Fraser, der Chief Athletes Officer der Enhanced Games, in einem NZZ-Interview. „Will einer leistungssteigernde Mittel einnehmen, ist das in Ordnung. Wenn ein anderer das nicht will – auch okay. Es wird im Weltsport so oder so gedopt. Wir wollen nicht, dass die Athleten die Mittel im stillen Kämmerlein nehmen. Die meisten leistungssteigernden Substanzen sind von den Behörden zugelassen.“

Enhanced Games: Jeder ist für sich selbst verantwortlich

Die Botschaft: Jeder ist für sich selbst verantwortlich, für seine Leistung, seinen Erfolg, seine Gesundheit. Gesundheitliche Risiken oder Langzeitschäden befürchtet Fraser keine. Er war lange selbst Spitzensportler. Drei Mal nahm er als Schwimmer an Olympischen Spielen teil. Die aktuelle Organisation des Spitzensports halten er und die anderen Macher der Enhanced Games für unfair, unausgereift und überholt. „Ich war im Schwimmen einer der Besten der Welt“, sagt Fraser, „aber ich hatte nach der Karriere keine Ersparnisse. So geht es vielen Olympia-Teilnehmern. Man verdient als Athlet zu wenig. Dabei erwirtschaftet das IOC Milliarden, teilweise mehr als das Bruttoinlandsprodukt von kleinen Staaten wie Tonga oder Bhutan. Die Funktionäre leben im Luxus, für die Athleten bleibt nichts. Schwimmer widmen ihr Leben dem Training – sie opfern ihren Körper und ihre Zeit, um alle vier Jahre bei den Olympischen Spielen für etwa zwei Minuten oder weniger ihre Zeit zu haben. Wenn sie krank werden, verpassen sie Ihre Chance – womöglich die ihres Lebens. Unser Ziel ist es, eine neue Veranstaltung zu erschaffen, die jedes Jahr stattfindet, mit abgestimmten finanziellen Anreizen für Sportler, ausreichend Unterstützung in Bezug auf die psychische Gesundheit und vor allem Zugang zu Ärzten und Wissenschaftlern, die valide nicht-invasive medizinische Therapien anwenden können, damit die Athleten ihre Lebenserwartung verlängern, ihre Leistungen steigern und sich besser fühlen können.“

Seine Botschaft: Das Geld von Sponsoren, TV-Lizenzeinnahmen et cetera lande nicht bei denen, die es verdienen – den Athleten – sondern bei den Verbänden. Zudem seien die Olympischen Spiele viel zu groß und teuer geworden. Die Infrastrukturkosten für die Veranstalter seien viel zu hoch.

All dies soll sich bei den Enhanced Games ändern: Die jährlichen Spiele sollen kleiner werden – und sehr viel günstiger. Brett Fraser schätzt die Gesamtkosten des neuen Events auf einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag. Teure Neubauten von Stadien, Athletenunterkünften und anderen Sportstätten brauche es für die Durchführung nicht. Auch weil man sich auf Kernsportarten wie Leichtathletik, Schwimmen, Kampfsport, Gewichtheben und Kunstturnen beschränken werde.

Wirtschaft und Wissenschaft

Aron D’Souza, der Gründer und Initiator des Ganzen, sagt: „Es gibt keine bessere Plattform für die Bedeutung der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft als den Spitzensport. Wir alle wissen, dass der Einsatz von leistungssteigernden Substanzen im Sport ein offenes Geheimnis ist. Der sicherste Weg, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, besteht darin, den Sportlern die Möglichkeit zu geben, die Wissenschaft offen zu nutzen, um ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Ich bin fest davon überzeugt, dass erwachsene Sportler gut informiert auch freie Entscheidungen über ihren eigenen Körper treffen können. Mein Körper, meine Wahl – dein Körper, deine Wahl. Ich hoffe aufrichtig, dass ein bekannter Sportler auftaucht und sagt: ‚Ich bin WADA-konform und ich werde alle, auch die gedopten Athleten, schlagen.‘ Ich bin mir nicht sicher, ob das tatsächlich passieren wird, aber es könnte jemanden geben, der in der genetischen Lotterie gewonnen hat. Die spiegelt nicht die eigene Leistung oder harte Arbeit wider. Doping und Wissenschaft können uns dabei helfen, dieses Problem zu überwinden. Wir haben die Auswahl der Veranstaltungen gezielt so gestaltet, dass wir Weltrekorde brechen können. Wer will schon die alten, langweiligen und langsamen Olympischen Spiele sehen, wenn alle Weltrekorde bei den ‚Enhanced Games‘ aufgestellt wurden?“ Aus diesem Grund soll demnach der Einsatz von Dopingmitteln erlaubt werden. Um zu zeigen, was möglich ist. Um das Spitzensport-System transparent zu machen und die Athleten zu „schützen“.

D’Souza wirft dem IOC vor, die Athleten nicht fair für ihre Arbeit zu bezahlen. Er fügt hinzu, dass sein Unternehmen nicht auf Steuerzahler angewiesen sei, um die Wettbewerbe zu finanzieren. Laut D’Souza sind für die Olympischen Spiele in den vergangenen zwei Jahrzehnten 100 Milliarden US-Dollar ausgegeben worden. „Die Olympischen Spiele machen einen Umsatz von acht Milliarden US-Dollar, der alle vier Jahre erzielt wird. Thomas Bach, der IOC-Präsident, fliegt in einem Privatjet um die Welt, er verhält sich wie ein Staatsoberhaupt, er lebt buchstäblich in einem vom IOC bezahlten Palast. Dennoch bekommen die Sportler keinen einzigen Cent bezahlt. (…) Es ist so unfair, dass es ausbeuterisch ist.“

Fragezeichen bei den Enhanced Games

Doch bei seinen Enhanced Games gibt es noch viele Fragezeichen. So gibt es neben den gesundheitlichen und ethischen Punkten auch noch einen juristischen: das Strafrecht. In dem geplanten Austragungsland, Australien, ist die Verabreichung von Dopingmitteln strafbar. Den Athleten und den sie betreuenden Ärzten könnte die Strafverfolgung drohen.

Doping im Sport freizugeben, hätte etliche potenzielle Konsequenzen. Es würde den Sinn, die gesellschaftliche Wahrnehmung und die ganze Struktur des Sports ändern. „Durch den Sport wird ein enormes Maß an Wir-Gefühl transportiert“, sagte der Sportsoziologe Dr. Elk Franke in einem RennRad-Interview. „Sport ist eine eigene Welt innerhalb der normalen Welt, der man eine eigene Bedeutung zuschreibt. In dieser Welt ist Doping nicht nur eine Übertretung, sondern ein Verrat am gesamten System. Durch Doping verliert der Sport seine Seele. (…) Wir leben in einer ergebnisorientierten Leistungsgesellschaft. Es zählt das Ergebnis. Nur: In anderen Lebensbereichen wie Schule, Studium, Arbeit fragt niemand nach dem Weg dorthin. Im Sport dagegen wird dieser Weg kontrolliert, man bindet den Erfolg an ‚natürliche Voraussetzungen‘. Die EPO-Spritze ist unter Umständen in ihrer Wirkung nichts anderes als drei Wochen Höhentraining. Dabei erfolgt die Vermehrung der roten Blutkörperchen, der Erythrozyten, auf ‚natürliche‘ Weise. Deshalb bleibt letztlich ein errungener Sieg nur so lange auch glaubwürdig, wie er das Ergebnis einer selbst erbrachten Arbeit am eigenen Körper eines Athleten darstellt. Sportarten, in denen die Natürlichkeit der Leistungen und die Funktionalität der Kontrollsysteme nicht mehr glaubwürdig sind, könnten im schlimmsten Fall zukünftig aus dem Sportkanon herausfallen – und zu einer Art Showprogramm werden. Wie im Zirkus. Nur treten dann statt den Artisten Gedopte gegeneinander an. Monster, die im Ring, am Gerät, an Alpenpässen übermenschliche Leistungen erbringen, bei denen man eigentlich nur dem Arzt oder Apotheker gratulieren darf. Denn der Athlet ist dann längst nicht mehr nur ein Opfer, sondern ein würdeloses Objekt im großen Sensationsspiel der Grenzüberschreitungen geworden.“

*Leistete Jonas Vingegaard nach inoffiziellen Berechnungen im Tour-de-France-Zeitfahren 2023 an der Côte de Domancy.

Diesen Leitartikel lesen Sie in der RennRad 10/2023. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

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