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System Deutsche Bahn: Eine Geschichte von Chaos und Scheitern

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System Deutsche Bahn: Eine Geschichte von Chaos und Scheitern

Ankündigungen versus Realität: Was von der „großen Verkehrswende“ übrig ist. Das System Deutsche Bahn – eine Geschichte von Chaos und Scheitern. Ein Leitartikel von RennRad-Chefredakteur David Binnig.
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Keine Emotionen – das ist eine journalistische Grundregel. Der Autor muss sich selbst zurücknehmen und maximal sachlich bleiben. In diesem Fall bin ich offen: Ich halte mich diesmal nicht daran. 1. Weil dies ein Meinungsartikel ist. 2. Weil ich diesen Text in einem Zug schreibe, einem ICE. Solch ein Artikel schreibt sich naturgemäß nicht so schnell – es wird demnach deutlich: Ich habe Zeit. Denn der Zug steht irgendwo, zum fünften Mal während dieser Fahrt von Düsseldorf nach München, und gerade kam, ohne Witz beziehungsweise Übertreibung, folgende Durchsage: „Aufgrund einer technischen Störung vor uns können wir leider gerade nicht sagen, wann es weitergeht. Aber wenn wir dann weiterfahren, dann mit maximal 40 km/h. Ich hoffe, wir kommen heute noch in München an, weil, wir wollen da auch alle hin.“

Dies ist ein wortwörtliches Zitat. Das Zugpersonal der Deutschen Bahn hat wohl nur wenige Möglichkeiten, mit dem täglichen Wahnsinn umzugehen – Sarkasmus oder Resignation gehören dazu. ICEs fahren, wenn sie denn nicht stehen, in der Geschwindigkeit einer guten Rennradfahrergruppe. Der Bahnkonzern ist hochverschuldet, jahrzehntelang blieben wichtige Investitionen in die Infrastruktur aus. Der Alltag von Bahnfahrern in Deutschland lautet: Verspätungen, verpasste Anschlusszüge, Streckensperrungen, Zugausfälle. Bereits jetzt fallen seit Jahren die Pünktlichkeitswerte immer weiter ab. Das ist Bahnfahren – die „Mobilitätsform der Zukunft“ laut vieler Politiker – im Jahr 2024 in Deutschland.

Revolution im Verkehrssektor?

Es gibt wohl wenige Bereiche, in denen zwischen Worten und Taten beziehungsweise der Realität eine solche Kluft liegt wie im Verkehrssektor – abgesehen von Jürgen Trittins legendärer „Kugel Eis“ pro Monat für die „Energiewende“, deren Kosten sich bislang auf mehr als 300 Milliarden Euro summiert haben. Eine „Revolution“ wurde angestrebt und angekündigt. Drunter ging es nicht. Hin zu mehr Radverkehr und einer Verlagerung von der Straße auf die Schiene.

Die Realität ist eine völlig andere. Der Lkw-Verkehr in Deutschland nimmt stetig zu. Der Marktanteil an der Verkehrsleistung im Gütertransport beträgt aktuell rund 72 Prozent – Tendenz steigend. Der Anteil des Schienenverkehrs am Gütertransport pendelt dagegen seit einigen Jahren zwischen 18 und 19 Prozent. Bis 2051 wird der Lastverkehr auf deutschen Straßen, Statistiken zufolge, im Vergleich zu 2019 um 54 Prozent zunehmen. Im vergangenen Juli kündigte die Regierung an, bei einzelnen Budgets zu „sparen“. Und welcher Bereich ist wohl stark betroffen? Genau. Die geplanten 750 Millionen für den Radverkehr werden um fast die Hälfte auf nur noch 400 gekürzt.

Deutsche Bahn: Jeder zweite Fernzug verspätet

Allein im vergangenen November hatte jeder zweite Fernzug der Deutschen Bahn Verspätung – Zugausfälle nicht mit eingerechnet. In den vergangenen Jahren hat die Bahn AG ihr Schienennetz von über 40.000 Kilometern auf 33.000 gekürzt – um 20 Prozent.

Zum Vergleich: Die Schweiz baut ihr Schienennetz seit 175 Jahren immer weiter aus. Mit durchschnittlich 159 Zügen pro Tag und Strecke einschließlich des Güterverkehrs ist das Schweizer Schienennetz das dichteste der Welt. In der Regel sind rund 92 Prozent der Züge pünktlich – und das trotz der vielen Berge und trotz „Wintereinbrüchen“. In Japan beträgt die Pünktlichkeitsquote sogar 99 Prozent.

Vorhersehbares Chaos

In Deutschland dagegen fällt diese Quote immer weiter. Anfang Dezember sorgte eine schneereiche Nacht für tagelange Zugausfälle und massive Einschränkungen in Süddeutschland. In der „Welt“ fasst man die Lage der Bahn, auch im Hinblick auf Streiks der Lokführer-Gewerkschaft, in jenem Monat wie folgt zusammen: „Das Bestürzende am neuen Warnstreik bei der Deutschen Bahn ist nicht, dass die Lokführergewerkschaft GDL ihre starke Verhandlungsposition eiskalt ausnutzt und mit der 35-Stunden-Woche etwas fordert, das angesichts des dramatischen Personalmangels schier unmöglich wirkt. Das Bestürzende ist vielmehr, dass dieser abermalige Zusammenbruch des Schienenverkehrs kaum noch als außergewöhnliche Verschlechterung wahrgenommen werden kann. Weil es, wenn es nach dem Streik am Wochenende wie gewöhnlich weitergeht, immer noch schlecht sein wird. (…) Denn falls es noch einmal kräftiger schneien sollte, werden auch ohne Streik kaum Züge fahren. Und falls es keine weißen Weihnachten gibt, wird es weiterhin wie aus dem Nichts entstehende Baustellen, kaputte ICEs und Nahverkehrszüge, nicht funktionierende Stellwerke sowie Krankmeldungen beim überlasteten Personal geben. Insofern akzentuiert dieser Streik nur eine fundamentale Bahnkrise, die fast jede Nutzung dieses an sich so schnellen wie leistungsfähigen, so komfortablen wie klimafreundlichen Verkehrsmittels unter Vorbehalt stellt.“

Mindestens 1250 Eisenbahnbrücken hierzulande sind so marode, dass sie abgerissen werden müssten. Der gesamte Investitionsrückstau im Gleisnetz wird von der DB AG mit rund 60 Milliarden Euro angegeben. In den vergangenen 25 Jahren wurden über 100 Mittel- und Großstädte vom Fernverkehr abgehängt. Etwa Chemnitz, Potsdam, Heilbronn, Hof. Für rund 17 Millionen Menschen wurde durch dieses Abkoppeln das Bahnfahren erschwert und somit unattraktiver. Allein im Jahr 2017 wurden 242 Bahnhöfe geschlossen, 205 Haltepunkte fielen weg.

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Bahnausbau: „Bremser“ Deutschland

Der geplante Ausbau des Transitkorridors Rotterdam-Genua, die wohl wichtigste Nord-Süd-Verbindung im europäischen Schienengüterverkehr, wird voraussichtlich erst mehrere Jahrzehnte später abgeschlossen werden können. Der „Bremser“ ist: Deutschland. In den rund 30 Jahren seit dem Alpentransit-Beschluss wurden in der Schweiz 20 Tunnel mit mehr als 200 Kilometern Länge durch die Alpen gebaut. Auch in den Niederlanden und in Italien kommt man mit dem Ausbau gut voran. Die deutschen Abschnitte am Niederrhein und im Rheintal werden dagegen frühestens Anfang der 2040er Jahre fertig sein. Aktuell wurde noch nicht einmal ein Drittel der 180 Kilometer langen Rheintalstrecke ausgebaut.

Inzwischen wird in unseren Nachbarländern darüber diskutiert, eine Alternativroute durch Belgien und Frankreich zu wählen – statt auf die deutschen Nachzügler zu warten. Was hat dies wohl für eine Signalwirkung nach außen?

Bilanz und Preis-Leistung

Das einstige Land der Ingenieure, das wirtschaftlich gerade wieder zum kranken Mann Europas wird, macht sich zum Gespött. Was sind die Konsequenzen für die Verantwortlichen des gigantischen Versagens? Sie zahlen sich Boni aus.

Die „Welt“ konstatiert: „Allein Bahn-Chef Richard Lutz erhält eine Nachzahlung von fast 1,3 Millionen Euro. Und das trotz einer verheerenden Verspätungsbilanz von nur 65,2 Prozent pünktlichen Zügen im Fernverkehr, einem komplett maroden Schienennetz, einer unterirdischen Kundenzufriedenheit und hunderten Millionen Euro Verlust (…) Den Vorständen kann man vieles vorwerfen, aber für diese Bonus-Posse sind sie nicht verantwortlich. Daran ist allein der Eigentümer schuld – also die Bundesregierung, allen voran Verkehrsminister Volker Wissing.“

Für ihre „Leistung“ im Jahr 2022 fließen insgesamt mehr als 4,5 Millionen Euro Boni an die Bahn-Vorstände. Klarer kann man das Leistungsprinzip nicht negieren. In Deutschland werden seit Jahrzehnten irgendwelche „Verkehrswenden“ ausgerufen.

System Deutsche Bahn ist dysfunktional

Dass das „System Bahn“ dysfunktional ist, zeigt sich eben so lange. In den 1960er Jahren lagen die Pünktlichkeitswerte noch bei 79 Prozent im Fern- und 91 im Nahverkehr – seitdem ist die Zuverlässigkeit im „freien Fall“.

Die „Süddeutsche Zeitung“ konstatierte bereits vor vielen Jahren, Deutschland sei das „Land der kaputtgesparten Bimmelbahn“. Dass die Bahn zusätzlich zu dem im Europavergleich enorm hohen Fahrpreis noch knapp fünf Euro für eine „Sitzplatz-Reservierung“ in einem ICE verlangt, ist, wie wenn man im Kino für eine Sitzgelegenheit extra bezahlen muss. Oder im Taxi.

Anders gesagt: Es ist – auch angesichts der durchschnittlichen erbrachten Leistungen und der dafür verlangten Preise – eine Absurdität an sich.

Regress-Ansprüche

Gleiches gilt für die Regress-Ansprüche. Wieso gesteht der Bahn-Konzern erst ab Verspätungen von einer Stunde eine Entschädigung von 25 Prozent des gezahlten Fahrpreises für die einfache Fahrt zu? Und wieso nur 25 Prozent? Sind 58 oder 43 Minuten nicht auch wertvoll für diejenigen, deren Lebenszeit verschwendet wird? Zeit ist mit das Wertvollste, das man hat. Wenn ein Dienstleister seine Dienstleistung nicht wie angekündigt, wie geplant, wie gebucht und wie bezahlt erbringt, dann ist diese auch das Geld nicht wert. Wenn dies dauerhaft der Fall ist, muss dies Konsequenzen haben. Für die Verantwortlichen – im Unternehmen und in der Politik.

Die Politiker reden über „Lenkungssteuern“ und CO2-Einsparungen, aber schaffen nicht einmal die Grundlagen für ihre „Wenden“. Weder bei einer bezahlbaren zuverlässigen Energieversorgung noch im Verkehrsbereich. Polemisch könnte man konstatieren: Das Reden, Besteuern und Gesetze-Machen funktioniert – aber sonst nicht viel. Polemik schließt Realität nicht aus. Die jahrzehntelange Bilanz des Scheiterns und Herunterwirtschaftens lässt einem nicht mehr viele psychische Verarbeitungsstrategien übrig. Man kann sich zum Beispiel, wie viele Bahn-Mitarbeiter, in Sarkasmus und Ironie flüchten.

Dieser Leitartikel erschien in der RennRad 3/2024. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

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