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Corona-Pandemie: Effekte und Folgen für Sport und Bewegung

Effekte und Folgen

Corona-Pandemie: Effekte und Folgen für Sport und Bewegung

Was sind die langfristigen Folgen der Corona-Pandemie, der Lockdowns, der neuen Verhaltensmuster? Und welchen Stellenwert haben Sport und Bewegung?
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„Wir taten nichts, absolut gar nichts, waren faul wie die Waschbären“, heißt es in einem Video, das die Bundesregierung unter dem Hashtag #besonderehelden auf Twitter verbreiten ließ. Der Protagonist liegt chips­essend und colatrinkend auf einem Sofa. „Tage- und nächtelang blieben wir auf unserem Arsch zu Hause und kämpften gegen die Ausbreitung des Coronavirus.“ In einem anderen Video dieser Serie wird über die vor der Spielekonsole verbrachte Zeit während des Lockdowns geschwärmt. Nach dieser propagierten Logik zeichnen sich „Helden“ beziehungsweise „gute Bürger“ des Corona-Zeitalters wohl, spitz formuliert, durch bestimmte „positive“ Eigenschaften aus: Passivität, Bewegungslosigkeit, Fast-Food- und Videospiele-Konsum.

Eine interessante Botschaft. Angesichts der laut WHO weltweit rund 5,8 Millionen Bewegungsmangel-Toten pro Jahr, der – nach Angaben des Deutschen Krebsforschungszentrums – hierzulande mehr als sieben Prozent auf Bewegungsmangel-Folgen zurückzuführenden Todesfälle und der damit verbundenen jährlichen Kosten von 15 bis 20 Milliarden Euro. Das Robert Koch-Institut, RKI, rechnet zudem neben Älteren auch Menschen mit Herzkreislauferkrankungen, Diabetes und Übergewicht zur „Corona-Risikogruppe“, insgesamt deutschlandweit 36 Millionen Menschen.

Bewegungsmangel als Zivilisationskrankheit

„Wir produzieren die Kranken der Zukunft“, sagt Professor Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln. Im Gespräch mit der Deutschen Welle legt er dar, dass die Risikogruppe durch die Lockdown-Maßnahmen um bis zu zehn Prozent anwachsen könnte: „Allein in Deutschland sterben jährlich 50.000 bis 60.000 Menschen an den Folgen von Diabetes Typ 2.“

Eine Hauptursache dieser „Zivilisationskrankheit“: Bewegungsmangel. Die Zeit der Lockdowns hat diesen gesellschaftlichen „Trend“ weiter verstärkt. „Die Spätfolgen werden immens sein”, sagt Froböse. Er geht davon aus, dass sich die damit im Zusammenhang stehenden Behandlungskosten für die Krankenkassen bis zum Jahr 2030 verdoppeln werden. Zudem gelte: „Verpasste körperliche Lernphasen lassen sich später nicht nachholen.”

Die Bedeutung von Sport

Welche Bedeutung haben Sport und Bewegung für eine Gesellschaft? Aus Sicht der deutschen Politik lautet die Antwort wohl: fast keine. Anders kann man die Entscheidungen der Entscheider – und die langfristige Entwicklung in diesem Land – wohl kaum interpretieren. Oder in Zahlen ausgedrückt: null. So oft kam das Wort „Sport“ in dem Ende Februar veröffentlichten Control-Covid-Konzept-Papier des RKI zu möglichen Lockdown-Lockerungsszenarien vor.*

Eine der vielen Entwicklungen dieses „Corona-Zeitalters“ lautet: Bewegungslosigkeit. Die Bedeutung einzelner Teilbereiche, wie etwa des Sports, sowie die potenziellen Langfrist-Effekte der Maßnahmen spielten über Monate hinweg quasi keine Rolle in der öffentlichen Diskussion. Dies ist es, was an dieser Stelle kritisiert wird: fehlende Debatten, Strategien, Perspektiven.

Die Entscheidungen zeigten: Sportvereine, -Stätten, -Trainer, -Helfer sind, aus der Sicht der Entscheider, nicht systemrelevant. Sie stehen damit, wie Michael Schirp, der stellvertretende DOSB-Leiter Kommunikation, es in einem Newsletter schrieb, quasi auf einer Stufe „mit Spaßbädern und Bordellen“. Ob Hygienekonzepte erstellt, die Einheiten von drinnen nach draußen verlegt, die Gruppen verkleinert oder die Abstände vergrößert wurden – etwa wenn zwei Tennisspieler durchschnittlich 23 Meter voneinander entfernt sind, und damit „ein paar“ Meter mehr als Menschen in Bussen, Bahnen, Schulen – all dies: Machte keinen Unterschied.

Schirp schrieb, dass sich die Politik nicht anders zu helfen wisse, „und den Breitensport, der in der Pandemie mit all seinen gesundheitlichen und psychosozialen Heilkräften Teil der Lösung und nicht Problem ist, mechanisch einordnet und wegsperrt.“ Und weiter: „Der DOSB ist kein Wutbürger. Ein Drittel der Bevölkerung ist hier versammelt, alle gemeinsam tragen und übernehmen Verantwortung. Dazu zählen auch die Hygieneregeln, die überzeugend entwickelt und gelebt wurden und dazu beigetragen haben, dass der Sport bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Gesundheitsämter bundesweit die Nachverfolgung nicht mehr gewährleisten konnten, nicht als Pandemietreiber und Superspreader aufgefallen war.“

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Die Corona-Pandemie verändert den Alltag – und hat Folgen für den Sport

Stellenwert

Nach Angaben des RKI war Ende 2020 in 75 Prozent der Corona-Fälle jedoch nicht nachvollziehbar, wo die Infektion stattfand. Die Corona-Pandemie ist eine Ausnahmesituation. Doch die Zeiten der Lockdowns – und die während dieser Zeit entwickelten Verhaltensweisen – werden massive gesellschaftliche Folgen haben. Wirtschaftliche, politische, soziale, psychologische. Ob sie reversibel sind – und ob solche „erlernten“ Verhaltensweisen wieder geändert werden – ist völlig unklar.

So warnt etwa der DOSB vor „massiven und teilweise irreparablen Schäden an unserem Sportsystem“. Das gesellschaftliche Teilsystem Sport sei gefährdet, sagt der DOSB-Präsident Alfons Hörmann in einem Zeit-Online-Interview: „Unsere Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, dass der Sport Motor für Integration und Inklusion ist, einen gesunden Lebensstil vermittelt oder Kinder und Jugendliche in schwierigen Phasen ihres Lebens stabilisiert und für ihr Leben teamfähig macht. Auf all diese wichtigen Beiträge des Sports muss unser Land derzeit verzichten.“

Nach einer DOSB-Zählung sind hierzulande rund 27 Millionen Menschen Mitglieder von Sportvereinen – jeder dritte Deutsche. Doch: Jeder zweite deutsche Sportverein erwartet in den kommenden zwölf Monaten eine existenzbedrohende Lage. 44 Prozent der Sportvereine verloren im Vorjahr Mitglieder, 35 Prozent verloren ehrenamtliche Trainer und Helfer. Dies sind Ergebnisse der „8. Welle des Sportentwicklungsberichts“, der im Januar 2021 von Forschern der Deutschen Sporthochschule Köln veröffentlicht wurde.

Erlernte Passivität in der Corona-Pandemie

Dafür wurden Vertreter von mehr als 20.000 der rund 90.000 Sportvereine in Deutschland befragt. „Je länger Sportvereine ihrem Zweck nicht nachkommen dürfen, desto schwächer wirken sie als stabilisierendes Element der Gesellschaft“, sagt der Studienleiter Professor Christoph Breuer. „Es geht sozialer Kitt verloren, der gerade in einer individualisierten Zuwanderungsgesellschaft von Bedeutung ist. Damit treffen die Folgen nicht nur die Vereinsmitglieder, sondern die gesamte Gesellschaft.“

„Viele kleinere Vereine reduzieren die Ausgaben drastisch und leben von ihren Rücklagen. Doch es geht nicht nur ums Geld. Wir fürchten, viel mehr zu verlieren“, sagt Alfons Hörmann. Andere Länder gingen andere Wege – was einmal mehr zeigt: nichts ist alternativlos. So wurde in den Niederlanden zwar der Amateursport verboten, doch für Jugendliche wurden, selbst für Teamsportarten, Ausnahmen erlassen. Die Schweizer Politiker verboten zwar alle Kontaktsportarten im Amateurbereich, doch waren Heranwachsende unter 16 Jahren davon ausgenommen. Das Kinder- und Jugend-Training blieb erlaubt. Auch der Sportunterricht, im Rahmen eines Wechselunterrichts-Konzeptes, wurde in einigen Kantonen beibehalten.

Menschen nehmen in der Corona-Zeit zu

„Mein Vorschlag wäre, dass sich hierzulande die Vereine oder Fitnessstudios engagieren: Übungsleiterinnen und Trainer können mit den Kindern und Jugendlichen einen Waldlauf, Kniebeugen oder Liegestütze machen, in kleinen Gruppen im Freien trainieren. Auf jeden Fall sollte man ein Signal setzen: Wir tun was für die Bewegung. Offensichtlich aber haben der Staat und das Bildungsministerium dies nicht auf dem Radar“, sagte etwa der Sportmediziner Kurt Mosetter gegenüber Zeit Online.

Eine große Studie des RKI zu den Gesundheitseffekten des ersten Lockdowns umfasste den Zeitraum vom April bis zum September 2020. Die Ergebnisse: Die 23.000 Befragten nahmen innerhalb eines Jahres durchschnittlich mehr als ein Kilogramm zu – ihr mittleres Gewicht stieg von 77,1 auf 78,2 Kilogramm. Der mittlere BMI stieg von 25,9 auf 26,4.

In einer Befragung der TU München von 1.000 Eltern von mindestens einem Kind bis zu 14 Jahren, die Mitte September und somit noch vor dem zweiten Lockdown durchgeführt wurde, wurde festgestellt, dass die höchsten relativen Gewichtszunahmen Jungen und Mädchen im Alter von zehn bis 14 Jahren betrafen. 57 Prozent der Kinder dieser Altersgruppe bewegten sich weniger als zuvor. Der Ernährungsmediziner Hans Hauner, der die Studie vorstellte, sagt: „Ernährung und Sozialkontakte hängen eng zusammen.“ Essen könne als Mittel zu einer „emotionalen Entlastung“ verwendet werden. Und: „Adipositas ist einer der schwersten Risikofaktoren für eine schwere Covid-19-Erkrankung.“

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Bewegung und Medien

Für die sogenannte Cospy-Studie befragten Forscher der UKE-Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie zwischen Dezember 2020 und Januar 2021 mehr als 1000 Kinder und Jugendliche und mehr als 1600 Eltern. Mehr als 80 Prozent der befragten Eltern und der Kinder im Alter zwischen sieben und 17 Jahren hatten bereits an der ersten Befragung im Juni 2020 teilgenommen.

Die Ergebnisse: Zehnmal mehr Kinder als vor der Pandemie und doppelt so viele wie bei der ersten Befragung trieben überhaupt keinen Sport mehr. Bis zu 40 Prozent der Befragten waren nicht mehr sportlich aktiv. Und: Fast jedes dritte Kind zeigt psychische Auffälligkeiten. Sorgen und Ängste sowie depressive Symptome nahmen auch im Vergleich zur ersten Befragung – bei der bereits mehr als 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen angaben, sich durch die Corona-Krise seelisch belastet zu fühlen – zu.

Auch die Lebensqualität verschlechterte sich weiter. Um 75 Prozent nahm die mit digitalen Spielen und sozialen Medien verbrachte Zeit während des ersten Lockdowns zu. Dies zeigte eine Untersuchung der DAK und des Deutschen Zentrums für Suchtfragen mit Kindern und Jugendlichen zwischen zehn und 17 Jahren. Im September 2019 lag die durchschnittliche Spieldauer werktags noch bei rund 79 Minuten – im April 2020 bei 139 Minuten. Für die Wochenendtage lag die Zuwachsrate bei fast 30 Prozent. Die vor Bildschirmen verbrachte Zeit stieg auf 193 Minuten.

Verhaltensmuster und Kosten

In der im Frühjahr 2020 erhobenen Motorik-Modul-Studie, Momo, des Karlsruher Instituts für Technologie wurde festgestellt, dass sich die befragten 1700 Kinder und Jugendlichen zwischen vier und 17 Jahren während des Lockdowns um 36 Minuten länger pro Tag bewegten – und eine Stunde mehr vor Bildschirmen verbrachten.

Doch die Autoren konstatieren auch: Das Spielen im Freien ersetzt kein echtes Training. „Die Erhebung zeigt, dass die Alltagsaktivität zugenommen hat, aber sie war eine Momentaufnahme in einem außergewöhnlich warmen Frühjahr, und Quantität ist nicht Qualität“, sagt Professor Alexander Woll. Die Schließung der Sportvereine bedeutete der Momo-Studie zufolge für den Alltag der Kinder: durchschnittlich 28,5 Minuten weniger Sport pro Tag.

Eine Studie des Universitätsklinikums Münster zeigte während des ersten Lockdowns im April eine Verfünffachung der Zahl der Kinder, die sich in diesem Zeitraum fast gar nicht mehr körperlich betätigten. Parallel dazu stieg der Medienkonsum signifikant an: Rund 45 Prozent der befragten Jugendlichen gaben an, mehr als acht Stunden pro Tag vor Bildschirmen zu verbringen. Vor der Pandemie galt dies für rund 20 Prozent der Heranwachsenden.

Bewegungslosigkeit bei Jugendlichen

1990 bewegten sich Zehnjährige durchschnittlich noch rund 25 Stunden pro Woche. Heute sind es maximal zehn Stunden. Die Autoren des vierten Deutschen Kinder- und Jugendsportberichts stellten 2020 fest, dass 80 Prozent der Jugendlichen zwischen sechs und 14 Jahren hierzulande die durch die WHO empfohlene tägliche Mindest-Bewegungszeit von 60 Minuten nicht erreichen.

Anders gesagt: Vier von fünf Jugendliche bewegen sich weniger als eine Stunde pro Tag**. Diese Zahlen stammen von vor der Corona-Krise. „Schon vor der Pandemie hatten wir eine Pandemie des Bewegungsmangels, und wir müssen aufpassen, dass sie sich nicht noch verstärkt,“ sagt Malte Claussen, der Leiter der Sportpsychiatrie der Uniklinik Zürich, in einem Deutschlandfunk-Interview.

Dieser Leitartikel erschien in RennRad 5/2021. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

 

*Um genau zu sein: Es findet sich in dem Dokument in dem Abschnitt „Public Transportation Vehicles“, ergo ohne jede Sport-Relation

**Einen umfassenden Leitartikel zu dem Thema Bewegungsmangel finden Sie in der RennRad-Ausgabe 3/2021

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