Solidarität, Höflichkeit, Ruf, Leitartikel
Solidarität und Umgangsformen: Der Ruf von Radfahrern

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Solidarität und Umgangsformen: Der Ruf von Radfahrern

Rennradfahrer und ihr Ruf: Erlebnisse, Studien und Einblicke. Von Freundlichkeit, Höflichkeit, Solidarität und Stereotypen.
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Auf dem Rad, am Fuß eines Hügels, unweit der Isar, südlich von München. Zwei Rennradfahrer überholen mich. Sie: dieselben Vereins-Trikots und Radhosen, Kurz/Kurz, rasierte eingeölte Beine, blankgeputzte Räder. Ich: unrasierte Beine, ungeputztes günstiges Rad, Armlinge, Knielinge, Windweste. Bergauf werden die beiden langsamer. Ich werde schneller, da dies während vieler Fahrten meinem „Plan“, oder besser formuliert meiner „Lust“, entspricht: Lockeres Grundlagentempo im Flachen, schneller bergauf.

Dies ist meine circa achte Fahrt, zumindest draußen, seit vielen Monaten – nach einer schweren Verletzung und einer langen Reha. Deshalb auch die unrasierten Beine. Die Wolle kommt erst ab, wenn eine gewisse Form zurück ist. Ich fahre für rund 200 Meter hinter den beiden, als mich einer von ihnen wahrnimmt und sofort schreit: „Hier nicht fahren!“

Mein Schockmoment, eine Mischung aus Überraschung und Perplex-Sein, dauert rund zwei Sekunden. Dann antworte ich mit einem leisen „Ok“, und überhole die beiden – für die finalen 200 Meter des Anstiegs. Als ich vorbei bin, höre ich hinter mir, in einem Tonfall, wie man ihn als erwachsener Mensch sonst nicht vernimmt, ein „so ist‘s richtig“. Wieder bin ich zu perplex, um zu antworten. Das letzte Mal, dass jemand mit mir wie mit einem Dreijährigen sprach, war, als ich drei war. Ende der Anekdote.

Verschwinden von Solidarität, Höflichkeit und Freundlichkeit

Einzelfälle und subjektive Erlebnisse und Wahrnehmungen haben keinerlei Aussagekraft – und schon gar keine journalistische Relevanz. Dass dieses Erlebnis hier angeführt wird, liegt zum einen darin begründet, dass dies ein Leitartikel und somit eine von dem generellen Objektivismus-Gebot des Journalismus „befreite“ Textform ist – und zum anderen taugt es als Beispiel für ein größeres Thema: Umgangsformen, Höflichkeit, Freundlichkeit, und ihr Verschwinden.

Es existieren – offenbar – etliche potenzielle „Trennlinien“ zwischen sportiven Radfahrern: schneller vs. langsamer, rasierte vs. unrasierte Beine*, Gravel- vs. Rennrad, neues und teures vs. älteres und günstigeres Material.

Viele verstehen ihr Hobby auch als Statement: Was – welche Marken – man trägt und fährt, zeigt, zu welcher „Klasse“ man gehört. Hier gibt es sicher regionale Unterschiede. Doch in und um München herum gilt offenbar das Motto: Zeige mir, welches Radtrikot du trägst und ich sage dir, wer du bist. Viele Menschen scheinen sich Fragen zu stellen wie: „Trage ich den ‚richtigen‘ Helm, die ‚richtige‘ Sonnenbrille, die ‚richtigen‘ Socken, die korrekte, gerade ‚angesagte‘ Sockenlänge? Ergo: die ‚richtigen‘ Marken?“

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Marken und Symbole

Menschen, die Radbekleidung bestimmter – teurer – Marken tragen, grüßen während des Fahrens andere Rennradfahrer tendenziell seltener. Dies ist einer der Befunde mehrerer, natürlich nicht sehr valider, „Beobachtungsstudien“, die meine Kollegen und ich mehrfach durchführten: Während mehrerer Radfahrten in unterschiedlichen Regionen zählten wir a) die Anzahl der rennradfahrenden Menschen, die uns zuerst, ergo „von sich aus“, grüßten – wobei bereits je ein kleines Kopfnicken und das Anheben eines einzelnen Fingers als Gruß gewertet wurde – und b) die Anzahl jener, die zurückgrüßten, nachdem wir sie zuerst gegrüßt hatten.

Die Ergebnisse: Von jenen Rennradfahrern, die gegrüßt wurden, grüßten rund 35 bis 40 Prozent zurück. Zuerst, also von sich aus, grüßten rund zehn Prozent der rennradfahrenden Probanden. Die ungeschriebene Höflichkeits-Regel, dass sich Radfahrer während des Radfahrens grüßen, ist für die meisten wohl längst aus der Mode gekommen. Die Solidarität und die Empathie unter Rennradfahrern erscheinen oftmals gering. Zwischen dieser und anderen „Radfahrergruppen“ scheinen jedoch noch größere Diskrepanzen zu bestehen.

Etliche anschauliche Beispiele kann man täglich auf den Radwegen dieses Landes erleben – oder in schriftlicher Form in den Sozialen Medien finden. So rief etwa ein Beitrag in einer Reise- und Fernradfahrer-Facebook-Gruppe über mehrere negative Erlebnisse mit Rennradfahrern krasse Reaktionen hervor – qualitativ und quantitativ. Die Zahl der Kommentare: rund 300. Viele davon negativ, manche ausgewogen und reflektiert, andere eine Ansammlung von Stereotypen und Klischees**. Bei einigen davon könnte man sich die Frage stellen: Wie ist eigentlich der Terminus „gruppenbezogener Hass“ definiert, und wann, wenn er sich gegen welche „Gruppen“ richtet, wird er toleriert?

Keine Solidarität unter Radfahrern

Diese fehlende Solidarität untereinander könnte auch einer der Gründe dafür sein, dass Radfahrer seit Jahrzehnten in der Politik keine Lobby haben***. Was sich unter anderem in einer noch immer sehr unterentwickelten Radinfrastruktur und – als eine Folge dessen – hohen Unfallzahlen und -Risiken ausdrückt. Eine geringere Solidarität und eine geringere gesellschaftliche Kohäsion bedeuten: weniger politisch-wirtschaftliches Gewicht, und somit weniger Macht und weniger Einfluss auf und potenziellen Widerstand gegen Entscheidungen „von oben“. Das Konzept ist tradiert und bewährt: Divide et impera. Teile und herrsche.

Warum verläuft diese Entwicklung so? Zum einen wohl, weil wir alle Menschen sind. Und es unter Menschen – und somit unter Rennrad- genauso wie unter E-Bike-, Auto-, Motorrad,- oder LKW-Fahrern, Joggern oder Nordic Walkern, Carnivoren oder Veganern – Idioten, Egomanen und Schlimmeres gibt.

Wer glaubt – hier werden weitere fast alltägliche subjektive Erfahrungen angeführt – weil er auf einem Rennrad sitzt, an einem sonnigen Samstag oder Sonntag auf einem engen, teils innerstädtischen, viel befahrenen Radweg Intervalle absolvieren oder auf einem Zeitfahrlenker „liegend“ weit über 40 km/h fahren zu müssen, dem fehlt – genauso wie Jenen, die zu zweit oder dritt nebeneinander mit zwölf km/h fahrend den Radweg blockieren – zum einen wohl Empathie und zum anderen Verstand. Auch auf solche asozialen Verhaltensweisen einiger ist der teils schlechte Ruf „der Rennradfahrer“ zurückzuführen.

Moderne Debattenkultur

Eine andere Ursache dafür könnte in der „modernen Debattenkultur“ beziehungsweise der Art und Weise, wie inzwischen viele öffentliche Diskurse geführt werden, liegen. Etliche anschauliche Beispiele dafür liefert die sich allsommerlich wiederholende Medienkampagne gegen „Wutradler“, „Radlrambos“, „Radchaoten“. Der Mechanismus ist in jedem medialen Sommerloch derselbe: Man nehme Einzelfälle oder einzelne, teils falsch interpretierte Statistiken****, füge Zitate von ein, zwei wütenden Menschen, oder auf dieser Wut-Klaviatur spielenden Politikern, bei und formuliere beziehungsweise frame das Ganze so, dass die Botschaft lautet: Die X – man füge in Gedanken willkürlich eine „Gruppenbezeichnung“ und am besten noch das dazu „passende“ pejorative Adjektiv ein – sind schlecht, böse, unsozial. Die Botschaft lautet somit, wie in so vielen Fällen: Wir gegen die. Gut gegen Böse. In solchen Fällen treffen Boulevardisierung, Infantilität, Ausgrenzung, Populismus, Recherche- und Denkfaulheit aufeinander, und bilden ein gesellschaftlich toxisches Amalgam.

Dies ist generell eine Message, die immer weitere Teile des öffentlichen Diskurses einnimmt: die „Guten“ gegen die „Schlechten“, eine Gruppe gegen die andere, oder eine gegen alle. Irgendjemand wird fast immer ausgegrenzt.

Ruf und Debatte

Eine Gruppe ist fast immer jene „der Täter“ beziehungsweise „schuld“. Für Medien, Blogger und Social-Media-Menschen könnte dieses Emotionalisieren und Boulevardisieren des Diskurses, dieses Ausbreiten der „Twitter-Bubble-Empörungslogik“, dieses Einteilen und Aufsplitten in „Gruppen“, neben der Selbstbestätigung und Arbeit an der eigenen Identität, auch mit Pragmatismus zu tun haben: Emotionen – gerade solche wie Wut, Leid, Schuld – und Konflikte bringen mehr Klicks, Reaktionen, Kommentare, Reichweite als „trockene“ Informationen. Und erfordern weniger Recherche. Sie sind demnach „billiger“ und mit weniger oder schlechter qualifizierten Mitarbeitern zu produzieren.

Wie viele Artikel, Berichte, Reportagen, Anmoderationen sind noch frei von „einem Dreh“, einer Wertung, einer Einteilung, einem Frame, einer Emotionalisierung, einer Konnotation? Wie muss dabei der Blick auf das eigene Publikum, auf die Leser, Hörer, Zuseher sein – und wie geht dieser Blick mit dem Konzept der Mündigkeit konform?

Eskalationsspirale des Diskurses

Auch diese „Medienlogik“ führt in eine Eskalationsspirale des Diskurses: Je „härter“ und „lauter“ die Wortwahl, je größer die „Wut“ und „Empörung“, desto größer ist wohl die „Wirkung“, beziehungsweise die potenzielle Aufmerksamkeit. Furor oder Angst ersetzen oftmals das Fachwissen, eine emotionale Wertung das Argument. In der Öffentlichkeit gibt es immer öfter nur schwarz oder weiß. Dabei ist die Wahrheit, die Realität, fast immer grau.

Statt die vielen potenziellen Trennlinien einer Gesellschaft zu schließen, wird dort der verbale Meißel angesetzt. Statt Solidarität, Empathie und Sach-Debatten zu fördern, wird gespalten.

Dieser Leitartikel erschien in der RennRad 8/2021. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.


*Dieses Kriterium betrifft in der Regel überwiegend den männlichen Teil der rennradfahrenden Menschen.

**Der Kommentar mit den meisten ‚Likes‘ lautete: „Ich finde den gemeinen Rennradamateur durchaus unterhaltsam: Den Bierbauch stets in viel zu engem Spandexkleid gehüllt radelt er mit einer Ernsthaftigkeit, als verstürbe soeben die Großmutter im Nachbardorf. Der starre Blick nach vorne gerichtet, als würde die Carbonsattelstütze quasi durch den Sattel hindurch zum Stock im Arsch. Und in der Pause, auf dem Weg zum Bierstand, wirkt der wackelige Gang auf den quietschbunten Radschuhen, die vorne etwas höher als hinten sind, ein bisschen wie Stilettos auf Pflastersteinen, nur rückwärts. Ja, so stolziert es dahin, das O-beinige Fabelwesen. Wer hat bei so einer ernsten Angelegenheit da etwa Zeit zum Klingeln?“

***Auch wenn der nationale Radverkehrsplan Investitionen von 30 Euro pro Person und Jahr bis 2030 vorsieht. Bis 2023 sind elf Euro pro Person und Jahr, insgesamt 1,46 Milliarden Euro, vorgesehen.

****Ein Beispiel für eine solche ‚Verdrehung der Zahlen‘ finden Sie in diesem Leitartikel.

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