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Radmarathon Tannheimer Tal: Vorbereitung und Rennen

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Radmarathon Tannheimer Tal: Vorbereitung und Rennen

215 Kilometer und 3500 Höhenmeter: Riedbergpass, Hochtannbergpass und Gaichtpass – das ist der Radmarathon Tannheimer Tal. Der Rennbericht und die Vorbereitung.
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15 Prozent Steigung. Ein paar Fahrer um mich herum gehen aus dem Sattel und attackieren. Ich fühle mich gut – und fahre mit. 16, 17, 18 Prozent – es wird immer steiler. Immer mehr Fahrer fallen zurück. Der Anstieg vom Örtchen Ettensberg hinauf in das Bergdorf Gunzesried beinhaltet gerade einmal 150 Höhenmeter. Doch das Tempo ist extrem hoch. Kurz vor Gunzesried drehe ich mich um, blicke zurück und sehe: Der Abstand nach hinten ist groß.

Meine Gruppe besteht aus insgesamt neun Fahrern, darunter unter anderem der Vorjahressieger Jonas Hosp, der Fünfte der Gran-Fondo-WM Simon Betz und Johannes Rechenauer, ein Profi aus dem österreichischen Continental-Team Hrinkow Advarics. Dies ist eine erste Vorentscheidung. Hier, schon nach knapp 50 Kilometern, setzt sich eine Ausreißergruppe mit den Favoriten auf den Tagessieg ab. Und ich bin dabei.

Regen und Müdigkeit

1,5 Stunden zuvor – 5:45 Uhr: Ich stehe gemeinsam mit mehr als 1500 anderen Teilnehmern im Startblock. Im strömenden Regen. Viele Fahrer um mich herum tragen Regenjacken und Überschuhe. Ich habe mich dagegen entschieden und nur eine Weste und Armlinge an.

Schon jetzt vor dem Start bin ich komplett durchnässt – und müde. Die Nacht war kurz. Um 4:30 Uhr habe ich gefrühstückt. Trotz des schlechten Wetters ist die Atmosphäre im Startblock überraschend gut. Sechs Uhr. Der Startschuss. Die ersten Kilometer des Rennens verlaufen entspannt. Das Tempo ist recht gemäßigt. In den nassen Abfahrten geht zum Glück niemand ein unnötiges Risiko ein. Das Tempo wäre ideal, um sich warmzufahren. Doch dafür ist es viel zu kalt und nass. Ich friere immer mehr und fange an zu zittern. Negative Gedanken drängen in meinen Kopf: „Was machst du hier überhaupt? Du holst dir eine Unterkühlung. Hör lieber auf.“ Nach zwei, drei Sekunden verdränge ich sie.

Am Anstieg hinauf nach Gunzesried ändert sich alles: Mehrere Fahrer attackieren. Ich gehe mit. Nach und nach wird mir wärmer und ich vergesse das Grau um mich herum. Von Gunzesried aus führt die Strecke wellig weiter. Das Tempo ist immer noch extrem hoch. Über jeden kleinen Hügel hinweg wird beschleunigt. Mir ist klar: Lange halte ich das nicht mehr durch. Der Abstand nach hinten zu der ersten Verfolgergruppe wird immer größer. Vor uns liegt die vermutlich größte Herausforderung des Tages, der Riedbergpass.

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Beim Radmarathon Tannheimer Tal geht es über den Riedbergpass, den Hochtannbergpass und den Gaichtpass

Riedberg- und Hochtannbergpass

Mit einer Höhe von 1420 Metern ist sie Deutschlands höchstgelegene Passstraße – und mit bis zu 16 Prozent Steigung auch eine der steilsten. Die Daten von Obermaiselstein aus: sechs Kilometer, 573 Höhenmeter, 9,6 Prozent Durchschnittssteigung. Ich kenne fast jeden Meter Asphalt der Passstraße – so oft bin ich hier schon gefahren. Allerdings war ich noch nie so erschöpft, bevor der Anstieg überhaupt beginnt. Doch überraschenderweise finde ich schnell einen guten Rhythmus. Je länger der Anstieg dauert, umso besser fühle ich mich. Meine Mitfahrer, die ich auf den vergangenen Kilometern als deutlich stärker als mich selbst eingeschätzt habe, wirken plötzlich genauso erschöpft wie ich – mindestens.

Fast den gesamten Riedbergpass fahre ich in unserer Gruppe vorne. Meine durchschnittliche Wattzahl über 26:27 Minuten: 307 – rund 4,6 Watt pro Kilogramm Körpergewicht. Als der Kontinentalfahrer Johannes Rechenauer angreift, reagiert niemand. Die Distanz bis zum Ziel ist noch groß und die Strecke führt unter anderem noch durch das Lechtal. Dass sich ein Fahrer bereits hier absetzen und seinen Vorsprung bis ins Ziel verteidigen kann, halte ich für kaum möglich.

Zu acht erreichen wir die Passhöhe. Hinter uns ist niemand zu sehen. In der Abfahrt fahren wir alle eher defensiv.

Der nächste lange Anstieg, der vor uns liegt, ist der Hochtannbergpass. Dessen Daten: 13 Kilometer und 906 Höhenmeter. Die durchschnittliche Steigung: sieben Prozent. Doch vorher müssen wir noch durch den Bregenzerwald. Wir wechseln uns gleichmäßig mit der Führungsarbeit ab. Doch: Nach einer Weile muss ich anhalten und die Gruppe fahren lassen. Ich halte es nicht mehr aus. Ein natürliches Bedürfnis. Zum Glück hat ein anderer Fahrer, Thomas Hölzler – im vergangenen Jahr Gesamtvierter – dasselbe Problem. Als wir fertig sind und weiterfahren, sehen wir die anderen Fahrer gerade in der Ferne davonziehen. Unser Rückstand: geschätzte zwei Kilometer. Wir brauchen, gefühlt, eine Ewigkeit, bis wir sie endlich wieder einholen.

Als wir kurz nach dem Ort Au wieder aufschließen, hat der Anstieg auf den Hochtannbergpass begonnen. Wir haben keine Chance, uns zu erholen. Denn: Schon im unteren Teil des Anstiegs wird attackiert. Unsere Gruppe fällt auseinander. Drei Fahrer setzen sich ab. Ich merke sofort, dass ich ihr Tempo nicht mitgehen kann. Ich reduziere mein Tempo etwas und versuche, meinen eigenen Rhythmus zu fahren und möglichst konstant weiter 300 Watt zu leisten, rund 40 Watt weniger als meine Schwellenleistung.

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Training und Laktat

Aus meinen Trainingseinheiten der vergangenen Wochen weiß ich, dass ich in diesem sogenannten „Sweetspot-Bereich“ sehr lange fahren kann. Die „Sweetspot“-Intensität befindet sich bei 85 bis 95 Prozent der Schwellenleistung beziehungsweise bei 75 bis 85 Prozent der maximalen Herzfrequenz.

Während mein Trainingsplan im Winter viele kurze hochintensive Trainingseinheiten beinhaltete, mit denen ich meine maximale Sauerstoffaufnahme, VO2max, steigern konnte, absolvierte ich ab dem Frühjahr verstärkt lange Intervalle im „Sweetspot-Bereich“, knapp unterhalb meiner Schwellenleistung. Meist dauerten diese Belastungen acht bis 20 Minuten und umfassten vier Wiederholungen. Kombiniert wurden diese Intervalle oft mit einer niedrigen Trittfrequenz von 50 bis 60 Umdrehungen pro Minute.

Ziel des K3-Trainings

Das Ziel dieses sogenannten K3-Trainings: eine Reduzierung der Laktatbildungsrate, VLamax und eine Ökonomisierung des Fettstoffwechsels. Durch den hohen Krafteinsatz und die langsame Bewegungsausführung wird die Muskulatur besonders effizient trainiert.

Grundsätzlich gilt: Je niedriger die Laktatbildungsrate, umso weniger Energie- beziehungsweise Kohlenhydrat-Reserven werden verbraucht. Die Werte der VLamax liegen auf einer Range zwischen 0,2 und 1,0 Millimol pro Liter pro Sekunde. An Anstiegen wie dem Riedberg- oder dem Hochtannbergpass beziehungsweise generell bei langen Belastungen kann über eine niedrige Laktatbildungsrate eine hohe Leistung deutlich länger aufrechterhalten werden. Deshalb ist es für viele Ausdauerathleten, etwa Radmarathon-Spezialisten, meist ein Trainingsziel, die Laktatbildungsrate zu senken.

Doch auch ein Großteil der Leistungsunterschiede am Berg zwischen Amateuren und Profis kann durch Unterschiede in der maximalen Laktatbildungsrate erklärt werden. Die gute Nachricht dazu lautet: Sie ist sehr gut trainierbar. Fakt ist: Für 97 Prozent des Leistungsunterschieds ist die Kombination von VO2max und VLamax verantwortlich.

In meinem Fall führte das Training dazu, dass sich meine VO2max von 71,5 Milliliter Sauerstoff pro Kilogramm Körpergewicht pro Minute im November auf 74,5 im März deutlich erhöhte. Die VLamax dagegen sank von 0,47 auf 0,43. Gemessen wurden diese beiden Leistungsparameter jeweils im Rahmen einer Leistungsdiagnostik. Von März bis Ende Juni wurde der Trainingsschwerpunkt mit langen K3-Intervallen noch einmal verstärkt auf eine Verringerung der VLamax gelegt, sodass diese vermutlich weiter sank. Wie sich eine niedrige Laktatbildungsrate bergauf auswirkt, bemerke ich am Hochtannbergpass deutlich.

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Finale und Erschöpfung

Bis zur Passhöhe auf 1675 Metern Höhe kann ich mich immer weiter von den anderen Fahrern absetzen. Auch den einst Führenden, Johannes Rechenauer, hole ich ein. Oben bin ich alleine. Vor und hinter mir sehe ich niemanden. Ich habe keine Helfer, an der Strecke platziert die mir Verpflegung reichen können. Meine Flaschen sind inzwischen leer. An der Labestation in Warth wenige Kilometer nach der Passhöhe muss ich anhalten. Als ich weiterfahre, rollt Thomas Hölzler heran. Vor uns liegen noch rund 70 Kilometer, 60 davon flach oder bergab. Hinter uns sehen wir bereits die Verfolger.

Einen kurzen Moment lang überlegen wir, ob wir auf sie warten und mit ihnen gemeinsam durch das Lechtal fahren sollen. Doch dann entscheiden wir uns dagegen. Beim Radmarathon Tannheimer Tal werden bei der Siegerehrung auch der Fünft- und der Viertplatzierte ausgezeichnet. Wir haben ein großes Ziel – und arbeiten extrem gut zusammen. Unser Vorsprung nach hinten wird immer größer.

In Weißenbach am Lech beginnt rund 15 Kilometer vor dem Ziel der finale Anstieg: der Gaichtpass. Mit gerade einmal 4,3 Kilometern, 211 Höhenmetern und einer durchschnittlichen Steigung von 4,9 Prozent ist dies mehr ein Hügel als ein Berg. Normalerweise. Für uns fühlt er sich heute wie der Mortirolo an. Immer wieder blicken wir uns um. Doch unser Vorsprung ist groß genug. Nach sechs Stunden und fünf Minuten rollen wir gemeinsam über die Ziellinie. Ich auf Platz vier, Thomas als Fünfter. Unsere Durchschnittsgeschwindigkeit: 34,4 km/h – bei einem Radmarathon in den Bergen – und fast sechs Stunden Fahren im Dauerregen.

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Der Radmarathon und die Region Tannheimer Tal

Der Radmarathon Tannheimer Tal fand in diesem Jahr am 2. Juli zum 13. Mal statt. Der Veranstalter ist der Tourismusverband Tannheimer Tal. Durch seine Streckenführung und mehrere lange Flachstücke ist der Radmarathon verhältnismäßig schnell, gerade wenn man bedenkt, dass man bereits in den Alpen unterwegs ist und mit dem Riedberg- und dem Hochtannbergpass zwei anspruchsvolle Pässe überwinden muss. Deshalb können viele verschiedene Fahrertypen – nicht nur reine Kletterer – um eine Top-Platzierung mitfahren.

Die Topografie der Strecke bietet alles: Die Route führt vom Tannheimer Tal zunächst wellig ins Allgäu, dort steil den Riedbergpass hinauf und anschließend wieder wellig durch den Bregenzerwald zum Hochtannbergpass, dem längsten Anstieg des Radmarathons. Nach der Abfahrt verläuft die Strecke lange leicht bergab durch das Lechtal und schließlich über den Gaichtpass und vorbei am Haldensee zurück nach Tannheim ins Ziel.

Streckenrekord

Der Streckenrekord wurde 2022 von Jonas Hosp aufgestellt. Er absolvierte die 2015 Kilometer lange Strecke mit rund 3500 Höhenmetern in 5:48:40 Stunden – und somit mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 36,82 km/h. Julia Schallau, die schnellste Frau, absolvierte den Radmarathon in 6:20:12 Stunden. Beide gewannen auch die diesjährige Auflage.

Neben der langen Distanz werden auch drei kürzere RTF-Strecken mit 129, 94 und 56 Kilometern angeboten. Das Tannheimer Tal wurde vom Reiseschriftsteller Ludwig Steub als „das schönste Hochtal Europas“ betitelt. Von Süddeutschland aus ist die Entfernung gering. Von München aus beträgt die Distanz nur rund 150 Kilometer, von Stuttgart aus sind es etwa 220.

Landschaftliche Highlights

Das Tal ist umgeben von den Allgäuer Alpen und der Tannheimer Gruppe. Die Region bietet in Richtung Norden die Möglichkeit, variantenreich flacher zu fahren, in Richtung Süden, Westen und Osten dagegen mehrere Pass-Optionen, viele landschaftliche Highlights wie den Forggensee, das Lechtal oder das Namlostal sowie mehrere auf Radsportler spezialisierte Hotels und Pensionen.

Neben dem Radmarathon bietet der Tourismusverband zudem regelmäßig Rennradwochen im Tannheimer Tal an. Hier begleitet der Tour-de-France-Etappensieger Marcel Wüst die Rennradfahrer. Weitere Informationen zum Radmarathon, zu Rennrad- und Gravel-Touren und zur Region finden Sie hier.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 9/2023Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.


Training: VO2max & VLamax

Die maximale Sauerstoffaufnahme, VO2max, und die maximale Laktatbildungsrate, VLamax, sind die beiden wichtigsten Leistungsparameter für Radsportler. Sie erklären 97 Prozent der physiologischen Leistungsunterschiede. Die Laktatbildungsrate wird in Millimol pro Liter pro Sekunde und mittels eines Testverfahrens im Rahmen einer Leistungsdiagnostik gemessen. Bei reinen Langstrecken-Spezialisten sollte die Laktatbildungsrate möglichst niedrig, bei Sprintern dagegen hoch sein. Bei einer niedrigen VLamax werden weniger Energie- beziehungsweise Kohlenhydrat-Reserven verbraucht.

Für die VO2max gilt: Je höher diese ist – gemessen in Milliliter Sauerstoff pro Kilogramm Körpergewicht pro Minute – desto besser. Denn bei einer hohen VO2max kann deutlich mehr sauerstoffreiches Blut in die Muskelzellen transportiert und von diesen verwertet werden. Die maximale Sauerstoffaufnahme ist zu rund 80 Prozent durch die eigenen Gene determiniert und daher eher schlecht trainierbar.

Allerdings können nur rund 20 Prozent der Leistungsunterschiede zwischen Amateuren und Profis durch die VO2max erklärt werden. Rund 75 Prozent können stattdessen auf die VLamax zurückgeführt werden, die sich sehr gut trainieren lässt – in beide Richtungen. Eine hohe VO2max gepaart mit einer niedrigen VLamax ergibt eine hohe individuelle anaerobe Schwellenleistung, IANS.

Die VO2max und die VLamax sollten idealerweise getrennt voneinander trainiert werden. In manchen Phasen des Trainingsjahres sollte es um den Ausbau der VO2max gehen – in anderen um die Anpassung der VLamax. Der Grund dafür: Die VO2max erhöht man mittels intensiver Intervalle. Diese bringen jedoch den Nachteil mit sich, die VLamax im besten Fall beizubehalten, jedoch nicht zu senken. Konzentriert man sich dagegen auf die VLamax, ist es wiederum schwierig, die VO2max nicht zu verringern.

VO2max, Training, Tipps

Trainingsplan zur Erhöhung des VO2max

VLamax, Training, Tipps

Trainingsplan zur Senkung des VLamax


Power-Daten

Name Frederik Böna
Größe 1,85 Meter
Gewicht 66 kg
Fahrzeit 6:12:53 Stunden
Ø-Leistung 243 Watt
Normalisierte Leistung 269 Watt – 4,0 Watt / kg
Platzierung 4. Rang

Riedbergpass Leistungswerte

Distanz 6,0 km
Anstieg 573 Höhenmeter
Fahrzeit 26:27 Minuten
Ø-Geschwindigkeit 13,9 km/h
Ø-Leistung 307 Watt
Ø-Herzfrequenz 159 Schläge pro Minute
Schlagworte
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