Sicherheit, Stürze, Unfälle, Tour de France 2021
Sicherheit im Radsport: Wo liegen die Gründe für Risiken und Unfälle?

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Sicherheit im Radsport: Wo liegen die Gründe für Risiken und Unfälle?

Die Tour de France 2021 war geprägt von Stürzen. Zahlen, Gedanken, Analysen zu den Themenfeldern Sicherheit, Risiken, Unfällen und Gegen-Maßnahmen.
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„Ich bin weit mehr als 1000 Radrennen in meiner Karriere gefahren – und es gab wohl nur ein einziges, bei dem kein Sturz passierte.“ Philippe Gilbert, Team Lotto-S.

Die Tour de France 2021 war eine besondere, eine, die geprägt war von einem dominierenden „Überfahrer“ – und von Stürzen und ihren Folgen. Die Zahl der Stürze während der ersten Etappe: vier. Während der zweiten: einer. Während der dritten: fünf. Während der gesamten drei Wochen: mindestens 20. Die Zahl der Radprofis, die sich bei Stürzen mindestens einen Knochen brachen: sechs. Zu den Topfahrern, die diese Tour de France vorzeitig beenden mussten, zählten unter anderem: Primož Roglič, Peter Sagan, Caleb Ewan, Simon Yates, Steven Kruijswijk, Jack Haig, Tony Martin.

Vor dem Start der vierten Etappe in Redon stiegen alle Fahrer – für rund eine Minute – von ihren Rädern, um gegen gefährliche Renn-Bedingungen zu protestieren. Schon vor der dritten Etappe hatten viele Profis eine Ausweitung der neutralen Zielzone ohne Zeitmessung auf fünf Kilometer gefordert. Vergeblich. „Wir hatten die Strecke analysiert und festgestellt, dass das Finale extrem gefährlich ist“, kommentierte Philippe Gilbert, der Ex-Weltmeister aus dem Team Lotto-Soudal, diese Aktion. Die Verantwortlichen des Rennveranstalters ASO hätten den Vorschlag der Fahrer unterstützt. „Aber die UCI-Kommissare akzeptierten unseren Antrag nicht. Er wurde am Morgen vor dem Etappenstart abgewiesen.“

Wird der Radsport gefährlicher?

Wird die Tour de France – werden Radrennen – immer gefährlicher? Nein.

So beantwortete zumindest Christian Prudhomme, der Tour-Direktor, bereits 2016 diese Frage: „Die Tour ist nicht gefährlicher als in der Vergangenheit.“ Prudhomme sieht als Grund für die Stürze eher die Fahrweise im Peloton. „Alle Fahrer von einem Team versammeln sich um ihren Kapitän und kämpfen darum, an der Spitze des Felds zu sein. Aus der Helikopterperspektive sieht man, dass oft vier oder fünf Teams die ersten 30 Plätze besetzen. Die Fahrer dahinter sind oft in einem Chaos.“

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Ursachen und Wirkung

Der Routenplaner der Tour, Thierry Gouvenou, brachte in einem Interview mit der ‚L’Equipe‘ eine weitere Problematik ins Spiel: „Es gibt längst keine mittelgroßen Städte mehr ohne Verkehrsinseln, einen Kreisverkehr oder eine Straßenverengung. Vor zehn Jahren gab es bei einer Tour insgesamt 1100 Gefahrenpunkte. In diesem Jahr sind es 2300. Wenn die Anforderungen zu groß werden, gibt es irgendwann gar keine Zielankünfte mehr.”

Fakt ist: Die Bedeutung der Tour de France ist enorm – was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Nervosität im Fahrerfeld hoch ist. Nimmt die mentale Anspannung zu, so betrifft dies in der Regel auch die Aggressivität und die Risikobereitschaft. „Die Tour steht über allem. Das Interesse an der Tour macht 70 bis 80 Prozent des gesamten Radsports aus“, sagte Tony Martin in einem RennRad-Interview. „Die Tour ist das Wichtigste für uns. Daraus machen wir keinen Hehl. Wir generieren dort 70 Prozent unseres jährlichen Werbewertes. Die Tour ist das höchste Gut“, sagte Ralph Denk, der Bora-Hansgrohe-Teamchef in 2020.

Viel spricht dafür, dass sich das Wissen um diese Bedeutung – für die Sponsoren, die Team-Leiter, die Fahrer, für die eigene berufliche Zukunft, für den nächsten Vertrag – auf die Psyche der Fahrer auswirkt. Und somit wohl auch: auf ihre Fahrweise. Doch auch der Giro d’Italia dieses Jahres war geprägt von Stürzen. Zu den prominentesten Sturzopfern zählten etwa: Mikel Landa, Emanuel Buchmann und Remco Evenepoel. Zehn Fahrer mussten das Rennen nach schweren Massenstürzen beenden –insgesamt erreichten 41 Fahrer nicht das Ziel in Mailand. Eine ähnliche Zahl wie bei der Tour de France dieses Jahres – dort gab es die meisten Aufgaben seit 2012.

Diskussion um Sicherheit im Radsport

Die größte Diskussion um das Thema „Sicherheit im Profiradsport“ kam im Vorjahr auf – nach einem Hochgeschwindigkeits-Sturz bei mehr als 80 km/h im Finale der ersten Etappe der Polen-Rundfahrt. Der junge niederländische Top-Sprinter Fabio Jakobsen zog sich dabei schwere Kopfverletzungen zu. Er lag zwei Tage lang in einem künstlichen Koma. Bei diesem Sturz wurden gleich drei Problemfelder deutlich: zum einen die teils aggressive, überharte Fahrweise, gerade in Sprints, zum anderen das Design beziehungsweise die Crash-Eigenschaften der in den Zielbereichen eingesetzten Barrieren und drittens die teils gefährlichen Streckenführungen, gerade in den Renn-Finals. Die eine Folge dessen war, dass der Sturz-Verursacher, Dylan Groenewegen, für neun Monate gesperrt wurde – und die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen ihn aufnahm.

Die andere: Der Weltradsportverband UCI beschloss Neuerungen hinsichtlich mehrerer „Sicherheitsprotokolle“ und -Anforderungen. Darin enthalten: Ein neues Vorgehens-Protokoll bei dem Verdacht auf Gehirnerschütterungen, das auf den Radsport zugeschnitten ist. Zudem wurde die Position eines „Safety Managers“ innerhalb der UCI geschaffen. Zu den weiteren beschlossenen Maßnahmen zählt auch ein neuer Standard für Barrieren, die zur Streckenabsicherung eingesetzt werden. 2017 stürzte etwa Mark Cavendish nach einem ähnlichen Unfallhergang wie bei Fabio Jakobsens Crash in die Absperrgitter. Doch diese hielten Stand, sodass sich Cavendish „nur“ das Schulterblatt brach.

Fabio Jakobsens Horrorsturz geschah an einem besonderen, traurigen, aber in weiten Kreisen unbeachteten, vergessenen Tag: Bjorg Lambrechts erstem Todestag. Der Belgier prallte am 5. August 2019 während der 3. Etappe der Polen-Rundfahrt nach einem Sturz bei Regen gegen einen Betonpfeiler, und starb später in einem Krankenhaus. Er wurde nur 22 Jahre alt.

Sicherheit im Alltag

Der deutsche Profi Simon Geschke schrieb nach Jakobsens Unfall auf Twitter: „Jedes Jahr der gleiche dumme Bergab-Sprint bei der Polen-Rundfahrt. Jedes Jahr frage ich mich, warum die Organisatoren das für eine gute Idee halten. Massensprints sind an sich gefährlich genug, man braucht keinen Bergab-Sprint mit 80 km/h.“ In einem Interview schlug Geschke später vor, dass Abgesandte der CPA, der „Fahrer-Gewerkschaft“, Streckenpassagen wie jene Bergab-Zielankunft in Polen „vorher anschauen. Diese Dinge stehen ja bereits Wochen vorher fest. Die CPA könnte dann grünes Licht geben, oder einwerfen, dass es so nicht geht, dass es einfach zu gefährlich ist. Wenn man am Tag zuvor die Strecke erst sieht, dann ist es zu spät, um etwas zu ändern. Solche Finals sehen für die Fans am Bildschirm auch nicht spannender aus als ein normaler Sprint. Warum es dann immer noch schneller und noch steiler bergab gehen soll, verstehe ich überhaupt nicht.“

Zu dem – laut der UCI aus Sicherheitsgründen – am 1. April in Kraft getretenen Verbot der sogenannten „Supertuck“-Haltung auf dem Rad, ergo dem Sitzen auf dem Oberrohr während Abfahrten, schrieb Geschke nach der sturz-geprägten 3. Etappe der Tour de France: „Komisch, dass der Supertuck und die Unterarm-Position ‚aus Sicherheitsgründen‘ verboten wurden, während gleichzeitig ein Etappenfinale wie heute bei der Tour möglich ist.“

Werden beim Thema Sicherheit richtige Prioritäten gesetzt?

Die eine Frage ist, ob bei dem Thema Fahrer-Sicherheit die richtigen Prioritäten gesetzt werden. Die andere lautet: Gilt bei den Streckenführungen nicht teils das Motto ‚Spektakel vor Sicherheit‘? Wie kann man die Sicherheit erhöhen, ohne den Charakter des Sports zu verändern? Mit „entschärften“, weniger riskanten Ankünften etwa. Mit einer klareren Markierung, Sicherung – etwa durch weiträumige Polster-Aufbauten – und der mehrfachen Ankündigung von potenziellen Risikostellen. Mit teils kevlar-verstärkten Radhosen, wie es manche Experten vorschlagen? Und: wie noch?

Das Alltags-Radfahren ist eine andere Welt als der Profi-Radsport. Dennoch ist auch hier das Sicherheitsthema ein virulentes. So wurden 2020 bundesweit 426 Radfahrer im Straßenverkehr getötet. Eine Steigerung um 16,8 Prozent im Vergleich zu 2010. Mehr als 90.000 Radfahrer wurden verletzt. Einen Leitartikel mit etlichen Zahlen und Statistiken dazu finden Sie hier.

Safety-in-Numbers-Effekt

Eine Studie der Allianz zeigt, dass sich Radfahrer bei mehr als 40 Prozent der Kollisionen mit einem Auto eine schwere Kopf- oder Hirnverletzung zuziehen. Forscher aus Aalborg, Dänemark, untersuchten mittels einer Studie den Einfluss der Farbe der Kleidung auf die Unfallrate. Eine Untersuchungsgruppe trug normale Straßenkleidung, die andere gelbe Warnwesten. Der Untersuchungszeitraum betrug mehrere Monate.

Das Ergebnis: Die Probanden, die Warnwesten trugen, waren in 47 Prozent weniger Unfälle – und 55 Prozent weniger Unfälle mit motorisierten Fahrzeugen – involviert. Die Ergebnisse einer anderen großen dänischen Studie machen Hoffnung: Demnach ist die Zahl der Radfahrer in Dänemark in den vergangenen zwanzig Jahren um zehn Prozent gestiegen. Gleichzeitig ging die Zahl der Unfall-Verletzungen zurück: Sie liegt nun um 55 Prozent unter dem Niveau von 1998. Noch deutlicher wird dies in der Hauptstadt Kopenhagen: Auf 30 Prozent mehr Radverkehr kommen 33 Prozent weniger Verletzungen.

Es gibt demnach einen ‚Safety-in-Numbers-Effekt‘: Je mehr Menschen Radfahren, desto sicherer wird es – zumindest, wenn die dafür nötige Infrastruktur vorhanden ist. Diese Studie zeigt zudem: Wer regelmäßig Rad fährt, hat eine 21 Mal höhere Wahrscheinlichkeit für eine bessere Gesundheit als dafür, auf dem Rad jemals eine Verletzung zu erleiden.

Dieser Leitartikel erschien in der RennRad 9/2021Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

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