Vuelta a España 2023, Jumbo-Visma, Rückblick
Vuelta a España 2023: Rückblick und Einblicke

Triple-Triumph

Vuelta a España 2023: Rückblick und Einblicke

Dominatoren: Die Fahrer eines Teams gewannen alle drei Grand Tours – und belegten bei der Vuelta alle drei Podestplätze. Einblicke.
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Der Col du Tourmalet ist eine Legende – in diesem Fal war er der Ort der Kulmination einer Machtdemonstration. Der finale Anstieg: 18,8 Kilometer mit durchschnittlich 7,4 Prozent Steigung. Hier endete die Königsetappe der Vuelta a España 2023 – und hier entschied sich die Gesamtwertung. Die Strecke des Tages: Col d’Aubisque, Col de Spandelles und Col du Tourmalet. Ein Team dominierte das Rennen wie auch die gesamte Rundfahrt: Jumbo-Visma.

Schon am ersten dieser drei Pässe erlebte einer der Top-Favoriten auf den Gesamtsieg, der Vorjahressieger Remco Evenepoel, einen „Einbruch“. Am Ende verlor er an diesem Tag rund 27 Minuten auf seine Top-Konkurrenten. Doch: Evenepoel kam zurück. Schon am Tag danach. Er gewann die Etappe aus einer Ausreißergruppe heraus. „Ich hatte während der Etappe zum Tourmalet einen schlechten Tag und womöglich die schlechtesten Beine meiner ganzen Karriere“, sagte er danach. „Es bleibt nur, diesen Tag so schnell wie möglich zu vergessen. Heute hat es wieder großen Spaß gemacht, so zu fahren.“

Auch die Etappe nach La Cruz de Linares gewann er aus einer Ausreißergruppe heraus – mit enormen 4:44 Minuten Vorsprung vor dem Zweitplatzierten. Zudem siegte er am Ende in der Bergwertung – mit einem schier unglaublichen Vorsprung von mehr als 80 Punkten.

Watt-Werte und Taktiken

Schon am Aubisque mit seinen 18 Kilometern und 1201 Höhenmetern war das Tempo an jenem vorentscheidenden Tag extrem hoch. Die Gruppe der Favoriten leistete hier über 44:07 Minuten um 5,84 Watt pro Kilogramm Körpergewicht. Den zweiten Pass des Tages, den Col de Spandelles, absolvierten die Fahrer der Gruppe um Primož Roglič in 31:45 Minuten – und mit um 5,79 Watt pro Kilogramm. Es folgte das Finale: Acht Kilometer vor dem Etappenziel am Tourmalet attackierte Jonas Vingegaard zum ersten Mal – kurz danach zum zweiten Mal. Und diesmal kam er weg. Hinten attackierten Juan Ayuso und Enric Mas sich gegenseitig – während Vingegaards Teamkollegen Roglič und Sepp Kuss, der Mann im Roten Trikot, von ihrem Windschatten profitierten und das Renngeschehen kontrollierten. Am Ende ist es der US-Amerikaner Kuss, der noch einmal attackiert und weitere Zeit auf seine Konkurrenten gutmacht.

Das Etappenergebnis: Vingegaard, Kuss, Roglič. Es ist ein Symbol der Überlegenheit des Teams Jumbo-Visma. Auf den Plätzen vier und fünf: die Zukunft des Radsports – die beiden erst 20-jährigen Top-Talente Juan Ayuso und Cian Uijtdebroeks.

Spätestens nach diesem Tag bestimmen zwei Themen die öffentlichen Diskussionen über die Vuelta: 1. die Dominanz der Jumbo-Visma-Fahrer und 2. die Rollenverteilung innerhalb des Teams. Der Tenor in den Medien und auf Social Media war eindeutig: Diesmal solle keiner der „großen zwei“ die Rundfahrt gewinnen – also weder Vingegaard noch Roglič –, sondern der „Helfer“. Sepp Kuss ist seit Jahren einer der stärksten Bergfahrer überhaupt – und einer der Top-Helfer der WorldTour. Die Vuelta war bereits die dritte Grand Tour dieser Saison für ihn.

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Vuelta 2023: Drama und Happy End

Bei den anderen beiden, dem Giro d’Italia und der Tour de France, arbeitete er für seine Kapitäne – und trug je einen wichtigen Teil zu Rogličs beziehungsweise Vingegaards Gesamtsieg bei. Nun war „Payback Time“. Oder? Die große Frage war: Würde einer der Kapitäne den Helfer aus dem Trikot fahren – oder würde die Team-Taktik zugunsten des US-Amerikaners geändert? Während der 16. Etappe ist es wieder Jonas Vingegaard, der attackiert. Und niemand kann ihm folgen. Er gewinnt – und verringert den Vorsprung seines Teamkollegen von fast eineinhalb Minuten auf nur noch 43 Sekunden.

Der nächste Tag, die nächste Königsetappe. Es ist Sepp Kuss’ Geburtstag. Er wird 29 Jahre alt. Doch fast wäre der Tag zu einem der Trauer geworden. Denn: Dies ist der Tag des Alto de Angliru. Der Anstieg gilt als einer der schwierigsten überhaupt. Seine Daten: 13 Kilometer, 1266 Höhenmeter. Diesmal ist es ein anderer Teamkollege, der attackiert: Primož Roglič. Er gewinnt die Etappe vor Vingegaard und Kuss, der aber 19 Sekunden verliert. Ihm bleiben nun nur noch acht Sekunden Vorsprung in der Gesamtwertung.

Einschätzung von Jens Voigt

„Das ist Sport, kein Märchen mit Happy End, und klar, soll der Beste gewinnen“, sagte dazu der Ex-Profi Jens Voigt, der die Vuelta bei Eurosport kommentierte. „Aber: Roglič hat den Giro d’Italia gewonnen, weil er in Kuss den loyalsten Helfer hatte. Auch Vingegaard hat dieses Jahr die Tour de France unter anderem nur deshalb gewonnen, weil er in Kuss den besten Helfer hatte. Und jetzt wäre der perfekte Moment, etwas Loyalität zurückzugeben. Machen die Kapitäne das nicht, ist das menschlich nicht zu vertreten.“

Voigt riet dem US-Amerikaner in dieser Situation sogar dazu, über eine Vertragsauflösung nachzudenken. Auch in den sozialen Medien „hagelte“ es Kritik. Jumbo-Visma-Sportdirektor Grischa Niermann entgegnete: „Kuss, Roglič und Vingegaard sind drei große Champions. Wir träumen von einem Dreifachsieg in Madrid. Das Wichtigste ist, dass wir die Konkurrenz schlagen. Wir sind noch nicht am Ziel. Es ist noch lange kein Kampf nur zwischen drei Teamkollegen. Primož und Jonas müssen für Sepp nicht bremsen. Damit ist auch er einverstanden. Jeder darf Rennen fahren, aber die Vereinbarung ist, dass wir keinen unserer eigenen Teamkollegen in eine weniger gute Situation bringen werden. Für mich ist es egal, wer in Madrid auf der obersten Stufe steht, solange es jemand aus unserem Team ist.“

Am Ende wurde das „Märchen“ vom Helfer, der zum Star wurde, wahr. Es ist eine Geschichte, wie sie tausendfach verfilmt wurde, eine Story, wie sie die Menschen lieben – und eine Abwandlung des „American Dream“: Der Underdog schlägt die Etablierten. Die „großen zwei“, Roglič und Vingegaard, attackierten ihren Teamkollegen nicht mehr. Der Däne verlor, ob absichtlich oder unabsichtlich, sogar noch einmal Zeit. Kuss’ Vorsprung betrug 17 Sekunden. Er behielt ihn bis zum Schlusstag in Madrid. Die Geschichte der Vuelta 2023 endete – für das Publikum – mit einem Happy End.

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Happy End beim Team Jumbo-Visma: Sepp Kuss gewann die Vuelta 2023

Radsportgeschichte und Konflikte

Das Team Jumbo-Visma schrieb dabei Radsportgeschichte: Noch nie zuvor standen drei Fahrer einer Mannschaft bei der Vuelta auf dem Podium. Das Team Jumbo-Visma gewann 2023 nicht nur Tour, Giro und Vuelta, sondern auch das Critérium du Dauphiné, die Baskenland-Rundfahrt, Tirreno-Adriatico und mehr.

Die Equipe verfügt über eine enorme Leistungsdichte. Dass dabei mitunter auch Konflikte entstehen, zeigte sich bei der Vuelta deutlich. Am Ende hat man sich aber besonnen – und alles noch zu einem guten Ende geführt. Doch zum Saisonende zog einer der Top-Stars dann Konsequenzen: Primož Roglič, 33, gab seinen Wechsel zum deutschen Team Bora-Hansgrohe bekannt.

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