Profi-Radsport, Leitartikel, Zweifel, Doping, Rekorde
System Profi-Radsport: Rekorde, Zweifel und Doping-Vorwürfe

Unschuld / Verdacht

System Profi-Radsport: Rekorde, Zweifel und Doping-Vorwürfe

Sportliche Top-Leistungen gehen heute mit Zweifeln und Verdächtigungen einher. Zurecht? Über Doping-Vorwürfe, Watt-Werte und das System Profi-Radsport.
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In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Dieses Prinzip gilt seit weit mehr als 2000 Jahren. Es ist noch heute ein wichtiger Teil der Basis eines jeden Rechtsstaats. Man könnte den Mechanismus auch anders formulieren: Ein Beschuldigter gilt so lange als unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist. Moralische und juristische Aspekte gehen dabei, natürlich, nicht immer konform. Recht häufig werden – in Einzel-Äußerungen, aber teils auch in der medial geformten „Öffentlichen Meinung“ – moralische Einordnungen vorgenommen und Verfehlungen einiger auf andere Gruppen quasi „übertragen“. Die Fälle von Verdachts- und Vorwurfs-Kampagnen gegen juristisch (noch) nicht belangte Menschen mehren sich. Was macht dies mit einer Gesellschaft – und wo führt es hin? Dies gilt für alle Gesellschaftsbereiche, von der Kultur über die Wirtschaft und Politik bis hin zum Sport. In einer besonderen Weise betroffen ist: der professionelle Radsport.

System Profi-Radsport: Zweifel und Unterstellungen

Denn für Viele ist er noch immer das „schwarze Schaf“ unter den Sportarten – beziehungsweise ein „gebranntes Kind“. Teils auch für Menschen, die in diesem „System Profi-Radsport“ sozialisiert wurden. Die ein Teil davon waren und sind.

Einer von ihnen ist Jérôme Pineau. Der 43-jährige Franzose war bis 2015 Radprofi, zuletzt beim Team IAM-Cycling. Zu seinen größten Erfolgen gehörten der Gesamtsieg der Normandie-Rundfahrt sowie ein Etappensieg beim Giro d’Italia. Von 2018 bis 2022 war er Teammanager des inzwischen aufgelösten französischen Rennstalls Equipe B&B Hotels – KTM. „Wir sehen die Bilder. Ich spreche nicht von klassischem Doping, sondern von etwas viel Schlimmerem,“ sagte er nun Mitte September in der Sendung ‚die Große Klappe im Sport‘ von Radio Monte-Carlo. Das Thema: die Vuelta – und die Überlegenheit der Fahrer des Teams Jumbo-Visma. „Ich spreche über mechanisches Doping. Wenn man sich den Angriff von Sepp Kuss am Col du Tourmalet anschaut, gegen Fahrer wie Juan Ayuso, Cian Uijtdebroeks – der als Super-Talent gilt – und Marc Soler: Kuss fährt bei seinem Angriff zehn km/h schneller, muss dann vor einem Zuschauer abbremsen und fährt danach wieder zehn km/h schneller. Wie kann man das erklären?“

Ein Ex-Profi erhebt demnach Betrugsvorwürfe gegen einzelne Fahrer und Teams – weil er sich deren Leistungen nicht anders erklären kann. Diese Aussagen führen zu vielen Fragen, die man sich stellen könnte beziehungsweise sollte. Etwa: Gilt die Unschuldsvermutung nicht mehr? Ist es legitim, die aktuelle Athleten-Generation – im Schatten ihrer Vorgänger – zu verdächtigen? Soll man Pineau zustimmen oder ihn verurteilen? Diese Fragen muss jeder für sich selbst beantworten.

Doping und Kontrollen im Profi-Radsport

Neu ist, dass Pineau von mechanischem Doping spricht – und nicht von chemischem. Solche Verdächtigungen kamen bereits vor mehreren Jahren gegen den damaligen Schweizer Top-Radprofi Fabian Cancellara auf. Ein Youtube-Video, in dem das potenziell verwendete Elektromotor-System erklärt wird, wurde bis heute 5,3 Millionen Mal geklickt. Fakt ist: Pineau ist nicht irgendein Außenseiter – er kennt das System Profi-Radsport. Er war ein Teil von ihm.

Zudem war es in der Geschichte des Sports bislang immer wieder so, dass die Dominanz Einzelner beziehungsweise eines Teams nicht „gut ausging“. Es war: Zu gut, um wahr zu sein. Es war nicht wahr. Absolute Top-Leistung basierten – neben Talent, Training, Wille – erwiesenermaßen auch oftmals auf Betrug. Konkret: auf dem Einsatz von Dopingmitteln.

Nun hat es in den vergangenen drei Jahren in der WorldTour, der ersten Liga im Profi-Radsport, nur fünf Dopingfälle gegeben. Zudem wurden die Tests immer besser und aufwendiger, Blutpass-Untersuchungen und eine „No-Needle-Policy“ wurden eingeführt. Viel spricht dafür, dass der Radsport heute „sauberer“ ist als früher.

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Wie sind die Rekordzahlen im Profi-Radsport zu erklären?

Doch dagegen sprechen – wenn auch „nur“ indirekt: Zahlen. Zum Beispiel: 7,38 Watt pro Kilogramm Körpergewicht. Dies hat, inoffiziellen Berechnungen zufolge, Jonas Vingegaard – auf einem Zeitfahrrad – im Verlauf des Zeitfahrens der Tour de France 2023 über 13:21 Minuten durchschnittlich bergauf geleistet. Am Saisonende fuhr er am Schlussanstieg der 16. Etappe der Vuelta, dem Puerto de Bejes, durchschnittlich 7,4 Watt pro Kilogramm Körpergewicht über 13:11 Minuten. Tadej Pogačar leistete während Paris-Nizza im März am Col d’Èze geschätzte 6,97 Watt pro Kilogramm für insgesamt 15 Minuten und 22 Sekunden. Remco Evenepoel zeigte bei der Tour of Norway 2022 die vielleicht beste Bergauf-Leistung des vergangenen Jahres: Den Schlussanstieg der dritten Etappe fuhr er in 30:23 Minuten – und leistete dabei 6,5 Watt pro Kilogramm Körpergewicht.

Allein bei der Tour de France 2023 brachen die Top-Fahrer neun Auffahrts-Rekordzeiten an berühmten Pässen. Die bisherigen Bestzeiten stammten alle aus der „Epo-Doping-Ära“ des Radsports.

Physiologisch sind solch hohen Dauerleistungen (noch) nicht zu erklären. „Es gibt Grenzen, die uns der Körper setzt, die niemand von uns selbst mit den besten Voraussetzungen überschreiten kann“, sagte der Mann, der jene Grenzen der menschlichen Leistung errechnet haben will, vor einiger Zeit in einem SZ-Interview: Antoine Vayer, der „geläuterte“ frühere Trainer des Skandal-Profi-Teams Festina. Seiner Meinung nach sind alle Dauer-Leistungen am Berg zwischen 430 und 450 Watt „Wunder“. Mehr als 450 Watt könnten demnach dauerhaft nur „Mutanten“ treten. In der modernen Sportwissenschaft sind diese „Grenzwerte“ weitgehend anerkannt.

System Profi-Radsport: Bestzeiten und Leistungs-Werte

Solche Leistungen in Frage zu stellen beziehungsweise nach rationalen, objektiven, wissenschaftlich validen Erklärungen dafür zu suchen, ist nicht nur legitim, sondern logisch. Nur auf welche Art man dies tut, ist die Frage. Weitere Hintergründe zu den Leistungsgrenzen des Körpers und Einblicke in die Entwicklungen innerhalb der Profi-Szene, das alltägliche Training und die Leistungsdaten finden Sie in unserem großen Analyse-Artikel mit dem Profi-Trainer Peter Leo in der RennRad-Ausgabe 7/2022.

Das eine ist demnach die Frage nach der physiologischen Erklärung von Top-Leistungen. Das andere ist die Grundsatzfrage, die da lautet: Gilt das Prinzip der Unschuldsvermutung noch? Eine weitere: Was sind die Konsequenzen dessen, wenn es nicht mehr gilt? In was für einer Gesellschaft resultiert dies?

Misstrauen gegenüber dem Kontrollsystem

Wer angesichts der angeführten Leistungsdaten die Athleten des Betrugs verdächtigt, impliziert damit zugleich ein massives Misstrauen gegenüber dem Kontrollsystem. Hier liegt einer von mehreren „schwachen Punkten“ in Pineaus Argumentation: Mechanisches Doping ist – gegenüber chemischem – wohl vergleichsweise einfach nachzuweisen. Zudem führt der Ex-Profi keinerlei Beweise für seine These an. Die einzigen Fakten, auf die er verweist, sind die Leistungswerte der Vuelta-Top-Fahrer. Dies ist keine stringente Argumentation. Dies ist ein bloßes Verdächtigen.

Die Räder der Profis werden regelmäßig gescannt. Zudem wären pro Team recht viele Menschen – Mechaniker, Sportliche Leiter, Fahrer – in einen solchen großangelegten Betrug involviert. Und die Beweise würden sich nicht, wie es bei vielen Dopingmitteln der Fall ist, nach und nach selbst abbauen. Nein, sie wären nachhaltig. Zudem brächte spätestens jeder größere Sturz, bei dem Material zu Bruch geht, die Gefahr der Enthüllung beziehungsweise Entdeckung mit sich.

Aus einer hypothetischen Betrügersicht ist das chemische Doping wohl „einfacher“ und risikoloser umzusetzen als das mechanische. Die großen Dopingfälle des Radsports kamen nicht durch positive Tests zu Tage, sondern durch andere Ermittlungen. Etliche Dopingmittel – wie etwa Geref oder Wachstumshormone wie IGF-1 – sind noch immer nicht nachweisbar. Die Frage lautet demnach: Wieso sollte jemand, der betrügen will, das Risiko des mechanischen Dopings auf sich nehmen?

Diesen Leitartikel lesen Sie in der RennRad 11-12/2023. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

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