Radsport, Olympia, Anna Kiesenhofer
Anna Kiesenhofer: Österreichische Radsport-Olympia-Siegerin im Portrait

Überraschung / Berechnung

Anna Kiesenhofer: Österreichische Radsport-Olympia-Siegerin im Portrait

Ihr Sieg war eine Sensation: Anna Kiesenhofer gewann das Straßenrennen von Tokio als Solistin – und holte die erste Radsport-Olympia-Medaille für Österreich seit Adolf Schmals Gold im Zwölf-Stunden-Rennen 1896: Einblicke, Hintergründe und Portrait.
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Der Startschuss. Die erste Attacke. Es ist der Beginn einer der größten Sport-Sensationen der vergangenen Jahre. Einer märchenhaften Geschichte. Eines unglaublichen Sieges. Einer 136 Kilometer langen Fahrt. Einer Fahrt zum Olympiasieg. 3:52:45 Stunden nach dieser Attacke fährt Anna Kiesenhofer auf der Zielgeraden des Fuji International Speedway. Allein. Immer wieder schüttelte sie den Kopf. Sie überquert den Zielstrich – mit 75 Sekunden Vorsprung – steigt vom Rad und lässt sich auf den Boden fallen. Es ist einer der Momente dieser Olympischen Spiele von Tokio. Es ist die erste Olympia-Medaille für Österreich in einer Radsport-Disziplin seit 125 Jahren.

„Selbst als ich die Ziellinie überquert hatte, war ich unsicher, ob das Rennen wirklich vorbei war. Ich wusste in dem Moment eigentlich gar nichts. Ich bin einfach drauf losgefahren, ohne festes Ziel“, sagte sie in Tokio. „Erst hinter der Ziellinie habe ich realisiert, was ich geschafft habe. Bis dorthin war ich voll am Limit.“

Rund eine Minute danach fährt eine der Top-Favoritinnen über die Ziellinie – jubelnd: Annemiek van Vleuten. Vor dem Rennen war klar: Der Olympiasieg führt nur über die Niederländerinnen. Doch die Fahrerinnen in Orange gewährten der dreiköpfigen Spitzengruppe bis zu zehn Minuten Vorsprung. Und: Sie bekamen nicht mit – das Benutzen von Funkgeräten war im Olympia-Rennen verboten – dass sich die Spitzengruppe im Finale teilte.

Anna Kiesenhofer attackiert

40 Kilometer vor dem Ziel attackierte Anna Kiesenhofer ihre beiden Begleiterinnen Omer Shapira und Anna Plichta. Beide wurden eingeholt. Auf den letzten Kilometern setzte sich van Vleuten von den anderen Favoritinnen ab und kam als Solistin ins Ziel. „Ich dachte, ich hätte gewonnen“, sagte sie nach dem Rennen.

Van Vleutens niederländische Teamkollegin Anna van der Breggen äußerte sich zur Siegerin: „Ich glaube, niemand hatte sie auf der Rechnung – ich kenne sie nicht. Wir dachten, wir machen alles richtig. Wir haben die Polin und die Israelin noch eingeholt.“

Die Niederländerinnen hatten die Rennen der Olympischen Spiele 2012 in London und 2016 in Rio sowie die vergangenen vier Weltmeisterschaften dominiert.

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Anna Kiesenhofer gewann die erste Radsport-Olympia-Medaille seit 1896

Nicht nur ein Sieg des Muts und des Könnens

Anna Kiesenhofers Sieg war nicht nur einer des Muts und des Könnens – sondern auch einer gegen das „Establishment“ des Radsports. Gegen die Besten. Gegen Attitüden. Keine der Top-Fahrerinnen im Peloton wollte sich „opfern“, um die Lücke zu der kleinen Gruppe zu schließen. Keine wollte riskieren, der Konkurrenz so vielleicht die Tür zu Gold zu öffnen.

Anna Kiesenhofers eigentliche Profession als promovierte Mathematikerin verleiht dem Sieg noch mehr olympischen Romantik: Eine Amateurfahrerin düpiert die Elite – der moderne Sieg von David über Goliath.

Als promovierte Mathematikerin fand Anna Kiesenhofer schnell eine wissenschaftliche Erklärung für ihren Olympiasieg. „Man kann wirklich recht leicht berechnen, wie viel Watt man treten muss, um die Kräfte beim Radfahren zu überwinden – in erster Linie den Luftwiderstand und die Schwerkraft. Wenn ich einen Berg rauffahre, arbeite ich gegen die Gravitation. Das sind diverse Terme, die man zu einer Gesamtkraft summieren kann – und die muss man überwinden“, sagte sie dem ORF.

Anna Kiesenhofer liest Studien, rechnet, probiert – sie ist immer auf der Suche nach Bestwerten. „Sowohl die Mathematik als auch der Radsport erfordern einen ähnlichen Charakter: Man muss sich auf eine Sache konzentrieren können und braucht viel Willenskraft. Manchmal gibt es ein mathematisches Problem, an dem man wochenlang rumgrübelt. Beim Radsport ist es auch so. Man muss extrem geduldig sein und jahrelang trainieren, um wirklich gut zu werden.“

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Promotion & Zeitfahren

Anna Kiesenhofer studierte Mathematik und Physik an der TU in Wien, machte ihren Master in Cambridge und promovierte an der Universität von Barcelona.

Die Disziplin, mit der sie ihr Studium erfolgreich zum Abschluss brachte, zeigt sie auch im Radsport, mit dem sie erst im Alter von 22 Jahren begann. Eigentlich war sie Triathletin, aber Radfahren konnte sie am besten und entschied sich dann für den Radsport. International war sie vor ihrem Olympiasieg wenigen bekannt. 2016 war sie Gesamtzweite der Ardèche-Rundfahrt.

Der erste Profivertrag

2017 unterschrieb sie einen Profivertrag bei dem belgischen Team Lotto Soudal Ladies. Doch: Nach vier Monaten löste sie den Vertrag auf. „Ich habe gemerkt, dass der Profisport für mich ein zu großer körperlicher und psychischer Stress ist.“

Zwei Jahre lang fuhr sie fast keine Rennen. Sie feindet das Profi-Radsport-System nicht an – doch sie will ermutigen, nicht alles ohne Kritik hinzunehmen. Sie hat sich dazu entschieden, einen eigenen, vollkommen selbstbestimmten Weg zu gehen: Training, Ernährung, Material – alles plant, analysiert und organisiert sie selbst.

Akribisches und qualitatives Training

Anna Kiesenhofer als eine Amateur- oder gar Hobbyfahrerin einzustufen, würde ihrem Einsatz nicht gerecht werden. Sie trainiert akribisch und hoch-qualitativ. Da sie sich ihre Arbeit in der Forschung gut einteilen kann, ist sie mit ihrem Training recht flexibel. Sie trainiert rund 25.000 Kilometer pro Jahr. „Ich hoffe, dass ich andere inspiriere, ihren Weg zu gehen und nicht nur die traditionellen Wege im Radsport. Man muss auch man selbst sein.“

Wenn sie nach ihrer Profi-Zeit bei Rennen startete, war sie meist erfolgreich: Viermal war sie Staatsmeisterin, dreimal im Zeitfahren und 2019 auch im Straßenrennen. Im gleichen Jahr fuhr sie bei der Zeitfahr-Europameisterschaft in Alkmaar auf Rang fünf. Seit 2019 startet sie für das kleine Team Cookina Graz – ohne Druck, ohne Vorgaben. Zu internationalen Wettkämpfen reist sie auch schon einmal mit dem Schweizer Radsportverband. Dies ist für sie, die in Lausanne lebt und arbeitet, logistisch deutlich einfacher.

Anna Kiesenhofers Lieblingsdisziplin ist das Zeitfahren. „Ich mag es nicht, in einem großen Feld zu fahren. Das ist mir zu hektisch und gefährlich.“ Auf dem Zeitfahrrad ist man allein mit sich selbst – und fährt allein gegen die Uhr. Nach Platz fünf bei der EM verpasste sie bei den Weltmeisterschaften 2019 in Yorkshire als 20. im Einzelzeitfahren knapp die Olympia-Qualifikation für den Kampf gegen die Uhr. Es „fehlten“: sieben Sekunden. Was sie damals ärgerte, stellte sich zwei Jahre später als schicksalhafte Fügung heraus. „Hätte sie sich auch für das Zeitfahren qualifiziert, wäre sie das Straßenrennen wohl ganz anders gefahren und hätte sicher keine Medaille gewonnen“, sagt der österreichische Nationaltrainer Klaus Kabasser, der die 30-Jährige auf ihrem Weg zum Olympiasieg im Renndienstwagen begleitete. Sie musste ihre Kräfte nicht schonen für das Einzelzeitfahren drei Tage später.

Nichts zu verlieren – und alles gewonnen

Sie hatte nichts zu verlieren. Aber sie hat alles gewonnen. „Wir hatten nur eine Fahrerin am Start. Unsere schlechteste Platzierung war also der erste Platz“, sagt Kabasser. Mit ihrem Sieg in Tokio hat Anna Kiesenhofer Radsport-Geschichte geschrieben. Und sie hat ihr Heimatland ins Rampenlicht gerückt. Österreich bringt immer wieder erfolgreiche Rennfahrer hervor. So gewann Patrick Konrad im Trikot des deutschen Bora-Hansgrohe-World-Tour-Teams im Juli eine Etappe der Tour de France. Es war der größte Erfolg seiner Karriere. Sein Landsmann und Bora-Teamkollege Lukas Pöstlberger, 2017 Etappensieger des Giro d‘Italia, war zuvor bei der Dauphiné-Rundfahrt erfolgreich.

Auch im österreichischen Frauenradsport gab es große Fortschritte. Eine der Top-Fahrerinnen ist erst 21 Jahre alt: Laura Stigger. 2018 wurde sie Welt- und Europameisterin der Juniorinnen auf dem Mountainbike – und Weltmeisterin auf dem Rennrad. „Seit wir die Rad-Liga fest in unseren Kalender integriert haben, erfreuen wir uns größerer Starterfelder auch im Frauenbereich,“ sagt Kabasser, dessen Trainertätigkeit dennoch nur ein Nebenerwerb ist. Im Hauptberuf ist der 55-Jährige Richter.

Wie in Deutschland so sind auch die österreichischen Fahrerinnen in ihren Teams und Vereinen eingebunden und bereiten sich dort auf größere Aufgaben vor. Nur vor besonderen Ereignissen finden Kader-Trainingslager mit dem Verband statt. Vor den Europameisterschaften Anfang September hatte der Kader-Trainer zum Zeitfahr-Training in der Höhe eingeladen.

Talentförderung & Rad-Liga

Noch vor ein paar Jahren, so berichtet Kabasser, standen bei nationalen Frauenrennen 20 – maximal 30 – Fahrerinnen am Start. Inzwischen ist die Zahl der Teilnehmerinnen auf meist mehr als 40 gestiegen. „Regelmäßig haben wir 40 bis 50 Fahrerinnen bei der Rad-Liga am Start.“ Das ist viel für ein Land mit 8,9 Millionen Einwohnern. Zum Vergleich: In der deutschen Rad-Bundesliga sind in der Frauen- und Juniorinnen-Bundesliga 141 Fahrerinnen gemeldet. Die Anzahl der Frauen-Radrennen in Österreich: rund 50. Etwa die Hälfte sind Rundstreckenrennen, der Rest Straßenrennen. In Deutschland hat sich die Zahl der Rennen – vor dem Beginn der Corona-Pandemie – im weiblichen Bereich in den letzten zehn Jahren auf rund 300 erhöht.

Der österreichische Radsport-Verband fördert den Frauenradsport intensiv. In der Rad-Bundesliga erhalten die Frauen das gleiche Preisgeld wie die Männer. Da während der Corona-Krise normale Straßenrennen nicht möglich waren, hat man eine Rennserie von mehreren Zeitfahren installiert, die „Austria Time Trial Series“. Und konnte in diesem Jahr wieder einen Leistungssprung verzeichnen. 152 österreichische aktive Rennfahrerinnen sind derzeit registriert, die meisten als Amateurfahrerinnen. Zum Vergleich: In der Schweiz sind es 199, in Belgien 463, in Deutschland 692, in Großbritannien 838, in den Niederlanden 935, in Frankreich 1029.

Der Vergleich der Anzahl der WorldTour und Continental-Teams: Während es in den Niederlanden vier Conti-Teams und ein WorldTour-Team gibt, sind es in Deutschland zwei WorldTour- und ein Conti-Team. Die Schweiz und Österreich haben keine Profi-Teams gemeldet. Die Niederlande stellt 20 WorldTour- und 74 Continental-Fahrerinnen, Deutschland 22 Continental- und fünf WorldTour-Fahrerinnen, die Schweiz 13 beziehungsweise zwei. Österreich weist sechs Continental- und keine WorldTour-Fahrerin aus. Die Olympia-Siegerin Anna Kiesenhofer zählt nicht dazu. Ihr Sieg war eine Sport-Sensation – und vielleicht der Beginn einer großen Entwicklung, eines weiteren längeren Aufschwungs.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 10/2021Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

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