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Nadine Gill: Auf dem Weg in die Weltspitze des Frauen-Radsports

A alemã

Nadine Gill: Auf dem Weg in die Weltspitze des Frauen-Radsports

Nadine Gill lebt in Brasilien, ist Diplomatin, trainiert seit knapp zwei Jahren – und ist auf dem Weg in die Weltspitze des Frauen-Radsports.
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45 km/h, 30 Grad, 80 Prozent Luftfeuchtigkeit, um fünf Uhr morgens – sie trainiert in einem Peloton, das einem Radrennen gleicht, mitten in einer Gruppe aus 30 Männern, hier am Rand der 20-Millionen-Einwohner-Stadt São Paulo. Jeden Donnerstag treffen sie sich hier. Die besten, stärksten, schnellsten Rennradfahrer São Paulos. 30 Männer – und eine Frau. Eine Deutsche. Sie ist 1,67 Meter groß, wiegt 57 Kilogramm und sie fährt erst seit weniger als 20 Monaten Radrennen: Nadine Gill.

Ihr Beruf: Diplomatin. Sie fährt in dieser Gruppe, wie so oft. Der Kurs ist flach, er führt um die Universität herum. Dies ist ein Ausscheidungsfahren: In jeder Runde scheiden Fahrer aus, die den Anschluss an die Gruppe nicht halten können. Die Geschwindigkeit fällt nie unter 40 km/h. Die Trainingseinheiten sind immer frühmorgens. Denn nur um diese Uhrzeit sind die Temperatur und auch der Smog der Stadt noch erträglich. Das Feld der Rennfahrer wird immer kleiner, das Tempo wird immer schneller. Bald sind nur noch zehn Fahrer auf der Rennstrecke. Die einzige Frau ist noch dabei – und wird am Ende Achte.

„Das ist ein gutes Training“, sagt sie danach. Nadine Gill ist 28 Jahre alt. Sie lebt seit 3,5 Jahren in Brasilien. In São Paulo, einer Stadt, die vielen als gefährlich gilt. Einer südamerikanischen Stadt, die ein wachsendes Industrie-Moloch-Konglomerat ist. „São Paulo ist sicher kein ideales Trainingsgebiet. Die Stadt ist riesig, laut und dreckig – und doch hat sie ihren eigenen Charme.“

Dieser Artikel erschien in der RennRad 5/2020. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.

Nadine Gill: Vom Laufen zum Radsport

Nadine Gill spricht Portugiesisch. In Brasilien ist sie bekannt: Radsportfans kennen sie, die deutsche Aufsteigerin. Im Juli 2018 fuhr sie ihr erstes Radrennen in Brasilien. Ihre Bilanz bisher ist makellos: zehn Starts, zehn Siege. Mehrmals im Jahr ist sie auch in Deutschland, ihrer Heimat. Und fährt auch dort Rennen.

Bei diesen Gelegenheiten wurde sie im Jahr 2019 Zweite der Deutschen Bergmeisterschaften, Zweite der Granfondo-Weltmeisterschaft der Amateure in Polen – und Siegerin des Kufsteinerland Radmarathons. Im September trat sie als Gastfahrerin eines deutschen Teams zu ihrer ersten Etappenfahrt an, dem Giro Delle Marche, einem topbesetzten UCI-Rennen der Kategorie 2.2 in Italien. Sie wurde Siebte. Vor ihr platzierten sich ausschließlich WorldTour-Profi-Fahrerinnen. Zu diesem Zeitpunkt trainierte sie rund einem Jahr regelmäßig und planvoll auf einem Rennrad.

Davor lief sie. Sie lief schnell und sie lief weit. In ihrer Jugend gehörte sie zu den schnellsten Langdistanz-Läuferinnen Deutschlands. Dann folgten mehrere Verletzungen – und das Karriereende. Es war ein vorläufiges. Während ihres Studiums begann sie, wieder mehr zu laufen. Und länger. 2017 lief sie die 42,195 Kilometer des Boston- Marathons in den USA in 2:47 Stunden.

Doch darauf folgten: zwei Ermüdungsbrüche und eine Lungenentzündung. „Ich konnte nicht noch einmal wieder ruhig anfangen. Es ging einfach nichts mehr vorwärts“, sagt sie. „In der Phase hatte ich Motivations- und Gewichtsprobleme.“

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Nadine Gill ist auf dem Weg in die Weltspitze

Veni, vidi, vici

Um sie abzulenken und aus ihrem Tief zu holen, schenkte ihr Freund ihr ein Rennrad. Sie begann, zwei- bis dreimal pro Woche eine Runde zu drehen. „Ich dachte zuerst nicht an Rennen. Ich wollte nur den Spaß am Sport wiederfinden.“ Doch ihre Sicht auf Radrennen änderte sich schnell. Vier Trainingswochen sind vergangen, als sie zufällig ein Plakat sieht: die Ausschreibung des größten Radrennens von São Paulo. Sie meldet sich an, sie startet, sie fährt – und sie gewinnt.

Das war im Juli 2018. Heute trainiert sie fünf- oder sechsmal pro Woche nach den Vorgaben eines Trainers. Zwei bis drei kürzere Intervall-Einheiten unter der Woche sind ihr Standard. Daneben umfasst ihr wöchentlicher Trainingsplan in der Regel noch ein bis zwei lockere Grundlagenfahrten, sowie ein bis zwei Einheiten im Fitnessstudio. „Eigentlich mag ich lange Einheiten in den Bergen am liebsten. Die Geschwindigkeit, die Natur, der eigene Rhythmus. Nur ist das für mich nur selten umsetzbar. Leider.“

Training und Sicherheit

Das Training in Brasilien und vor allem in der 20-Millionen-Stadt São Paulo ist eine Herausforderung an sich: Verkehr, Smog, Chaos. Die meisten Straßen sind schlecht asphaltiert – der extrem dichte Straßenverkehr macht jedes Training zu einer gefährlichen Hindernisfahrt. Die Straßen und Strecken, die sich ohne größere Gefahren zum Trainieren eignen, sind rar. Aber es gibt sie – unter anderem in Form eines sieben Kilometer langen Radwegs entlang eines Flusses.

Nadine Gill fährt hier oft, morgens um sechs Uhr, vor der Arbeit, mit Hunderten anderen Radsportlern. Längere Ausfahrten sind hier nur an den Wochenenden möglich, wenn sie genug Zeit hat, um die Großstadt zu verlassen. „Ich brauche etwa eine Stunde, um aufs Land zu kommen, in die Natur.“

Ihre normalen Trainingszeiten: zwischen fünf und acht Uhr morgens. „Das liegt an meiner Arbeit, an den Temperaturen, am Verkehr – und an der Sicherheit. Meinem Freund und mir wurden schon zwei Rennräder gestohlen. Die organisierten Gruppen hier erkennen teure Modelle. Einmal wurden wir nachmittags überfallen, mit einem vorgehaltenen Messer. Abends ist es generell gefährlicher als morgens. Ich habe das Gefühl, dass die Gangster noch schlafen, wenn ich um fünf Uhr morgens trainiere.“

Im Hinterland der Megacity herrscht der Dschungel. Die Region um São Paulo ist hügelig. Der „Hausberg“ der Stadt, der Pico do Jaraguá, ist 4,5 Kilometer lang und durchschnittlich rund sieben Prozent steil. „Am Wochenende fahre ich manchmal in die brasilianischen Alpen. Die Stadt Campos do Jordão dort ist rund 1,5 Auto-Stunden von São Paulo entfernt und liegt auf 1500 Metern Höhe über dem Meer. Dort findet man einen der steilsten Anstiege des Landes, den ‚Paiol‘: Er ist sieben Kilometer lang und hat eine Durchschnittssteigung von zehn Prozent. An den steilsten Stellen ist er wie eine Wand – mit mehr als 18 Steigungsprozenten.“

Berge und Attacken

Nadine Gill liebt die Langstrecke – und die Berge. „Ich profitiere auch auf dem Rad von meiner Ausdauer, die ich durch das Laufen aufgebaut habe. Und ich weiß, was es heißt, sich zu quälen. Viele, die neu mit dem Radsport beginnen und bei Rennen starten, haben wohl Schwierigkeiten damit, dass ein gewisser Grad an Schmerzresistenz zum Radsport gehört. Ich nicht.“

Zudem hat sich nun für sie auch ein sportlicher Kreis geschlossen: Denn als Schülerin fuhr sie viel Mountainbike. „Von diesen technischen Grundlagen, der Radbeherrschung, profitiere ich noch heute – auch wenn ich zwischendurch mehr als zehn Jahre lang kaum Rad gefahren bin.“

Nadine Gill mitten in der Weltspitze

Zwei Monate, nachdem sie ein Rennrad, ihr erstes, geschenkt bekommen hatte, nahm sie an den Landesmeisterschaften des Staates São Paulo teil. Als Einzelstarterin ohne Team – gegen die besten Frauen-Equipes des Landes.

Die Strecke: ein Rundkurs, der einen Anstieg aufweist und zehnmal zu fahren ist. „An diesem Hügel habe ich attackiert – in jeder einzelnen Runde.“ Nach der achten Attacke ist sie allein. Sie erreicht das Ziel allein, als Solistin. Als Siegerin. „Die letzten 15 Kilometer hatte ich solche Schmerzen wie selten zuvor in meinem Leben. Die Muskulatur war völlig übersäuert, aber der Wille war stärker.“

Im Februar 2020 trat Nadine Gill erstmals gegen die besten Fahrerinnen der Welt an. Sie startet bei der WorldTour-Rundfahrt Setmana Ciclista Valenciana. Die Siegerin: Anna van der Breggen, die niederländische Ex-Weltmeisterin. Nadine Gill beendet die Rundfahrt als 15. Mitten in der Weltspitze.

Die Inhalte der RennRad 5/2020 in der Übersicht.

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