Weltrekord
Olympia 2021: Deutsche Radsport-Frauen und ihre Weltrekorde
in Frauen-Radsport
58,958 km/h – als Durchschnittsgeschwindigkeit über 4000 Meter. Diese Fahrt bedeutet: Weltrekord und Olympia-Gold. Das Finale der Team-Verfolgung der Frauen lautete: Deutschland gegen Großbritannien. Die Britinnen gewannen 2012 und 2016 Olympia-Gold im Vierer.
Das deutsche Team unterbot den Weltrekord des britischen Teams in der Qualifikation um mehr als drei Sekunden. In der nächsten Runde legten die Britinnen mit einem Rekord vor. Doch die deutschen Starterinnen holten ihn sich nur wenige Minuten später zurück. Der dritte Weltrekord im Finale war schließlich um mehr als sechs Sekunden schneller als die alte Bestzeit vor den Olympischen Spielen. Die Übersetzung der deutschen Fahrerinnen: 63/15.
Im Finale drehte das deutsche Team schon früh so auf, dass die Britinnen bereits nach 2000 Metern rund zwei Sekunden zurücklagen. „Die Deutschen haben die Briten so deklassiert, als wenn sie Trabis wären,“ sagte Kristina Vogel, die TV-Expertin und einzige Olympiasiegerin des BDR vor fünf Jahren in Rio de Janeiro. Die Mission „Olympiagold“ begann vor fast zwei Jahren. Bei der Heim-WM in Berlin holte das deutsche Quartett in der Besetzung Franziska Brauße, Lisa Brennauer, Gudrun Stock und Lisa Klein die Bronzemedaille hinter den USA und Großbritannien.
Corona und die Wettkampfpause
Dann kam Corona und eine lange Wettkampfpause. Als die Spiele von Tokio beginnen konnten, wusste niemand so wirklich, wo man steht. „Wir hatten unsere Zeiten. Aber es gab keine Vergleiche mit der Konkurrenz“, sagte der Bundestrainer André Korff vor den ersten Rennen. „Wir sind ein zusammengewürfeltes Team. Da braucht es schon jemanden, der uns zusammenbringt, der realisiert, was wir draufhaben. Aber: Er hat uns keinen Druck gemacht,“ sagt Lisa Brennauer über die Arbeit des Bundestrainers.
Was Korff weiterhin auszeichnet, ist sein Fingerspitzengefühl. Er erkennt sehr schnell, wo die Stärken und Schwächen einzelner Athletinnen liegen.
Training und Lehrgänge
Die Rennstrecke von Tokio ist „made in Germany“: Die extrem schnelle Bahn im Velodrom von Izu ist ein Produkt des Münsteraner Bahn-Architekten Ralph Schürmann. „Die Bahn ist super. Es macht Spaß, darauf zu fahren,“ sagte Lisa Klein schon nach der ersten Trainingseinheit in Izu. Aber auch andere Teams waren schnell unterwegs. Sieben von acht Mannschaften unterboten in Tokio den alten Weltrekord. Doch keine war so schnell wie der BDR-Vierer. „Schon bei unseren Trainingseinheiten in Frankfurt (Oder) zeichnete sich ab, dass die Vier extrem schnell sein würden. Ich war mir schon da ziemlich sicher, dass sie um die Medaillen fahren würden. Aber dass es so ausgehen würde, war Wahnsinn“, sagte André Korff. „4:06 Minuten: Das war eine Zeit, die sich im Training abzeichnete. Dass sie das im Finale noch einmal um zwei Sekunden unterbieten würden, ist Wahnsinn. Sie haben alles rausgeholt. Sie sind sind fantastisch gefahren.“
Die Vorbereitungen der weiblichen Verfolger verliefen völlig anders als die der Männer. Deren Bundestrainer Sven Meyer ist ständig mit seiner Mannschaft unterwegs: Auslandseinsätze, Trainingscamps in Frankfurt (Oder) und Höhentrainingslager in Mexiko bildeten die Säulen der Olympia-Vorbereitung. Die meisten Fahrer tragen das Trikot des BDR-nahen Continental-Teams rad-net Rose. Dort geben der BDR und Meyer die Richtung vor. Bei den Frauen ist dies anders. Dreimal lud André Korff zum Bahnlehrgang nach Frankfurt (Oder) ein – jeweils für rund fünf Tage. Ansonsten bereiteten sich die vier Fahrerinnen individuell vor. Vor allem im Rahmen ihrer „normalen“ Einsätze bei Straßenrennen und Rundfahrten. Lisa Brennauer und Lisa Klein waren somit auch in Tokio Mehrfachstarterinnen: Beide nahmen auch an dem schweren bergigen Straßenrennen teil. Brennauer vertrat Deutschland auch im Zeitfahren – und wurde sowohl auf der Zeitfahr- wie auch auf der Rennmaschine je Sechste. Kurzfristig vor den Rennen von Tokio musste das deutsche Team noch umgestellt werden: Die Münchnerin Gudrun Stock, die bereits 2016 in Rio de Janeiro im Einsatz war, musste aus gesundheitlichen Gründen auf einen Start in Tokio verzichten.
Geheimwaffe
Eine „Geheimwaffe“ bei der Vorbereitung hieß: Marco Mathis. Der Ex-World-Tour-Profi und U23-Zeitfahr-Weltmeister von 2016 kehrte in diesem Jahr auf die Bahn zurück. Zusammen mit Franz Groß vom RC Luckau trainierte er eine Woche lang mit den Fahrerinnen des deutschen Vierers. Mathis konnte wegen fehlender Starts bei Weltcups – eine der Voraussetzungen, sich für Olympische Spiele zu qualifizieren – nicht in das deutsche Männer-Olympia-Team integriert werden. „Wir haben versucht, sie noch schneller und härter zu machen, was wohl ganz gut gelungen ist“, sagte Marco Mathis über den Erfolg der Frauen in Tokio. „Eine Medaille habe ich ihnen zugetraut, denn man hat in jedem Trainingslauf gemerkt, wie stark sie unterwegs waren. Dass es aber Gold werden würde, das hatte ich nicht erwartet.“
Mieke Kröger musste vor einem Jahr in Berlin bei den Weltmeisterschaften zuschauen. In Tokio war sie ein fester Bestandteil des Vierers. Die Bielefelderin gilt als „Lokomotive“ des Vierers. „Ich bin der Dieselmotor des Teams“, sagt die 28-Jährige, die schon als Juniorenfahrerin 2011 Weltmeisterin in der Einer-Verfolgung war. Der Bundestrainer passte die Taktik an ihre Stärken an: Er übertrug ihr die Führungsposition über ganze vier Runden. „Das hat super geklappt. In dieser Phase konnten sich die anderen Mädels ausruhen“, sagt Mieke Kröger, die nach dieser „Monster-Führung“ rund 1000 Meter vor dem Rennende ausscherte. Die drei anderen vollendeten den Goldlauf.
„Wichtig war, dass wir alle in unserem Lauf geblieben sind. Das hat uns geholfen, das Rennen gleichmäßig durchzuziehen. Es war wichtig, ruhig zu bleiben und unsere Strategie zu Ende zu bringen. Das Gefühl bei der Siegerehrung ist gar nicht zu beschreiben. Das ist Gänsehaut pur“, sagt Lisa Brennauer. Die 33-jährige Allgäuerin hat bereits 18 WM- und EM-Medaillen gewonnen. 2014 wurde sie Weltmeisterin im Zeitfahren auf der Straße – vier Jahre später gewann sie in Glasgow die Europameisterschaft in der 3000-Meter-Einerverfolgung. Doch das Olympiagold von Tokio überstrahlt alles. Franziska Brauße ist erst 22 Jahre alt – und hatte in den vergangenen zwei Jahren bereits drei Europameister-Titel gewonnen: „Wir haben mit einer Medaille spekuliert und waren nach der Quali erst mal erstaunt, dass die anderen nicht an unsere Zeit herankamen. Dann war klar: Wir wollten unbedingt dieses Gold und sind immer schneller geworden. Und wir wollten den Britinnen nicht den Weltrekord überlassen.“
Talent und Gefühl
Lisa Klein ist eine absolute Allrounderin: Seit 2018 startet sie für das deutsche Straßenteam Canyon-Sram Racing. Auf dem Rennrad gewann sie unter anderem zweimal die Baloise Ladies Tour und die Healthy Ageing Tour.
Die 25-Jährige stammt aus Saarbrücken und lebt in Erfurt. Sie hatte lange gesundheitliche Probleme. Im Januar erkrankte sie auch noch an Gürtelrose. Sie war es, die bereits nach der Heim-WM von Berlin ankündigte: „In Tokio fahren wir um die Goldmedaille.“ Lisa Brennauer, Franziska Brauße und sie hatten dort in der Einerverfolgung die Plätze zwei bis vier belegt. „Welche Nation hat schon so viele starke Verfolgerinnen?“
Olympia-Gold
Nach eineinhalb Jahren, in Tokio, hat sie ihr Ziel erreicht: Olympia-Gold. „Es ist einfach eine Harmonie. Das haben wir ganz gut drauf. Wenn es läuft, ist es wie auf Schienen. Man ist so im Fokus, sieht nur das Hinterrad vor sich, macht sich klein und gibt alles“, beschreibt Klein den Geschwindigkeitsrausch, der das Quartett zu Gold führte. Die Goldmedaille von Tokio war erst die zweite im Frauen-Ausdauerbereich für den BDR. 1992 gewann Petra Roßner in Barcelona Gold in der Einerverfolgung. Die Geschichte der Mannschaftsverfolgung der Frauen ist eine junge: Bei den Weltmeisterschaften 2008 gehörte sie erstmals zum WM-Programm. Damals startete man nur zu dritt. Erst seit 2014 stehen vier Frauen am Start. Deutschland belegte bei der WM-Premiere 2008 Platz drei hinter Großbritannien und der Ukraine. Es war die einzige Medaille in der Mannschaftsverfolgung bis zur Heim-WM im Vorjahr.
Zwar konnte Deutschland immer mit guten Verfolgerinnen punkten, wie mit Judith Arndt, die 1997 Weltmeisterin war und noch drei weitere Medaillen holte, doch in der Team-Disziplin zählte man lange nicht zur Weltspitze. Seit 2012 ist die Team-Verfolgung der Frauen olympisch. In London wurden Judith Arndt, Charlotte Becker und Lisa Brennauer Achte unter zehn gestarteten Teams. Lisa Brennauer zog sich kurz darauf von den Bahn-Wettbewerben zurück, um sich ganz auf den Straßen-Rennsport zu konzentrieren. 2016 belegte der deutsche Vierer der Frauen bei den Spielen von Rio „nur“ Rang neun. Ab 2018 zeigte die Leistungskurve bergauf. Auch wegen eines Comebacks: Lisa Brennauer beendete ihre Auszeit und wurde wieder ein Teil des Teams. Bei der WM in Apeldoorn, Niederlande, belegten Stock, Brennauer, Becker und Brauße Platz fünf. In Pruszkow, Polen, ein Jahr später fuhren die deutschen Verfolgerinnen auf den sechsten Platz. Lisa Klein und Mieke Kröger etablierten sich im Team. Alle drei „Neuen“ sind exzellente Zeitfahrerinnen, die 2019 bei der Straßen-WM im Teamzeitfahren der Mixed-Staffel auf der Straße schon Silber holten – und 2020 den Staffel-EM-Titel gewannen.
Top-Material und Aerodynamik
Der Erfolg des Frauenvierers ist auch der Erfolg des Bundestrainers André Korff. Beim Abschluss-Lehrgang in Frankfurt Oder wurden die letzten Feinabstimmungen vorgenommen. Auch hinsichtlich des Materials. Die Rennmaschinen wurden von den Ingenieuren des FES, des Instituts für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten in Berlin entwickelt und gebaut.
Das Institut wurde 1963 in der DDR als Entwicklungsabteilung für Sportgeräte der Forschungsstelle der DHfK Leipzig mit dem Ziel gegründet, den Spitzensport durch die Entwicklung individuell angepasster Sportgeräte für Athleten zu fördern. Für Rennräder wurden erst Scheibenräder hergestellt, später wurden komplette Fahrräder gebaut. Nach der Wiedervereinigung wurde das Institut weitergeführt und aus Bundesmitteln finanziert. Rechtlich wird das FES gemeinsam mit dem Institut für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig durch den gemeinsamen Trägerverein IAT/FES des Deutschen Olympischen Sportbunds vertreten.
Besonderheiten der Olympia-Räder
Eine der vielen Besonderheiten der Olymia-Spezial-Räder: Die Kettenblätter wurden mit einem besonderen Verfahren getunt. Um den Luftwiderstand zu verringern, wurde die Kette ausgewaschen und mit einem speziellen Puder behandelt. Viele Teile, wie etwa der Vorbau, werden individuell gefertigt und im 3D-Verfahren gedruckt. Die Kosten pro Vorbau: 2000 Euro.
Der Leiter der Rad-Entwicklung, Ronny Hartnick, ist ein ehemaliger Radsportler. Die am FES entwickelten Räder sind auch käuflich zu erwerben. Dies ist eine Vorgabe des Weltverbandes UCI: Die Regelung trat vor einigen Jahren in Kraft, nachdem die Rennmaschinen immer aufwendiger und futuristischer wurden. Dieser „Technologie-Schlacht“ wollte man entgegenwirken, um vor allem weniger finanzkräftige Nationen nicht zu benachteiligen. Die Kosten für ein FES-Rad belaufen sich auf rund 50.000 Euro. Die verwendeten Schlauch-Reifen stammen von Continental.
In der letzten Weltcup-Saison wurden auch ihre Eigenschaften verbessert. Sie bieten nur in der Kombination mit den eingesetzten Carbon-Scheibenrädern eine optimale Aerodynamik. Die Zeitfahr-Helme von Casco wurden im Winter nach einigen Tests im Windkanal ebenfalls weiter optimiert, genau wie die Rennanzüge von Bioracer, die verschweißte Nähte haben. Jeder Athlet wird genau vermessen, jeder Anzug individuell nach Maß gefertigt. Die perfekte Aerodynamik des Materials bringt Zeitvorteile, die den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen können. Für den Erfolg des deutschen Frauen-Vierers in Tokio haben viele Menschen jahre- und monatelang hart gearbeitet und ihr Wissen eingesetzt. Seit dem 3. August 2021 weiß jeder von ihnen, dass sich dieser Einsatz voll gelohnt hat. Es war das goldene Ende einer Phase – und der Beginn einer neuen.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 10/2021. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.