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Radsport-Historie: Deutscher Vierer bei den Olympischen Spielen 1972

Gold-Vierer

Radsport-Historie: Deutscher Vierer bei den Olympischen Spielen 1972

50 Jahre vor den aktuellen European Games in München schrieb der deutsche Bahn-Vierer unter Bundestrainer Gustav Kilian hier Radsport-Geschichte.
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Sport und Geschichte sind miteinander verwoben. Sport schreibt Geschichte und ist ein Teil von ihr. Vor einem halben Jahrhundert war die Welt eine andere. Dieses Land war geteilt. München, der 4. September. Es ist der Tag des Vierer-Finals der Olympischen Spiele von 1972. Es ist der Tag eines deutsch-deutschen Duells: BRD gegen DDR. Für die DDR gingen Thomas Huschke, Heinz und Herbert Richter und Uwe Unterwalder an den Start. Für die Bundesrepublik: Udo Hempel, Günther Schumacher, Jürgen Colombo und Günter Haritz.

An diesem Montagabend des 4. September wehte eine sanfte Brise über die offene Bahn in München. Der Bundestrainer Gustav Kilian, den sie auch den „eisernen Gustav“ nannten, kannte die Stärken seiner Fahrer genau und wusste sie in jedem Lauf richtig einzusetzen. Und: Er war er ein Meister darin, sich immer wieder neue technische Tricks einfallen zu lassen.

So fuhr das Quartett im Finale mit kürzeren Kurbeln: Statt der übliche 170er ließ Kilian 167,5-Millimeter-Kurbeln montieren. Auch bei der Übersetzung wurde getüftelt. Die Mechaniker ketteten schließlich: 51 x 15. Schon die erste Runde lief, aus der Sicht des BRD-Vierers, perfekt: Die „Wessis“ gingen in Führung, 0,27 Sekunden vor den Fahrern der DDR. Und bauten sie aus: Nach 4000 Metern waren es 3,11 Sekunden Vorsprung bei einer Fahrzeit von 4:22,14 Minuten. Kilians Fahrer holten sich die Gold-Medaille.

Aus deutscher Sicht erlebten die Olympischen Bahnwettbewerbe in München vor einem halben Jahrhundert mit dem Sieg des bundesdeutschen Bahnvierers einen großartigen Abschluss. Der Vierer war in den 60er- und 70er-Jahren das „Flaggschiff der Nation“. 1964 bei den Olympischen Spielen von Tokio noch als gesamtdeutsche Mannschaft gestartet und erstmals mit Gold dekoriert, gewann das Quartett vier Jahre später in Mexiko Silber. Allerdings wurde ihnen diese Medaille erst sehr viel später überreicht. Wegen „unerlaubten Anschiebens“ durch Jürgen Kißner wurde die Mannschaft zunächst disqualifiziert.

Skandale und Rekorde

Kißner war aus der DDR geflohen, weshalb Vermutungen aufkamen, der damalige Chef-Kommissär Jürgen Gallinge, DDR, habe die Disqualifizierung durchgedrückt. Italien, das statt Deutschland Silber erhalten sollte, verweigerte die Annahme der Medaille. Monate später revidierte ein Schiedsgericht jenes „Skandal-Urteil von Mexiko“. Nach diesen Vorkommnissen gab es für den BDR-Vierer in München nur ein Ziel: Gold.

Udo Hempel war schon 1968 in Mexiko am Start. Im Finale von München war er einer der Stärksten – obwohl er im Viertelfinale „schwächelte“ und im Halbfinale deshalb durch Peter Vonhof ersetzt worden war. Udo Hempel, Günther Schumacher, Jürgen Colombo und Günter Haritz fuhren in der Qualifikation technisch perfekt und bestanden die erste Bewährungsprobe glänzend. Mit 4:23,54 Minuten fuhren sie Bestzeit.

Zum Vergleich: Heute liegt der Weltrekord, gehalten vom italienischen Vierer, bei 3:42,032. Der DDR-Vierer war in München in der ersten Runde zwei Sekunden langsamer als die Konkurrenz aus dem Westen. Die Weltmeister aus Italien fuhren unsauber, fanden nicht zusammen und waren mit 4:31,61 Minuten nicht nur acht Sekunden langsamer als der BRD-Vierer, sondern verpassten als Neunte den Sprung in die nächste Runde und schieden aus.

Italiens Einbruch

Die Italiener erlebten bei diesen Spielen einen völligen Einbruch. Sie gewannen nicht eine einzige Medaille, obwohl sie im Bahnvierer damals amtierende Weltmeister waren. Im Viertelfinale erreichte der Kilian-Vierer mit einer Zeit von 4:24,49 Minuten die nächste Runde, obwohl er zwischenzeitlich hinter den Außenseitern aus Bulgarien zurücklag.

Im Halbfinale kam die Mannschaft anfangs nicht in Tritt – und lag sechs Runden hinter Großbritannien zurück. Dann hatte der britische Fahrer William Moore einen Defekt an seinem Rad. Dieser brachte den britischen Vierer so aus dem Rhythmus, dass er von den Deutschen eingeholt wurde. Am Ende fuhren die Briten auf Rang drei – hinter den Athleten der BRD und jenen der DDR.

50 Jahre später erinnert sich Udo Hempel noch immer gern an den größten Triumph seiner Laufbahn: „An München habe ich gute Erinnerungen. Damals hat alles gepasst. Es gibt Dinge im Leben, da hast du nur eine Chance. Und das war in München.“

Mit der Goldmedaille im Bahnvierer und dem Gewinn der Bronzemedaille durch Hans Lutz in der Einerverfolgung zählte der Bund Deutscher Radfahrer 1972 zu den erfolgreichsten Verbänden der Bahn-Wettbewerbe.

Der letzte unbeschwerte Moment

Die DDR-Athleten gewannen in München drei Medaillen – aber keine goldene. Neben dem Vierer holten Jürgen Geschke, der Vater des heutigen Straßenprofis Simon, und Werner Otto Silber im Tandem, und Jürgen Schütze gewann Bronze im 1000-Meter-Zeitfahren. Beide Disziplinen gehören längst nicht mehr zum Olympischen Programm – ebenso wenig wie, leider, die Einerverfolgung.

Die Sternstunde des Vierers in München an diesem Tag war der letzte unbeschwerte Moment dieser Spiele. In jener Nacht griffen palästinensische Terroristen das Olympische Dorf an und töteten elf israelische Sportler. Die Spiele verloren ihre Unschuld.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 8/2022Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

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