Tandem, Deutschland, Indien, Reportage
Tandem-Fahrt von Deutschland nach Indien: Reportage

Ostwärts

Tandem-Fahrt von Deutschland nach Indien: Reportage

Acht Monate, 11.000 Kilometer, zwei Menschen, ein Tandem: eine Rad-Reise von Deutschland nach Indien – und viel weiter. Von Katastrophen und Abenteuern.
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Seit fünf Wochen – und seit 3500 Kilometern – sind wir unterwegs, als wir das Ende Europas sehen, das Ende unseres ersten und den Beginn des zweiten Abschnitts: den Bosporus. Die Meerenge trennt zwei Kontinente und verbindet das Schwarze mit dem Marmarameer. Sie ist 30 Kilometer lang und zwischen 700 und 2500 Meter breit. Für uns ist der Anblick dieses Streifens glitzernden Wassers eine Erlösung.

Neun Länder haben wir bislang durchquert – auf einem schweren vollbepackten Rennrad-Tandem. Die Tage und Wochen zuvor waren ein riesiger Kontrast zu Istanbul, der Metropole am Bosporus. Jener rund 20-Millionen-Einwohner-Stadt, die zu den wichtigsten Orten der Menschheitsgeschichte zählt. Jener Stadt, in der wir unsere erste längere Pause während dieser Reise einlegen werden. Jener Stadt, die so ganz anders ist als das, was wir zuvor erlebten: Einsamkeit, Ruhe, Stille.

Wir stehen hier am Rande Europas und sind zutiefst erschöpft. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Auf-das-Wasser-Starrens und des Vor-Freude-Weinens steigen wir – wohl unbewusst wie im Traum – wieder auf unser Tandem, rollen hinab in die Stadt und stellen schnell fest: Nach der einsamen Walachei und dem ländlichen Bulgarien überfordern der Trubel, der Lärm, die Menschenmassen, das Dauerhupen, der Verkehr, die Gerüche unsere Aufnahmekapazität.

Balkan und Berge

14 Tage lang bleiben wir in der Stadt, die vor mehr als 2500 Jahren gegründet wurde und einst Byzanz, dann Konstantinopel hieß. Wir besuchen die Hagia Sophia und wandern durch die Basare. Und wir nutzen die Zeit, um unsere weitere Reise zu planen und zu organisieren.

Deshalb folgt auf unser Motivationshoch schnell das nächste Tief. Mit der Erkenntnis, dass wir nicht, wie wir es geplant hatten, durch den Iran fahren können. Die aktuell stattfindende Eskalation mit den USA, politische Unruhen und ein Radfahrverbot für Frauen sprechen dagegen. Ein erstes Mal ändern wir spontan unsere Route: Von Istanbul aus fahren wir gen syrischer Grenze entlang der türkischen Mittelmeerküste – vorbei an wunderschönen Stränden, an ursprünglichen Dörfern und Touristenorten, an antiken Stätten und Gräbern der Lykier.

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Mit dem Tandem von Deutschland nach Indien – und darüber hinaus

Zeitdruck

Seit unserem Start in Osnabrück fühlten wir einen Zeitdruck auf uns. Den Druck, uns zu beeilen, den Druck, jeden Tag möglichst viele Kilometer zu „machen“, denn: Wir fuhren ein Rennen gegen den Winter. Gegen Schnee und Kälte, die uns im iranischen Hochland erwarteten. Dieser Druck ist nun – durch die geänderte Route – weg.

Zum ersten Mal rasen wir nicht, sondern reisen. Diese Planänderungen, dieses Umwerfen von Ideen und Zielen, dieses Improvisieren wird zum roten Faden dieser Reise. Einer Reise, die Anfang August 2019 begann. Einer Reise, von der wir schon lange träumten. Unser Traum lautete: Knapp ein Jahr lang die Welt bereisen – und mit eigener Kraft von Deutschland nach Singapur fahren, als Paar auf einem Rennrad-Tandem. Die Idee dazu hatten wir – Viola und ich – zwei Jahre zuvor, als wir während unseres Studiums realisierten, wie viel Freiheit und Flexibilität wir in den letzten Jahren aufgeben mussten, um unseren Wunschberufen einen Schritt näher zu kommen. Irgendwann war uns klar: Nach dem Studium werden wir uns eine Auszeit nehmen – und unsere Leidenschaften Sport und Reisen verbinden. Zwei Kontinente wollen wir durchqueren, angetrieben von den eigenen Muskeln, möglichst ohne Emissionen und dabei Spendengelder für jeden gefahrenen Kilometer sammeln. Diese wollen wir dann während der Reise vor Ort Projekten zukommen lassen, die uns überzeugen.

Planung der Tandem-Tour: Streckenvarianten

Ich weiß nicht mehr, wie viele Streckenvarianten wir durchspielten. Unser erstes potenzielles Wunschziel: China. Doch dabei würden wir den kasachischen und mongolischen Winter erleben.

Irgendwann, nach etlichen Wochen, hatten wir unsere Wunsch-Strecke zusammengestellt: von Norddeutschland aus durch die Balkanländer und die Türkei, den Iran, die Arabische Halbinsel, Indien, Bangladesch, Myanmar, Thailand, Malaysia bis nach Singapur. Die Distanz: irgendetwas zwischen 15.000 und 18.000 Kilometer.

Der nette Nebeneffekt: Wir wären ein Jahr lang unterwegs – ohne dabei je dauerhaft Minustemperaturen zu erleben. Winter-Ausrüstungen für uns beide hätten wir ohnehin nicht am Tandem transportieren können. Soweit die Theorie.

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Vollbeladen mit allem wiegt unser Tandem rund 200 Kilogramm. Das bedeutet: Jeden Höhenmeter muss man sich hart erarbeiten

Pässe und Walachei

Der zweite August, der erste Tag. Zu Hause in Melle bei Osnabrück steigen wir auf unser Tandem – und fahren gen Osten. Mit uns beiden und den sechs Packtaschen wiegt unser Gefährt rund 200 Kilogramm. Wir haben keine Radreise-Erfahrung, kein GPS-Gerät, keine Gewissheit darüber, wo wir schlafen werden und keine genau ausgearbeitete Strecke.

Was wir haben, ist: Motivation, die Lust auf Neues, neue Länder, Landschaften, Kulturen. Wir brauchen nicht lange, um uns an unser neues Nomadenleben zu gewöhnen: Wir fahren zwischen fünf und zehn Stunden Rad pro Tag. Abends bauen wir unser Zelt auf, rollen die Schlafsäcke aus, kochen etwas über unserem kleinen Gaskocher, beobachten die Sterne – und gehen meist früh schlafen.

Countdown im Kopf

Doch vom ersten Tag an haben wir einen Countdown im Kopf: Wir wollen, wir müssen, möglichst schnell den Iran erreichen – um dem Winter zuvorzukommen. Irgendwann sind wir in der Walachei. Einer Region, die wir bislang nur von Sprichwörtern kannten. Es ist Spätsommer. Die Sonne brennt auf uns herab. 33, 35, 37 Grad. Wir fahren stundenlang geradeaus auf derselben schmalen, endlosen Straße vorbei an verdorrten Mais- und Sonnenblumenfeldern.

Nach mehreren Tagen im Zelt bei Temperaturen, die auch nachts nicht unter 25 Grad fallen, sehnen wir uns nach einem Dach über dem Kopf. Und nach einer Dusche. Doch es ist gefühlt eine Ewigkeit her, dass wir einen Zeltplatz – geschweige denn eine Pension – gesehen haben.

Je weiter wir gen Osten fahren, desto einsamer wird es. Die Dörfer, durch die wir gelegentlich kommen, bieten keinerlei Infrastruktur. So geht dieser Tag so zu Ende wie jene zuvor: Kurz vor dem Sonnenuntergang haben wir wieder einmal kein Wasser mehr – und keine Ahnung, wo wir schlafen werden. Als es dunkel wird, erreichen wir ein Dorf und halten vor einer kleinen Krankenstation an. Dort ruft man einen Mann an, der Englisch spricht. Er übersetzt und verhilft uns zu einem Zeltplatz auf einem kleinen vermüllten Grünstreifen zwischen der Krankenhauswand und der Grundstücksmauer.

Unsere bewährte Duschmethode: Man nehme eine volle 1,5-Liter-Plastikflasche und schütte deren Inhalt so vorsichtig durch den durchbohrten Deckel über den eigenen Kopf und den Rest des Körpers, dass er für zwei Personen reicht – und kaum Abkühlung bringt. Seit wir in das Dorf eingefahren sind, umgibt uns eine wachsende Traube von Kindern. Sie beobachten alles, was wir tun.

Warum sind wir hier?

Sobald wir uns völlig erschöpft und noch immer schwitzend in unser Zelt legen, beginnen die Kinder wie wild gegen die dünnen Zeltwände zu trommeln. Es dauert Stunden, bis wir irgendwann – vor Schweiß triefend – einschlafen.

Fragen kommen in unseren Köpfen auf: Warum sind wir hier? Wie sind wir in diese Situation geraten? Der – vielleicht erste, vielleicht auch einzige – Tiefpunkt unserer Reise ist erreicht. Am dritten Tag, nachdem wir endlich die Walachei verlassen haben, erreichen wir das Balkangebirge. Die Daten des ersten „richtigen“ Passes unserer Tour: 18 Kilometer, 1000 Höhenmeter. Jeder einzelne Höhenmeter verursacht uns Schmerzen. Es dauert eine Ewigkeit, bis wir an der Passhöhe sind – und die weiten Ausblicke genießen können. Abfahrt. Bergab schiebt uns das hohe Gewicht unseres bepackten Tandems enorm an. Wir bremsen viel und fahren sehr defensiv und vorsichtig.

Türkei und Meer

Die Tage bis zur türkischen Grenze bestehen gefühlt nur aus: Radfahren, Essen, Trinken und Schlafplätze suchen. Erst als wir die Grenze erreichen, wird uns bewusst, dass wir so viel versäumt haben, dass wir uns nie haben treiben lassen, dass wir zu sehr unser Rennen gegen den iranischen Winter im Kopf hatten. Die Hoffnung auf ein anderes Zeitgefühl, auf das Aufgehen im Reisen, auf Unbeschwertheit, auf das Einlassen auf Neues hatte sich besonders bei Viola in Erschöpfung und Zweifel verwandelt. Gespräche mit anderen Reiseradfahrern, die wir unterwegs treffen – und der Gedanke an den guten Zweck unserer Tour – bringen uns zurück in die Spur.

Die nächsten Tage entlang der türkischen Ägäis- und Mittelmeerküste bringen uns: Strände, Wärme, Meerblicke, Gastfreundschaft. Von Antalya aus biegen wir gen Norden ab und fahren ins Landesinnere. In der für den Sufismus und den Mevlana-Orden bekannten Stadt Konya legen wir eine Pause ein, bevor wir nach Kappadokien weiterfahren – einer Region, die zu einem Highlight unserer Reise wird. Diese Landschaft ist in der Realität so viel schöner und beeindruckender als auf Bildern oder in TV-Dokumentationen. Wir rollen vorbei an Hunderten Felsspitzen aus Tuffstein, in die Höhlen, Festungen, Kirchen und ganze unterirdische Dörfer gegraben sind.

Jeden Tag wandern wir im Licht unserer Akku-Lampen durch andere Höhlensysteme. Es ist jedes Mal wie eine Wanderung durch die Vergangenheit. Doch mitten in unserer sich immer weiter aufbauenden Euphorie passiert es: Während des Fahrens hören wir auf einmal ein ekliges metallisches Geräusch – und treten plötzlich ins Leere. Die Hinterradnabe des Tandems ist gebrochen. Wir sind mitten im „Nirgendwo“ – keine Stadt, kein Radgeschäft, keine Autos, keine anderen Menschen um uns herum – und kommen keinen Meter, keinen Tritt weiter.

Unsere erste Reaktion: Wir setzen uns auf einen kleinen Hügel neben der schmalen Straße und packen unser Mittagessen aus. Brot und Oliven. Längst wissen wir: Panik bringt nichts. Nach diesen ersten Monaten unserer Reise haben wir ein Urvertrauen entwickelt, das da lautet: Es gibt immer eine Lösung. Früher oder später. Zeit ist relativ. Wir beginnen damit, unser Tandem zu entladen, das Hinterrad auszubauen und das Ritzelpaket abzuziehen. Als ich den Freilauf öffne, springen mir die abgebrochenen Sperrklinken entgegen. Totalschaden.

Kommunikation ohne Worte

Wir schauen uns an und kommunizieren ohne Worte. Wir sind verloren. Objektiv gesehen. Wir setzen uns an den sandigen Straßenrand und essen weiter. Nach einer halben Stunde sehen wir in der Ferne eine Staubwolke. Eine Wolke, die sich nähert. Als das Auto in Sichtweite kommt, beginnen wir zu winken. Der Fahrer des Pick-ups hält an. Wir versuchen mit Händen und Füßen unser Problem zu erklären – und dürfen zwei Minuten später unser Tandem samt Gepäck und uns selbst auf die Ladefläche laden. Irgendwann erreichen wir ein Dorf, in dem es einen kleinen Radladen gibt. Die Räder, die dort verkauft werden, sind auf dem Stand der Technik der 1990er-Jahre. Ein Ersatzteil finden? Unmöglich. Also versuche ich zu improvisieren – und schleife die abgebrochenen Sperrklinken an dem Schleifstein der kleinen Werkstatt zurecht. Als ich damit fertig bin, puzzeln wir die Einzelteile in den Freilauf und schauen, ob sich etwas bewegt. Es funktioniert.

Wir fahren weiter. Einen Kilometer weit – dann kracht es zum zweiten Mal. Die angeflexten Sperrklinken sind zerbrochen. Wir stehen in der Halbwüste. Es beginnt zu dämmern. Und die nächste Großstadt, in der es – vielleicht – ein passendes Ersatzteil geben könnte, Nevsehir, ist 40 Kilometer entfernt. Wir haben nur eine Chance: trampen. Nur, in welches Gefährt passen schon zwei Menschen und ein Tandem mit etlichen Taschen daran? In jenes, das drei Schiebe-Kilometer später neben uns hält: ein alter LKW mit einer großen leeren Ladefläche. Pantomimisch und mit unseren wenigen Brocken Türkisch handeln wir aus, mitgenommen zu werden. Die beiden dauerrauchenden Fahrer nehmen uns bis zum Stadtrand mit. Von dort aus schieben wir unser kaputtes Tandem rund eine Stunde lang, bis wir das Stadtzentrum erreichen. Dort finden wir ein kleines Hotel. Am nächsten Tag ziehe ich voller Euphorie los, um in der 300.000-Einwohner-Stadt ein Ersatzhinterrad zu kaufen.

Defekt und Rettung

Es dauert Stunden, bis ich ein kleines Radgeschäft finde. Es ist geschlossen. Ich warte zwei Stunden lang, bis der Inhaber angeschlurft kommt, die defekte Nabe begutachtet und mir dann klarmacht, dass er mir nicht helfen kann. Die nächsten Stunden über wandere ich von einem vermeintlichen Radgeschäft zum nächsten – und stelle fest: Kein Rad hier ist über die Technik einer Sieben-Gang-Schaltung hinausgekommen.

Die Nacht verbringen wir damit, im Internet nach einer passenden Nabe für unser Tandem zu suchen. Doch wir finden keine praktikable Lösung. Der nächste Morgen, die nächste Idee: Wir zerschneiden unsere Ersatzspeichen und schlagen die Metallstückchen mit einem Hammer in die Zwischenräume der zerbrochenen Sperrklinken, sodass der Freilauf fest mit der Nabe verbunden ist. So kann wieder Kraft auf das Rad übertragen werden. Zu dem Preis, dass wir keinen Leerlauf mehr haben und ständig mittreten müssen.

Mitten durch Kappadokien

Wir fahren weiter, mitten durch Kappadokien. Am nächsten Morgen breche ich noch vor dem Morgengrauen auf, um unglaubliche Szenen zu sehen: Hunderte von bunten Heißluftballons, die über diese surreale Felsnadel-Landschaft schweben. Ich klettere auf einen nahen Berg – und sehe von dort aus in dem Tal unter mir einen kleinen Campingplatz, auf dem ein Tandem steht.

Tandem, Heißluftballons

Hunderte von bunten Heißluftballons, die über diese surreale Felsnadel-Landschaft schweben

Ich steige ab und erlebe etwas, das man nur erlebt, wenn man sich voller Urvertrauen offen für alle Zufälle treiben lässt: Die beiden Tandemreisenden, die ich hier kennenlerne, sind gleichalt wie wir, auch als Paar unterwegs und aus den Niederlanden. Und: Auch sie haben ein 40-Speichen-Hinterrad in ihrem Tandem. Die Nabe ist unversehrt, doch an der Felge sind Speichenösen ausgerissen. Die beiden sind am Ende ihrer Reise und kurz davor, zurück in die Niederlande zu fliegen. Und so kommt es, dass wir mitten in der Natur Kappadokiens fernab jeder Stadt zwei 40-Speichen-Laufräder ausspeichen, die Naben austauschen, mit neuen Speichen wieder einspeichen und alles zentrieren. Unsere Reise ist gerettet.

Armut und Hoffnung

Nach sechs Wochen in der Türkei ändern wir mal wieder unsere Pläne – und unsere Route: Wir beschließen spontan, mit der Fähre nach Zypern überzusetzen, statt im herbstlich-kalten Anatolien weiterzufahren. Zwölf Tage lang bleiben wir auf der Insel, die uns wunderbare Strände, wärmere Temperaturen, reife Früchte am Straßenrand und tolle Gastgeber bietet. Unsere weitere Route war uns lange unklar. Da wir den Iran und Pakistan „auslassen“, aber dennoch die Arabische Halbinsel sehen und erleben wollen, steigen wir schließlich widerwillig in ein Flugzeug, das uns von Zypern nach Dubai bringt.

Es folgen drei Tage Großstadtwahnsinn: Hochhäuser, Luxus, Hitze – der absolute Kontrast zu dem, was wir erleben, nachdem wir die Stadtgrenze hinter uns lassen. Wir fahren durch die leere Einsamkeit, durch die Wüste in Richtung Süden. Unser nächstes Ziel: Maskat, die Hauptstadt des Omans. Was wir während dieser zwei Wochen auf der Arabischen Halbinsel erleben: eine unglaubliche Gastfreundschaft, wundervolle Begegnungen, eine Einladung zum Übernachten und Essen auf einer Kamelfarm, Kamelreiten, eine Nacht im Haus einer traditionellen Großfamilie mit einer eigenen Dattelpalmoase – einschließlich Schießübungen auf Dosen mitten in der Wüste – und noch etliche weitere Gesten der Hilfsbereitschaft.

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In Varanasi, der heiligen Stadt am Ganges, der Stadt der Toten, passiert es: Wir werden geschnitten und geraten in den Gegenverkehr. Ein Pick-up kommt frontal auf uns zu. Einschlag

Gastfreundschaft

Die Großzügigkeit und Gastfreundschaft der Emiratis und Omanis ist überwältigend. Zu den vielen Gastgeschenken, die wir erhalten, zählt zum Beispiel ein Fünf-Kilogramm-Sack Datteln. Zum Glück sind die Straßen durch die Wüste fast kurven- und höhenmeterlos. In Maskat ergibt sich ein neues Problem: Wie sollen wir den Indischen Ozean überqueren? Unsere erste Idee, auf einem Containerschiff mitzufahren, stellt sich sehr schnell als nicht umsetzbar heraus. Ergo steigen wir Ende November nach elend langen Visumsproblemen am Flughafen, die Viola beinahe die Weiterreise kosten, in den Flieger und landen knapp drei Stunden später in Mumbai.

Noch im Flughafen bauen wir das Tandem wieder zusammen. In jener Sekunde, in der wir das Gebäude verlassen, erleben wir einen Kulturschock. Von einem Moment auf den nächsten sind wir umgeben von: Lärm, Menschentrauben und schwüler, stickiger, stinkender Luft, in der sich die Gerüche von Abgasen, Abfällen und die Aromen von Gewürzen und frittiertem Streetfood vermischen. Was wir sehen: ein Gewusel aus Menschen, Tieren, klapprigen Autos, Tuktuks, Rikschas, Fahrradfahrern, Rollerfahrern und Arbeitern, die aufgetürmte Lasten auf morschen Holzkarren vorwärtsbewegen. Es hilft nichts: Wir müssen auf unserem 200-Kilogramm-Tandem ein Teil dieses Chaos, dessen Ordnung wir noch nicht verstehen, werden. Wir fahren los. Was wir in den folgenden Stunden sehen, erschüttert uns. Der Weg aus der Stadt heraus kostet uns etliche Nerven und Tränen. Wir sind getroffen von den Szenen.

Reichtum?

Den viel zitierten Reichtum von Teilen Mumbais sehen wir nicht. Vielleicht ist es auch besser so, denn die riesige Schere zwischen Arm und Reich zu sehen, hätte das Ganze wohl noch schwieriger zu verarbeiten gemacht. Hinter den Stadtgrenzen sinkt unser Stresslevel langsam ab – auch wenn man auf den „Landstraßen“ aufgrund etlicher riskanter Überholmanöver vieler Auto-, Van- und Busfahrer, Schlaglöcher, Tieren auf der Fahrbahn et cetera immer voll konzentriert sein muss.

Von Tag zu Tag gewöhnen wir uns besser an dieses fremde Land. Permanent werden wir von Menschen auf Motor-Rollern während der Fahrt angesprochen und zuverlässig nach einem Selfie gefragt. Am frühen Abend erreichen wir meist unser Tagesziel. Viola geht an den Straßenständen einkaufen. Supermärkte, wie wir sie kennen, gibt es nicht. Während ich warte, bin ich fast immer von einer Traube Menschen umgeben, die Fragen stellen, Fotos machen und alle Teile unseres Rades und unserer Ausrüstung begutachten und befühlen.

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Bilder, die sich einbrennen

Fjorde und Gletscher

Mitte Dezember, kurz vor Weihnachten, erreichen wir – nach rund 2000 Kilometern durch Indien – eine „Oase der Ruhe“, einen Ort, an dem wir etwas entspannen können: Bhopal. Wir kommen in einem Zentrum eines katholischen Ordens, das von Father Franklin geleitet wird, unter. Als sei es selbstverständlich, nimmt man uns dort auf. Die Priester sorgen hier für rund 1000 Waisen- und Straßenkinder – und ermöglichen ihnen eine Schulbildung. Die finanzielle Grundlage dafür stellt die Indienhilfe Deutschland bereit. Die vielen Kinder kommen aus allen Regionen des Landes. Einige haben Hunderte oder Tausende Kilometer hinter sich gebracht, um an diesem Zentrum eine Chance zu bekommen und einer perspektivlosen Zukunft in einem Slum zu entkommen. Die Lebensfreude der Kinder ist unbeschreiblich. Zu sehen, wie sie einerseits glücklich und ausgelassen, aber auch – wenn es um den Unterricht geht – extrem höflich und diszipliniert sein können, überwältigt uns.

Für Lebensfreude braucht es keinen materiellen Reichtum. Dies ist eine der vielen Lektionen, die wir während dieser Reise lernen. Die Kinder schlafen in kahlen Räumen. 80, 90, 100 von ihnen nebeneinander auf dünnen Unterlagen. Es gibt weder Betten noch ein Badezimmer, wie wir es kennen. Gekocht wird über offenem Feuer in riesigen Kübeln. Dennoch scheint es den Kindern an nichts zu fehlen, außer vielleicht an der Liebe der fehlenden Eltern. Wir verbringen zwei Wochen bei ihnen – und sind uns einig: Wir haben das Projekt gefunden, dem unsere gesammelten Spendengelder zu Gute kommen sollen. Mit dem Geld soll Schulmaterial für die Kinder gekauft werden. Schweren Herzens brechen wir einige Tage nach Weihnachten auf – und verlassen diese kleine Oase der Hoffnung und der Ruhe in Richtung Bangladesch. Unser nächstes Teil-Ziel: die 30-Millionen-Einwohner-Stadt Kalkutta. Doch: Wir kommen dort nicht an. Kurz vorher, in Varanasi, der heiligen Stadt der Hindus, der Stadt der Toten am heiligen Fluss Ganges, erleben wir Unvorstellbares. Nach einer Nacht in einer günstigen Pension fahren wir los. Durch die Stadt, über eine breite Brücke, die den Ganges überspannt. Und dann geschieht es: Ein Auto rast an uns vorbei und streift dabei den Lenker des Tandems. Ich versuche intuitiv noch gegenzulenken. Vergeblich. Wir geraten in den starken Gegenverkehr. Ein Pick-Up kommt auf uns zu. Einschlag.

Unfall

Die Frontscheibe des Autos zersplittert. Wir stürzen in den Scherbenhaufen. Viola schreit. Ich spüre sofort, in der ersten halben Sekunde, dass mein Schlüsselbein gebrochen ist.

Es dauert 30 Sekunden, bis wir uns etwas beruhigt haben und wieder denken können. Wir setzen uns an den Straßenrand. Es riecht nach Müll, Exkrementen und verfaulenden Kadavern. In meinem Kopf rattert es: Geht es Viola gut? Was sollen wir tun? Wie den Bruch versorgen? Ist dies das Ende unserer Reise? Was passiert mit unseren auslaufenden Visa?

Die Schmerzen sind so stark, dass ich kurz davor bin, ohnmächtig zu werden. Wir fragen uns durch und fahren mit einem Taxi in ein „Krankenhaus“. Das flache, modrige Gebäude gleicht einer Tiefgarage. Die „Behandlungskabinen“ sind mit Duschvorhängen abgetrennt. In diesem Keller werde ich noch am selben Abend operiert. Nach einer kalten Nacht mit üblen Gerüchen, Moskitos und Geckos entscheiden wir uns, die Behandlung selbst fortzuführen und flüchten in ein Hotel mit Heizung.

Der Tiefpunkt unserer Reise ist erreicht. Es sind die belastendsten Tage unseres bisherigen Lebens. Wir erarbeiten einen Plan B, denn in Indien können wir unter diesen Umständen, und wegen unserer auslaufenden Visa, nicht bleiben. Doch wir wollen nicht zurück nach Deutschland. Nicht jetzt. Nicht so. Wir entscheiden uns dafür, nach Neuseeland zu fliegen, um uns in einem „westlichen“ Land mit funktionierendem Gesundheitssystem zu erholen, bis eine Weiterreise möglich ist. Es ist Ende Januar, als wir in Auckland landen. Mitten im neuseeländischen Sommer. Wir sind physisch und psychisch tief erschöpft. In Neuseeland erleben wir einen riesigen „Kulturschock rückwärts“. Die Kontraste im Vergleich zu Indien könnten kaum größer sein. Wo ist all der Müll, der Dreck, die bettelnden Menschen und die Kühe, die überall den Straßenverkehr blockieren? Drei Wochen dauert es, bis wir im Stande sind weiterzufahren. Unsere Route: von Invercargill, der südlichsten Stadt Neuseelands, aus immer gen Norden. Mitte April wollen wir wieder in Auckland, der größten Stadt des Landes, sein.

Schönheit und Glück

Wir sind es nicht mehr gewohnt, dass alles so „glatt“ abläuft. Mit jedem Tag werden wir entspannter. Jeden Tag – nein jede Stunde – sehen wir andere Natur-Schönheiten: Fjorde, Gletscher, Traumstrände, Urwälder, schneebedeckte Berge. Neuseeland bietet unglaublich viel auf kleinem Raum. Wir fahren rund 2000 Kilometer weit über die Südinsel. Als wir irgendwann in der Ferne den markanten schneebedeckten Aoraki – wie er in der Sprache der Maori heißt – sehen, sind wir beide überwältigt: Der Mount Cook ist mit seinen 3724 Metern der höchste Berg der neuseeländischen Alpen, und des ganzen Landes. Seine Gletscher speisen wunderschöne, türkisblau leuchtende Seen.

An der Pazifikküste fahren – und wandern – wir vorbei an riesigen Seelöwenkolonien. Dies sind nur zwei von Dutzenden – nein Hunderten – neuseeländischen Szenen und Landschaften, die wir nie wieder vergessen werden. Es sind Landschaften, deren Schönheit fast schon kitschig ist. Doch Anfang März fällt ein Schatten auf unser Paradies: ein bis dato noch unbekanntes Virus. Als die ersten Covid-19-Fälle in Neuseeland auftreten, entwickelt sich das Finale unseres Trips zu einem Rennen gegen den kommenden Lockdown. Kurz bevor jegliches Reisen verboten wird, erreichen wir Auckland und hoffen auf einen Rückflug nach Europa. Nach Tagen des Wartens erhalten wir die Nachricht: Wir dürfen an Bord eines Flugzeugs nach Deutschland. Nach rund 24 Stunden sind wir – früher als wir es geplant hatten – wieder dort, wo alles acht Monate und rund 11.000 Rad-Kilometer zuvor begann. Wie schrieb einst John Lennon: „Leben ist das, was passiert, während wir andere Pläne machen.“ Diese Reise hat uns als Menschen, und als Paar, extrem gefordert – und dennoch letztlich stärker verbunden. Wir sind den Menschen, denen wir begegneten, so dankbar für ihre Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft. Sie haben unser optimistisches Weltbild bestätigt.

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Die Autoren und das Team

Julian Hellmann, 30, fährt seit 2007 Lizenz-Radrennen. Seit 2016 startet er für das deutsche Team Embrace the World. Im Fokus dieser Equipe stehen die Teilnahme an afrikanischen Rundfahrten und das Sammeln von Spenden für die Länder, in denen die Radrennen stattfinden.

Viola Rissel, 27, ist Triathletin und Musikerin. Nachdem beide 2019 ihr Humanmedizin-Studium abgeschlossen hatten, brachen sie zu einer Weltreise mit einem Rennrad-Tandem auf. Dieses Radreiseabenteuer hielten sie später in Form eines Buches fest. Die Einnahmen aus dessen Verkauf kommen der Indienhilfe Deutschland zu Gute.

Der Titel des Buches: „Soweit das Rad uns trägt – mit dem Tandem von Europa nach Asien“. 186 Seiten, 85 Farbbilder. Die ISBN: 978-3-7308-1711-7. Der Preis: 20 Euro.


Das Material

„Wir wollten ein Rennradtandem, das uns schnell und zuverlässig voranbringt und viele Griffmöglichkeiten für die Hände bietet. Ein Jahr vor dem geplanten Reisebeginn fanden wir endlich ein gutes, nur wenig gebrauchtes, leuchtend rotes Rennradtandem mit einem Aluminiumrahmen und sehr robusten 40-Speichen-Laufrädern. Im Laufe der Vorbereitungsmonate beschäftigten wir uns immer intensiver mit der notwendigen Ausrüstung. Welche Reifen, welche Gepäckträger, welches Zelt, welche Isomatten? Wie würden wir unsere Handys aufladen?

Für all diese Fragen fanden wir Antworten. Die Reifen erhielten wir über einen Freund, der bei Continental arbeitet: Mit dem Modell Top Contact für E-Bikes hatten wir einen idealen Reifen für unser Unterfangen, wie sich im Laufe der Zeit zeigen sollte. Als letztes Problem blieb ein guter Sattel. Wir fragten bei Ergon an und wenige Tage später erreichten uns zwei neue Tourensättel in den unseren Sitzknochen entsprechenden Größen, die uns in den kommenden Monaten extrem gute Dienste leisten sollten. Um einem möglichen Materialversagen vorzubeugen, versuchten wir immer, so wenig Gewicht wie möglich mitzunehmen.

Und gerade diese erzwungene Abstinenz von vielen überflüssigen Alltagsdingen war es, die es einem erlaubte, sich auf das wenige Wesentliche im Leben zu konzentrieren und die befreiend wirkte. An unserem Tandem montierten wir letztlich sechs Taschen: eine ‚Privattasche‘ pro Person, eine für Nahrung, eine für Ersatzmaterial, Medizin und Elektronik, eine mit unserem Zelt darin und eine mit weiterer Campingausrüstung.“ Julian Hellmann

Dieser Artikel erschien in der RennRad 11-12/2021Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

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