Bewegungsmangel, Leitartikel, Gesundheit, Krankheit
Bewegungsmangel und seine Folgen: Gründe und Lösungsansätze

To nudge or not to nudge

Bewegungsmangel und seine Folgen: Gründe und Lösungsansätze

Das Wissen um die Zusammenhänge zwischen Bewegung, Krankheit und Gesundheit ist da – dennoch wächst die Zahl der sportfernen bewegungslosen Menschen. Von Gründen und Lösungen.
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Radfahren – und dabei Geld verdienen. Dies kann man als Radprofi – jedoch ist der Lohn meist eher, in der Relation zum Zeitaufwand und der Belastung, gering. Das Mindestgehalt der Radprofis, die für WorldTour-Teams fahren, liegt bei 40.045 Euro. Geld bekommen fürs Auf-dem-Rad-Sein: Dies kann auch als Radkurier klappen. Aber: Auch hier verdient man meist eher wenig. Es funktioniert, theoretisch, auch als E-Rikscha-Touristen-Kutschierer – man verdient aber meist recht wenig. Oder als Lieferdienst-Fahrer – man verdient aber meist sehr wenig. Oder als RennRad-Magazin-Angestellter – wobei der Radfahranteil an den durchschnittlichen Wochen-Arbeitsstunden leider viel zu gering ist.

Oder zu Hause. Im eigenen Wohnzimmer oder Keller. Auf einem stationären Smart-Ergometer. Angeblich. So lauten zumindest die Versprechungen eines südkoreanischen Start-ups. Konkret: Man sitzt auf dem Rollentrainer, bewegt die Pedale – und „schürft“ mit jedem Tritt eine Kryptowährung namens „Cardiocoin“. Innerhalb der ersten Wochen nach der Markteinführung sollen so in Südkorea mehr als 10.000 US-Dollar verdient worden sein. Das Unternehmen hinter diesem Konzept, die Cardio Healthcare Company, hat demnach eine Kryptowährung geschaffen, für deren Erzeugung – anders als etwa für den Bitcoin – keine enormen Energiemengen notwendig sind.

Der Bitcoin, die „Mutter aller Kryptowährungen“, wird seit 2009 durch das sogenannte Mining erzeugt. Die Produktion basiert auf der Blockchain-Technologie: Alle Bitcoin-Transaktionen werden als kryptografisch verkettete Datenblöcke gespeichert. Ein Netzwerk von Minern, den „Schürfern“ der digitalen Münzen, verifiziert dabei jede Transaktion und stellt sicher, dass der Datenblock korrekt erzeugt wurde. Miner, die als Erste eine bestimmte Anzahl von Transaktionen verifizieren und den korrekten Block bereitstellen, werden mit neuen Bitcoins belohnt. So ist in den vergangenen Jahren ein Wettbewerb entstanden, in dem Miner auf der ganzen Welt darum konkurrieren, der sogenannten Blockchain so schnell wie möglich neue Elemente hinzuzufügen. Je höher die Rechnerleistung, desto schneller können neue Elemente hinzugefügt werden. Da auch die Zahl der Miner immer größer wird, steigt der Energiebedarf zum Schürfen der Bitcoins extrem an. Nach einem Bericht des Fachmagazins „Scientific Reports“ hatten die globalen Mining-Aktivitäten im Jahr 2020 einen Stromverbrauch von 75,4 Terawattstunden – mehr Energie, als Länder wie Österreich oder Portugal in jenem Jahr genutzt haben.

Im Kontrast dazu hat das südkoreanische Start-up unter anderem nicht nur ein eigenes Metaverse, eine virtuelle Welt, auf den Markt gebracht, das nur über das eigene, dazu passende Smartbike „zugänglich“ ist, sondern auch eine Kryptowährung geschaffen, die durch Bewegung verdient werden kann. Das Konzept: Die Nutzer sitzen auf ihren Ergometern, treten, spielen Spiele und bewegen ihre Avatare so durch virtuelle Welten, die auf ihren Bildschirmen zu sehen sind. Doch: Die Bewegung ist nicht umsonst. Man erhält je eine Belohnung: Cardiocoins. Laut der Pressemitteilung des Unternehmens wurden bei den Betatests in Fitnessstudios in Südkorea während fast 26.000 Trainingseinheiten und 7400 Stunden 43.744 virtuelle Kilometer zurückgelegt.

Dilemma der Moderne

Das Beispiel steht für eine Grundsatzfrage – und ein Dilemma der Moderne. Jeder in einer aktuellen Wissens-, Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft kennt, zumindest grob, die Zusammenhänge zwischen Bewegung, Ernährung, Gesundheit und Krankheit.

Und dennoch nimmt die Zahl der Opfer von „Zivilisationskrankheiten“ immer weiter zu. In Deutschland sind 60,5 Prozent der Männer und 46,6 Prozent der Frauen übergewichtig. 19 Prozent der Erwachsenen sind gar fettleibig. In den USA sind 72,3 Prozent der Männer und 64,1 Prozent der Frauen übergewichtig. Der Anteil der adipösen Erwachsenen in den USA: 36 Prozent. Die Weltgesundheitsorganisation, WHO, bezeichnet Adipositas als das weltweit größte chronische Gesundheitsproblem der Zukunft.

Gesundheit und Krankheit

„Mit der Dickleibigkeit ist häufig ein großes persönliches Unglück verbunden, es entstehen aber auch hohe Kosten für die Allgemeinheit. Wir müssen das jetzt angehen. Der Anstieg der Dickleibigkeit in den letzten Jahren ist beängstigend“, sagte der ehemalige Vizepräsident des Deutschen Bundestages Johannes Singhammer.

Rund 29 Milliarden Euro jährlich kosten Adipositas-Behandlungen das deutsche Gesundheitssystem – rund elf Prozent aller Gesundheitsausgaben. Weltweit werden die wirtschaftlichen Belastungen durch Adipositas auf rund zwei Billionen Euro geschätzt – Tendenz steigend. Rund 10,8 Prozent der Todesfälle in Deutschland sind auf Folgeerkrankungen von Fettleibigkeit zurückzuführen. Weltweit sterben jährlich 2,8 Millionen Menschen an den Folgen von Übergewicht und Adipositas. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind mit einem Anteil von 33,3 Prozent die Haupt-Todesursache in Deutschland.

Bewegungsmangel als Ursache für Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Zu den Haupt-Ursachen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zählen: Bewegungsmangel und Übergewicht. Selbst leichtes Übergewicht steigert das Risiko für kardiovaskuläre Krankheiten deutlich.

Eine im „European Heart Journal“ erschienene Studie mit beinahe 300.000 Teilnehmern zeigte: Nur bei fünf bis maximal 15 Prozent der Übergewichtigen brachte das vermehrte Körperfett nicht auch gleichzeitig ein höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit sich.

Die einfachste und günstigste Art der Prävention: Sport. Im Namen der Gesundheit griff die Politik zwei Jahre lang massiv in das Leben der Bürger ein. Diese andere schleichende Art der Endemie spielte dabei – auch im medialen Dauerdiskurs – quasi keine Rolle.

Was kann, was soll, was darf der Staat hier tun und bestimmen? Er könnte, und sollte, die Rahmenbedingungen für das Sporttreiben massiv verbessern. Zum Beispiel an den Schulen. Er sollte den Schulsport und das Ehrenamt massiv ausbauen und fördern. Er sollte etwas gegen das Schwimmbad- und Sport-Event-Sterben tun. Er sollte Sportveranstaltungen fördern, statt sie durch eine immer weiter ausufernde Bürokratie zu ersticken. Und vieles mehr.

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Nudging

Der Fall des Geldverdienens, indem man sich bewegt, ist ein Fall des Extrem-Nudgings. „To nudge“ bedeutet im Deutschen: anstupsen. Der Begriff „Nudging“ stammt aus der Verhaltensökonomie und beschreibt eine Strategie zur gezielten Verhaltensänderung von Menschen. Angestrebt werden diese Verhaltensänderungen etwa von Unternehmen – oder von Staaten.

Das sogenannte „kognitionsbasierte Nudging“ zielt auf das Wahrnehmen – etwa, indem die Energieeffizienz eines Geräts mittels eines Farb-Ampel-Systems aufbereitet wird. Das „Nudging mit Anreizen“ arbeitet mit Belohnungs- oder Bestrafungs-Systemen und konkreten Zielsetzungen – etwa zum „Stromsparen“ oder zu Impfungen.

Der ehemalige US-Präsident Barack Obama richtete 2014 ein Nudging-Team ein – bestehend aus Sozial- und Verhaltenswissenschaftlern. Diese sollten Anreize entwickeln, um – unter anderem – die Universitäts-Einschreibezahlen von Studenten aus Familien mit geringen Einkommen zu erhöhen und Papier zu sparen. Im deutschen Bundeskanzleramt wurde 2015 eine eigene Nudging-Abteilung installiert.

Die entscheidende Frage beim Nudging ist dieselbe wie beim artverwandten Thema des nicht objektiven und nicht neutralen „Haltungs- beziehungsweise Werte-Journalismus“: Wie soll dieses Konzept, wie soll eine solche Ansicht, eine solche Menschensicht mit dem im Grundgesetz verankerten Ideal und Ziel des mündigen Bürgers zusammengehen? Im Falle eines nicht objektiven, sondern „leitenden Journalismus“: vermutlich gar nicht. Es ist die Antithese zum Humboldt’schen Bildungsideal. „Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist“, schrieb Wilhelm von Humboldt.

Das Bildungsziel des autonomen Individuums und des mündigen Bürgers ist mit Nudging- und „Haltungs-Journalismus“-Bestrebungen kaum vereinbar. Beides kann wohl nur verkünden und propagieren, wer von einem massiven Gefälle des Wissens, der Bewertungsfähigkeiten und der „Moralstandards“ ausgeht. Von „Eliten“, sich selbst und seinesgleichen zu den anderen da unten.

Sport und Trends

Im Bereich des Bewegungsmangels und dessen enormen Folgen hatte man jahrzehntelang Zeit, um gegenzusteuern. Die Rezepte dazu sind so einfach wie, in anderen Ländern, bewährt. Zum Beispiel: mehr Schulsport, ausgebildete Sport- statt fachfremde Lehrer, zusätzliche tägliche Spiel- und Bewegungszeit an den Kitas und Schulen, Sport- und Bewegungsangebote auf und an den Pausenhöfen, vereinfachte und geförderte Kooperationen zwischen Vereinen und Schulen, Sportarten-Schnuppertage, eine auch finanzielle beziehungsweise steuerliche Förderung des Ehrenamtes, eine verbesserte und erhöhte Vereinsförderung, Förderbudgets für den Bau und die Sanierung von Sportstätten, Bolzplätzen und mehr, eine Strukturierung und Förderung des Spitzensports nach dem Vorbild etlicher anderer Länder, eine erhöhte Sichtbarkeit des Sports, nicht nur des Profifußballs, in der Politik und den Medien. Und vieles mehr. All dies hat man verpasst.

Die Entwicklung verläuft in die entgegengesetzte Richtung. Anfang der 1990er-Jahre wurden an deutschen Schulen noch bis zu vier Stunden Sport pro Woche unterrichtet – heute liegen die Durchschnittswerte zwischen 2,2 und 2,4 Stunden. In elf der 16 Bundesländern wurde der Sportunterricht an Grundschulen gar auf zwei Stunden gekürzt. Davon fällt im Durchschnitt jede vierte aus. Einen Leitartikel mit etlichen weiteren Zahlen und Fakten zum sinkenden Stellenwert des Sports in Deutschland finden Sie in der RennRad-Ausgabe 7/2022.

Bewegung und Gene

Nur 22,4 Prozent der Mädchen und 29,4 Prozent der Jungen sind hierzulande mindestens 60 Minuten pro Tag körperlich aktiv – und erreichen damit die Bewegungsempfehlung der WHO. 45 Prozent der Menschen in Deutschland gelten als sportfern. Warum?

Dafür gibt es auf der psychologischen Ebene zwei Erklärungsansätze. Diese lauten verkürzt: intrinsische oder extrinsische Motivation. Wenn Sie diese Zeilen lesen, haben Sie a) Geld für ein Magazin über Fahrräder und das Radfahren ausgegeben und/oder als „Mitleser“ b) zumindest Interesse an dem Thema. Somit ist klar: Sie sind intrinsisch motiviert. Der Antrieb, die Leidenschaft, kommt nicht von außen, sondern aus dem eigenen Inneren.

Extrinsische Motivation

Eine extrinsische Motivation ist dagegen auf einen Einfluss „von außen“ zurückzuführen. Wem der innere Antrieb und Wille fehlen, der kann womöglich durch äußere Reize angetrieben und beeinflusst werden. Etwa durch: Geld. Direkt, indem man dafür bezahlt wird, sich zu bewegen. Oder indirekt – indem etwa der eigene Krankenkassenbeitrag an gewisse Mindestmaße der Fitness beziehungsweise Bewegung gekoppelt wird.

Genetisch ist der Mensch ein Ausdauerjäger. Der Körper ist darauf ausgelegt, dauernd in Bewegung zu sein und Hungerphasen zu überstehen. Ergo: in Phasen des Überflusses Vorräte anzulegen. Er passt somit, eigentlich, nicht in lange Phasen des unbeschränkten Kalorienangebots. Die Medizin wird immer besser, die Menschen werden älter, der Überfluss wird größer. Dies war die Mechanik seit Jahrzehnten. Dies galt zumindest seit der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg für West- und Mitteleuropa, die USA und weitere Staaten.

Doch: In den vergangenen 30 Jahren saßen die, in der Relation, großen Gewinner der Globalisierung in Asien. Dies zeigt die berühmte „Elefanten-Kurve“, die auf den Weltbankökonomen Branko Milanović zurückgeht. Sie ähnelt den Umrissen eines Elefanten – und bildet die Entwicklung der weltweiten Einkommen über drei Jahrzehnte ab. Darin zeigt sich, dass die Einkommen in den städtischen Milieus Asiens, besonders in China, stark gestiegen sind. Während die der unteren Mittelschichten in Teilen Europas und den USA teils stagnierten, teils gesunken sind. Und: Der Reichtum „sammelt“ sich ganz oben. Die Gruppe der Superreichen mit mehr als zwei Milliarden Dollar Vermögen hat sich in diesem Zeitraum verfünffacht und ihr Gesamtbesitz mehr als verdoppelt.

Milanović neuere Grafik, die die Entwicklung bis 2018 abbildet, zeigt, dass die Mittel- und Unterschicht in den „reichen“ Staaten zwar nicht absolut an Einkommen, aber relativ an Positionen verloren hat. Ergo gilt: Viele aufstrebende Menschen in den Schwellenländern sind jetzt reicher als die Unter- und Mittelschicht der westlichen Staaten.

Die beste aller Zeiten – noch

Die Corona-Pandemie und der Krieg an den Grenzen Europas nahmen Vielen nun endgültig die Illusion des ewigen Friedens und des ewigen Reichtums. Fehler, Ignoranz, Naivität, Ideologien, Weltfremdheit sind einige der Katalysatoren eines langfristigen Wohlstandsverlusts.

Betrachtet man die Geschichte der Menschheit in einem Zeitstrahl, so leben die aktuellen Generationen in den westlichen wie auch vielen anderen Ländern in der besten aller Zeiten. Weniger Gewalt, mehr Freiheit, mehr Rechte, mehr Sicherheit, mehr Wohlstand. Noch. Nur scheint vielen noch immer nicht klar zu sein, dass all dies keine Selbstverständlichkeit ist. Es ist sehr fragil. Vergänglich.

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