Bewegungsmangel, Leitartikel
Bewegungsmangel: Deutsche sitzen zu viel – Gründe und Folgen

Sitz!

Bewegungsmangel: Deutsche sitzen zu viel – Gründe und Folgen

Mehr als zwei Jahre lang scheint es fast nur ein großes öffentliches Thema zu geben: Gesundheit – und wie man sie erhält. Über eine andere, ältere, viel stillere Art Epidemie spricht fast niemand, denn ihr „Gift“ wirkt schleichend. Ein Leitartikel zum Bewegungsmangel der Deutschen.
TEILE DIESEN ARTIKEL

688.536 beziehungsweise 730.584 Stunden – mehr ist es nicht. Jede Minute davon ist kostbar. Denn: Das ist alles, was man hat. Das ganze Leben. 78,6 Jahre hat man, aktuell hierzulande, als Mann, um zu leben. 83,4 als Frau. Zeiten ändern sich – und Zeiten ändern Dich. Je nachdem, in was man seine Zeit investiert und wie man sie aufteilt. Der Tag des heutigen „Durchschnitts-Menschen“ wurde neu eingeteilt. Hin zu neuen Rekorden. Rekorden der Passivität.

Hierzulande teilt man sich, im Durchschnitt, die 24 Stunden eines Tages und einer Nacht wie folgt auf: 7,5 Stunden Schlafen, 8,5 Stunden Sitzen, acht Stunden Stehen und Bewegung, davon 20 Minuten „intensiv“. Die Deutschen stellen damit einen neuen Rekord auf. Im Sitzen. Noch nie zuvor wurde so viel gesessen. Auf dem Sofa, dem Bürostuhl, dem Autositz, der Zugbank, dem Bett. Wo auch immer.

Das Sitzen nimmt mehr als die Hälfte der wachen Zeit eines Durchschnittsdeutschen ein: 8,5 Stunden werktags – eine Stunde länger als 2018. Die Bevölkerungsgruppe, die am meisten sitzt: junge Erwachsene zwischen 18 und 29 Jahren. Ausgerechnet. Ihr Rekord-Wert: 10,5 Stunden pro Tag. Fast zwei Stunden länger als noch 2018.

Dies sind die Ergebnisse einer aktuellen Studie der Deutschen Sporthochschule und der Krankenversicherung DKV. Darin zeigte sich ein weiterer „Rekord“: hinsichtlich des Stress-Empfindens. Nur rund 40 Prozent der Befragten gaben ihre wahrgenommene Stress-Belastung als niedrig an oder nutzen wirksame Coping-Strategien. 2016 erreichten noch 58 Prozent der Teilnehmer die Empfehlungen für ein gesundes Stressempfinden. Die wirksamsten eingesetzten Strategien lauten: Lesen, Musikhören, Bewegung und Sport. Dennoch schaffen es 60 Prozent der Befragten aktuell nicht, ihren Alltagsstress zu kompensieren. Es ist das bisher höchste je gemessene Stressniveau.

Stress und Bewegung

Hintergründe, Statistiken und Studien zu den Zusammenhängen zwischen Stress, Bewegung und psychischen Problemen finden Sie in den Leitartikeln der Renn-Rad-Ausgaben 4/2022 und 10/2020. Es sind alarmierende Ergebnisse. Wobei klar ist, dass auch diese Studie, wie so viele, eine Schwäche hat: ihre geringe Stichprobengröße von nur 2800 Befragten. Doch die Zunahme der Bewegungslosigkeit ist in etlichen großen Untersuchungen belegt.

So etwa im vierten Deutschen Kinder- und Jugendsportbericht von 2020. Die Ergebnisse zeigen Dramatisches – natürlich ohne irgendwelche relevanten politisch-medialen Folgen zu haben: Vier von fünf Kindern und Jugendlichen – 80 Prozent, 80! – hierzulande bewegen sich weniger als eine Stunde pro Tag. Sie erreichen damit nicht einmal die von der Weltgesundheitsorganisation WHO vorgegebene Minimal-Anforderung von 60 Minuten täglicher körperlicher Tätigkeit. Das Sitzverhalten, gerade jenes während des Medienkonsums, sei „alarmierend“, so wird es in dem Bericht konstatiert.

Bewegungsmangel und Tod

„Die Deutschen werden immer träger“, sagt der Studienleiter des DSHS- und DKV-Reports Professor Ingo Froböse. „Wir wissen, dass der Bewegungsmangel und die körperliche Inaktivität in Europa schon 1,5 Millionen Tote jedes Jahr nach sich ziehen. Weltweit sind es vier bis fünf Millionen, die jährlich an den Folgen der Inaktivität sterben.“ Nach Daten des Deutschen Krebsforschungszentrums sind mehr als sieben Prozent der Todesfälle in Deutschland auf Bewegungsmangel-Effekte zurückzuführen. Wie fallen die medial-gesellschaftlichen Debatten und die Reaktionen und Aktionen der Politik darauf aus – und warum? Das kann sich jeder selbst fragen. Gesundheit ist aus politischer Sicht wohl nicht gleich Gesundheit. Und das Wort „Prävention“ scheint politischen Entscheidern völlig unbekannt zu sein.

Die Effekte des Sitzens sind vielfach wissenschaftlich belegt. Etwa durch eine im ‚American Journal of Epidemiology‘ publizierte Langzeit-Studie mit 120.000 US-Amerikanern. Die Ergebnisse: Männer, die pro Tag sechs oder mehr Stunden sitzen, wiesen eine um 20 Prozent höhere Sterberate auf als jene, die weniger als drei Stunden täglich saßen, Bei den Frauen war die Quote gar um 40 Prozent erhöht. Ein interessanter Zusatzbefund: Ob die Viel-Sitzer nach Feierabend oder am Wochenende Sport trieben oder nicht, wirkte sich nicht auf die Sterblichkeitsrate aus.

Erhöhtes Sterberisiko für Vielsitzer

Etliche weitere Studien-Ergebnisse zeigen diese Zusammenhänge. So etwa eine im ‚British Journal of Sports Medicine‘ erschienene Metaanalyse mit 44.370 Menschen. Auch deren Haupt-Ergebnis lautet zusammengefasst: Menschen, die besonders viel sitzen, haben ein stark erhöhtes Sterberisiko.

Schlafen, Aufstehen, am Frühstückstisch sitzen, auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule – oder im Homeoffice – sitzen, beim Mittagessen sitzen, auf dem Weg nach Hause sitzen, beim Abendessen sitzen. Danach, in der „Freizeit“: vor dem Fernseher, Computer, Smartphone sitzen. Sitzen, sitzen, sitzen. Es ist eine „Kulturtechnik“. Dr. Carmen Jochem, Präventivmedizinerin an der Universität Regensburg, hat ein Buch über die Entwicklung hin zu einer bewegungslosen Sitz-Gesellschaft geschrieben. Der Titel: ‚Sitzstreik – Tipps und Tricks gegen die Risiken und Nebenwirkungen des Sitzens.‘ „Sitzen ist ein kultureller Standard, dem wir entsprechen müssen. In Nord- und Mitteleuropa sitzen die Menschen deutlich länger als zum Beispiel in südeuropäischen Ländern“, sagt sie. „Spätestens in der Schule lernt jedes Kind das Sitzen. Es ist nicht das Schulwesen, sondern ein Stuhlwesen, das uns zu sitzenden Wesen macht.“

Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen

Schon 2017 zeigte eine Studie Heidelberger Forscher: Kinder und Jugendliche sitzen unter der Woche mehr als 70 Prozent ihrer wachen Zeit – 10,5 Stunden an Werktagen, 7,5 Stunden an Wochenenden. Der durchschnittliche Tag eines Kindes besteht, nach Daten der LOGIK-Studie, inzwischen aus: neun Stunden Liegen, neun Stunden Sitzen, fünf Stunden Stehen, einer Stunde Bewegung – davon zwischen 15 und 20 Minuten intensiv. Die Zeit des unbeaufsichtigten Spielens, des Bewegens, ging innerhalb weniger als einer Generation um weit mehr als 50 Prozent zurück.

Die Pandemie wirkt auf diese große gesellschaftliche Entwicklung hin zur Bewegungslosigkeit wie ein Katalysator – wie Benzin, das man ins Feuer gießt. So haben die Statistiker der Krankenkasse DAK ermittelt, dass Kinder im Lockdown 139 Minuten täglich mit Computerspielen und 193 mit Social Media verbrachten – eine Steigerung um 66 Prozent im Vergleich zu vorher.

Schon zuvor zeigten etliche Studien, dass Kinder in vielen Ländern immer schwächer werden: bei den Parametern Kraft, Ausdauer, Koordination. „Alle Testreihen zeigen einen Rückgang der sportmotorischen Fähigkeiten bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen 20 Jahren“, sagt der Altersmediziner Clemens Becker im RND-Interview. Zwei zusammenwirkende Gründe dafür: die Bewegungslosigkeit und die zunehmenden Sitz-Zeiten. „Schon ab 45 Minuten Sitzen beginnen Abbauprozesse“, sagt Becker. „Es ist im Bereich Arbeitsmedizin noch nicht hinreichend klar, dass nicht nur Dinge wie Lärm und Staub ein Risiko für die Gesundheit sind, sondern auch das Sitzen. Das Zwangssitzen muss sich ändern.“

Die Ergebnisse der Praxis-Untersuchungen des Sozialwissenschaftlers Ulf Gebken von der Universität Duisburg-Essen wurden in einem Beitrag der Sportschau analysiert. Die Haupt-Erkenntnis des Forschers: „Es fehlt den Kindern an Ausdauer, Beweglichkeit – nahezu an allem.“ Den jungen Menschen würden demnach nicht nur Bewegungs-, sondern damit auch Entwicklungschancen und -Möglichkeiten genommen, sagt Gebken: „Wir wissen, wie wichtig Bewegung für die Entwicklung dieser jungen Menschen ist. Sie erschließen sich die Welt über Greifen, Laufen, Bewegen. Das haben sie nicht gemacht. Und nun haben sie enorme Defizite. Wenn es da keine Maßnahmen gibt, die ihnen helfen, das zu überwinden, dann verlieren wir eine ganze Generation.“

Prävention und Kosten

31 Milliarden Euro beträgt der bundesweite Sanierungsstau bei Sportanlagen, Hallen, Plätzen, Schwimmbädern. Allein in Essen verfügen 29 von 82 Elementarschulen demnach über keine eigene Turnhalle. „So ein Mangel ist ein großes Versagen unserer Gesellschaft – und das über Jahrzehnte. Wir haben im Lehrplan drei Stunden Sportunterricht stehen. Die werden gar nicht erteilt. Es werden ja nur zwei erteilt. Und jetzt haben wir auch noch einen Lehrermangel und Sportstätten-Probleme. Das heißt, es werden nur noch 1,5 oder eine Stunde pro Woche erteilt.“ Anfang der 1990er-Jahre wurden an Deutschlands Haupt- und Realschulen noch bis zu vier Stunden Sport pro Woche unterrichtet – heute liegen die Durchschnittswerte zwischen 2,2 und 2,4 Stunden. In elf der 16 Bundesländer wurde der Sportunterricht an Grundschulen auf zwei Stunden gekürzt. Davon fällt rund jede vierte aus.

Gebken fordert deshalb einen „Marshallplan“ für den Kinder- und Jugendsport – einen Ausbau der Infrastruktur, eine Verbesserung der Lehrer-Ausbildung, Wahrnehmung, Wertschätzung. Er wird ungehört bleiben. Wie alle Warner der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Der politisch-gesellschaftliche Stellenwert des Sports und des Faktors Bewegung sinkt hierzulande seit Langem. Mit gravierenden Folgen.

Politische und mediale Agenda

Die Themen Bewegungsmangel, Stress, Sport, Prävention stehen weder auf der politischen noch auf der medialen Agenda – trotz ihrer Relevanz, ihres enormen gesundheitlich-gesellschaftlichen Effekts, trotz der Herz-Kreislauf-Krankheits-, Adipositas-, Depressions-, Diabetes-Wellen. Trotz des Leids, trotz der Kosten, trotz der Belastung von Familien und des Gesundheitssystems, trotz der verlorenen Lebenszeit, trotz der Einfachheit und enormen Kosteneffizienz der Gegenmaßnahmen, trotz der enormen, wissenschaftlich völlig klar nachgewiesenen positiven Effekte von Bewegung.

Im Laufe der Pandemie und der Lockdowns haben hierzulande mehr als zwei Millionen Kinder und Jugendliche den organisierten Sport verlassen. Ein Viertel aller deutschen Grundschüler hat keinen Zugang mehr zu einer Schwimmhalle. In den vergangenen knapp 20 Jahren wurden hierzulande rund 1500 von 7700 Schwimmbädern geschlossen. An jedem vierten Tag schließt ein Bad. Sechs von zehn Grundschülern sind nach Ende der vierten Klasse keine sicheren Schwimmer – wie es der Lehrplan eigentlich verlangt. Zur Relation: Der Betrieb eines Freibades kostet meist, je nach Größe und Ausstattung, zwischen 50.000 und 500.000 Euro pro Jahr. Der Neubau einer Sporthalle kostet in der Regel zwischen 800.000 und 3,6 Millionen Euro. Der Erweiterungsbau des Kanzleramts kostet 600 Millionen, der Neubau des Berliner Flughafens sechs Milliarden, der Stuttgarter Bahnhof mehr als neun Milliarden Euro. In den 750-Milliarden-Euro-„Corona-Hilfsfonds“ zahlen die  deutschen Steuerzahler effektiv rund 65 Milliarden Euro mehr ein als Deutschland erhält. Der sogenannte Afghanistaneinsatz, der ein einziges Desaster war, kostete Deutschland rund 12,2 Milliarden Euro.

Was einst die Million war, ist heute die Milliarde. Es gibt offenbar – vorerst – keine Grenzen, keine roten Linien, kein Morgen. Geld entsteht aus dem Nichts. Für Sport, Bewegung, den gesamten Faktor Prävention im Bildungs- und vor allem im Gesundheitssystem gilt dasselbe wie für etliche andere Bereiche: Es mangelt nicht an Geld, sondern an politischem Willen. Dieser entsteht anscheinend nur durch medialen Druck, durch Öffentlichkeit, durch Meinungsumfragen.

Sitzen, Bewegungsmangel, Entkörperlichung

Kurzfristige harte Entscheidungen und Schwenks scheinen populärer und medial relevanter zu sein als eine langfristige seriöse Planung. Die gesellschaftliche Entwicklung geht seit Jahren klar in eine Richtung: Sitzen, Bewegungslosigkeit, Entkörperlichung. Der Stellenwert des Sports sinkt. Warum? Cui bono? Die Effekte dieser Entwicklung sind klar zu sehen, zu messen, zu berechnen.

Bewegungsmangel wirkt nicht direkt, sondern indirekt, langsam, zeitversetzt, wie ein schleichendes Gift. „Wir müssen als Individuum, aber auch als Gesellschaft lernen, wie wir Stress vermeiden und wie wir ihn kompensieren können“, sagt Professor Ingo Froböse. „Wir haben den Menschen die Bewegung weggenommen, indem wir alles automatisieren und möglichst angenehm einrichten. Da kommt die Bewegung gar nicht vor.“

Dieser Leitartikel erschien in der RennRad 7/2022. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.


Leitartikel von Chefredakteur David Binnig aus 2022

Schlagworte
envelope facebook social link instagram