Saisonhöhepunkt
Alpe d’Huez: Vorbereitung auf Rekordversuch beim legendären Anstieg
in Race
Meine Herzfrequenz steigt und steigt – auf 190 Schläge pro Minute. Mein Trikot ist komplett geöffnet, Schweiß tropft auf das Display meines Radcomputers. Ich schaue nicht darauf. Ich will keine Zahlen sehen. Sie zu fühlen genügt. Sie lauten: elf, zwölf, 13 – Prozent Steigung. Ich fahre bergauf, zwischen den Kehren 17 und 16. Dies ist ein mythischer Anstieg – jener nach L’Alpe d’Huez.
Dies ist der Tag der Tage. Der Tag meines großen Saisonziels in diesem Jahr. Noch neun Kilometer bergauf. Schon im Vorjahr lautete mein Plan: hier eine neue Bestzeit aufstellen. Die Auffahrzeiten lassen sich mittels der App Strava miteinander vergleichen. Die aktuelle Bestzeit hat ein gewisser Romain Bardet inne. Der Team-DSM-Profi stellte sie 2018 während der Tour de France auf. Seine Zeit für dieses Strava-Segment: rund 36 Minuten. Schon im Vorjahr bereitete ich mich lange darauf vor – doch dann musste ich den Rekordversuch auf dieses Jahr verlegen. Auf diesen Sommer. Auf heute.
Rückschläge
Mein Frühjahr 2022 verlief leider gar nicht wie geplant – ein Wirbelbruch verhinderte meine Teilnahme an der „Zwift“-E-Racing-Weltmeisterschaft im März und ruinierte auch meinen bis dahin sehr guten Trainingsaufbau mit unzähligen Testläufen an der virtuellen Variante meines großen Saisonziels – der „Alpe du Zwift“ auf der Trainingsplattform Zwift. Erst ab Mai kam ich langsam wieder in Tritt und musste meine Form völlig neu aufbauen. Dies gelang mir vor allem durch viele VO2max- und EB-Einheiten: kürzere Intervalle rund um die individuelle anaerobe Schwelle IANS. Ab Juni konnte ich das Training der Laktatbildungsrate fokussieren. Das alles fiel mir nicht immer leicht: Ich kannte meine Watt-Werte aus den vergangenen Jahren und spürte, dass ich meinem Ziel noch „hinterherhinkte“.
Doch jeder kleine Fortschritt brachte mir auch weitere Motivation – und rechtzeitig zum Beginn der Radmarathon-Saison lief es endlich besser. Die Höhepunkte meiner ersten Saisonhälfte: der Dreiländergiro, La Marmotte in den französischen Alpen und die L’Étape du Tour – an deren Ende der Anstieg nach Alpe d’Huez auf dem Plan stand. Ich hoffte, dass ich bis dahin fit genug für einen Rekordversuch wäre, doch ich wusste auch aus Erfahrung, dass mir noch immer rund 20 Watt zu meiner Bestleistung fehlten. Dennoch konnte ich den Dreiländergiro als Solist gewinnen – dank Verbesserungen an anderen Details als der „reinen“ Leistung: Ich fuhr ein optimiertes Rad, trug einen Zeitfahranzug und hatte mein Ernährungskonzept im Vergleich zu 2019 deutlich verbessert. Am Ende bedeutete dies: 4:50:41 Stunden für die 168 Kilometer und 3300 Höhenmeter – Streckenrekord. Direkt von Nauders aus ging es weiter in die Schweiz, ich trainierte noch drei Tage und reiste dann nach Frankreich, nach L’Alpe d’Huez. Das Ziel: mit frischen Beinen am nächsten Tag den Rekordversuch angehen.
L’Alpe d’Huez: Plan vs. Realität
Die Realität: An diesem Tag fand ein Bergrennen über die berühmten 21 Kehren statt: „La Grimpée“. Ein Massenstart im Tal in Le Bourg-d’Oisans mit rund 200 Teilnehmern und nach einem kurzen Flachstück direkt hinein in den Anstieg. Die Anmeldung war noch bis eine Stunde vor dem Start geöffnet. Ich hatte noch vier Stunden Zeit. Was tun? Es gab viele Fragen zu klären: Wie verhält sich das Wetter? Der Wind? Meine Form? Um 16 Uhr stand ich am Start des Rennens. Im Tal war es heiß, 30 Grad. Ich wusste: Der Wind würde mir auf der ersten Geraden frontal entgegenwehen.
Ich überlege mir eine Pacing-Strategie. Sollte ich hinten starten, um wenigstens am Anfang etwas Windschatten zu haben? Oder würde so langsam gestartet bis zum Einstieg, dass die ersten 20 bis 30 Sekunden zur Rekordzeit an dieser Stelle verloren gingen? Ich entscheide mich für den Start am hinteren Ende des Feldes – und finde mich dennoch zum Beginn des Anstiegs an der Spitze wieder. Ich trete knapp 420 Watt bis zur ersten Kehre – zu viel. Ich reduziere auf 400 Watt und versuche von diesem Moment an, die maximal mögliche Leistung zu halten.
Im unteren Teil des Anstiegs spüre ich die drückende Hitze, meine Herzfrequenz steigt sprunghaft an, doch ich höre auf mein Körpergefühl und fahre kontrolliert weiter. Kehre um Kehre. Nach 20 Minuten wird mir klar, dass ich leicht überzogen habe. Der Anstieg ist noch immer steil – und meine Leistung sinkt langsam, aber stetig. Meine Atemfrequenz ist am Limit, mein Brustkorb fühlt sich an wie zugeschnürt. Im Ort Huez überhole ich den Linienbus, was meinen Rhythmus etwas bricht. Ein Vorteil der Steigung nach L’Alpe d’Huez: Das „Herunterzählen“ an jeder Kehre motiviert. Ich sehe die Fünf-Kilometer-Marke und das Schild mit „Kehre Nummer vier“. Ich versuche, meinen Rhythmus wiederzufinden, zu beschleunigen – doch die Leistungsdaten sind längst nicht mehr in dem Bereich vom Beginn. Ich versuche, 360 Watt zu halten. Vergeblich.
Das Finale: Schmerz und Triumph
Ich verliere die Hoffnung: Für den Streckenrekord kann das auf keinen Fall reichen. Ich beginne zu rechnen – ich hatte keine Vergleichszeiten auf meinen Radcomputer. Doch ich habe Bardets Zeiten im Kopf. Die Durchschnittsgeschwindigkeit des Franzosen lag bei unter 19 km/h. Ich blicke auf meinen Radcomputer: 19,1 km/h. Das ist die Motivation, die ich für die letzten drei Kilometer bis zu „meinem“ Zielstrich, dem Ende des Segments, benötige.
Die Zuschauer vor den Cafés am Straßenrand jubeln mir zu. Dann erreiche ich das Ende des Segments. 36:17 Minuten gilt es zu schlagen – auf meinem Fahrradcomputer stehen 36:30 Minuten. Für den Moment ist mir das völlig egal – ich bringe die letzten Meter hinter mich. Der Zielstrich bei „La Grimpée“ ist an einer anderen Stelle als bei den Tour-de-France-Etappen. „Jetzt darf nichts mehr passieren, kein Auto, keine Fußgänger, die die Absperrung missachten“, denke ich und fahre über die Linie. Ich rolle aus und kehre um. Meine Lunge brennt noch immer. Die Nächstplatzierten erreichen das Ziel – war ich schnell genug? Meine durchschnittliche Wattleistung lag bei knapp über 380 Watt.
Erst zurück im Hotel kann ich meine Zeit abgleichen: Es hat gereicht. Ich habe die Bestzeit. Um wenige Sekunden und – angesichts der anstehenden Tour-de-France-Etappe nur wenige Wochen später – wohl auch nur für kurze Zeit. Aber für diesen Moment treten die Schmerzen in den Hintergrund und ich spüre: Glück und Erleichterung. Nach dieser schwierigen Vorbereitung im Frühjahr, nach dieser spontanen Entscheidung, an dem Rennen teilzunehmen, hat es geklappt. Welch ein Wahnsinn.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 9/2022. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.
Stefan Kirchmair ist zweimaliger Sieger des Ötztaler Radmarathons und Radtrainer mit A-Lizenz. Er trainiert etliche Amateur- und Hobbytahleten. Mehr zu ihm und seinem Team finden Sie auch unter: www.kirchmair-cycling.com