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Warum treiben Menschen Sport? Zahlen, Thesen, Hintergründe

Körperkult

Warum treiben Menschen Sport? Zahlen, Thesen, Hintergründe

Warum treiben Menschen Sport – oder nicht? Zur Selbstoptimierung? Zahlen, Thesen, Historie und Hintergründe zum vermeintlichen Fitnesstrend.
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9,3 Millionen Menschen sind hierzulande in Fitnessstudios angemeldet – aus den unterschiedlichsten Gründen: soziale, psychische, physische. 23,4 Millionen sind Mitglied in einem Sportverein. 6,3 Millionen gehen mehr oder weniger regelmäßig laufen, 12,8 Millionen geben „Radfahren“ als ein Hobby an. Die Fitness-Industrie setzte 2019 allein in Deutschland rund 5,3 Milliarden Euro um. Warum?

Natürlich ist ein trainierter Körper auch ein Symbol. Gerade auf dem heute in manchen Gesellschaften so offenen „Partnermarkt“. Online-Partnersuch-Plattformen und Apps wie Parship, ElitePartner, Tinder, Bumble et cetera sorgen hier für „grenzenlose Freiheiten“ oder, anders gesagt: für eine enorme Auswahl. Und somit auch: eine enorme Konkurrenz.

Oder: in der Arbeitswelt. Eine 2018 in Großbritannien durchgeführte Studie ergab, dass übergewichtige Menschen durchschnittlich mehr als 2200 Euro weniger pro Jahr verdienen als ihre gleich qualifizierten schlankeren Kollegen. Auch und vor allem die sozialen Medien sind Treiber der Äußerlichkeiten. Wie viele Prozent der, in Sachen Reichweite und Einkommen, erfolgreichsten „Influencer“ entsprechen wohl nicht den gängigen Schönheitsidealen? Einer großen Umfrage aus den USA zufolge beträgt der Anteil der Jugendlichen, die als Influencer Geld verdienen wollen: 40 Prozent.

Sport und Symbole

„Der Ausdauersportler ist ein Idealtyp des neoliberalen Selbst“, schreibt der Historiker Jürgen Martschukat in seinem Buch ‚Das Zeitalter der Fitness‘. „Er ist Teil einer Kultur und Bewegung, fühlt sich dabei aber unabhängig und selbstbestimmt. […] Er investiert beständig in sich und ist um Gesundheit, Selbstoptimierung und Leistungsfähigkeit bemüht.“

Alles ist politisch, auch der Sport – so lautet eine Grundthese des Werks. Der Körper wird als Kapital gesehen, als Ausdruck des Neoliberalismus – Fitness als Statement. „Ein neoliberales Fitness-Ideal durchdringt offenbar unser ganzes Leben. Wer nicht fit genug oder gar übergewichtig ist, steht im Verdacht, auch als Bürger nicht ganz tauglich zu sein“, schreibt eine ‚Deutschlandfunk’-Autorin über das Buch.

Der Wandel hin zu einem Aufstieg des Fitnessaspekts begann demnach in den späten 1970ern. „Wanderurlaube waren etwas für Rentner und das Windsurfen gerade erst erfunden, der Berlin-Marathon existierte noch gar nicht. Die wenigsten Erwachsenen besaßen ein Fahrrad.“ Damals, so heißt es in der Rezension, als „der Kapitalismus auf den flexiblen Angestellten zu setzen begann, der selbst dafür verantwortlich ist, qualifiziert und fit genug zu bleiben. Fortan galten Form und Materialität des Körpers als Ausdruck der Fähigkeit, sich selbst zu regieren, das eigene Leben zu gestalten, Leistung zu erbringen und im allgegenwärtigen Wettbewerb zu bestehen. Fett stand immer weniger für Erfolg und Reichtum und immer mehr für Trägheit und Willensschwäche.“

Bewegung und Ernährung als Mittel zum Zweck

Demnach gälten dicke Menschen heutzutage als „failed citizens“. Jürgen Martschukat schreibt: „Man könnte sogar sagen, in Bewegung zu sein und verantwortungsvoll zu essen, sind Mittel zum Zweck. Es sind Signale der Leistungsbereitschaft und bürgerlichen Befähigung.“ In einem Interview erklärt er: „Wir leben in einer Gesellschaft oder auch in einem Zeitalter, das Individualität und Autonomie so hoch schätzt wie vielleicht noch nie zuvor. […] Fitness kann durchaus Spaß machen und Freude bereiten. Das kann aber auch mit einer Form von Zwang, die man dabei empfindet, oder Druck, sagen wir mal lieber, einhergehen.“ Zum einen macht man sich im Fitnessbereich, ergo außerhalb des Profi- und Leistungssports, einen solchen Druck stets selbst.

Zum anderen: Was genau kann nicht mit Druck einhergehen? Eine Ehe kann es, Elternsein kann es, ein jeder Job, eine jede Reise, ein jedes Hobby kann es. Wer investiert nicht – Zeit, Gedanken, Geld – in Gesundheit und Leistungsfähigkeit? Und: In welcher Gesellschaftsform muss ein Individuum nicht selbstverantwortlich handeln? Im Absolutismus? Im Sozialismus? In Nordkorea? Und was ist die Alternative zu der Selbstverständlichkeit, „verantwortungsvoll zu essen“? Unverantwortlich zu essen? Völlerei? Leben wir wirklich in einem Zeitalter der Fitness und der Huldigung des Körperlichen? Nein, eher im Gegenteil. Dies ist das Zeitalter des Sitzens, der zunehmenden Bewegungslosigkeit und der Entkörperlichung.

Gesundheit und Krankheit

60,5 Prozent der Männer, 46,6 Prozent der Frauen und 15 Prozent der Kinder sind hierzulande übergewichtig. 24, 23 beziehungsweise sechs Prozent sind gar fettleibig. 1997 waren etwa 44 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland übergewichtig, 2022 waren es 53,5 Prozent. Die Zahl der von Adipositas betroffenen Sechs- bis Achtzehnjährigen wuchs innerhalb von zehn Jahren bundesweit um mehr als ein Drittel – in der Teilgruppe der 15- bis 18-Jährigen gar um 43 Prozent. Dabei nahm das Ausmaß „des Kapitalismus“ doch weiter zu, oder nicht? Wie passt dies mit der These zusammen? Eher: nicht. Bereits der Blick in den Bundestag, die Regierung, die Parteivorstände spricht gegen die These von Übergewichtigen als „failed citizens“.

Die Zahl der Schulstunden im Fach Sport fiel von vier Anfang der Neunzigerjahre an Haupt- und Realschulen auf heute durchschnittlich zwischen 2,2 und 2,4. Davon fällt jede vierte aus. Alle vier Tage wird in Deutschland ein Schwimmbad geschlossen. Die landesweit häufigsten Todesursachen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Bewegungsmangel-Folgekosten für das Gesundheitssystem

Die jährlichen Bewegungsmangel-Folgekosten für das nationale Gesundheitssystem: mehr als neun Milliarden Euro. Nur 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland erreichen die von der WHO empfohlene Mindest-Bewegungszeit von 60 Minuten pro Tag. Der durchschnittliche Tag eines Erwachsenen hierzulande besteht aktuell aus: 7,5 Stunden Schlaf, 8,5 Stunden Sitzen, acht Stunden Stehen und Bewegung, davon 20 Minuten „intensiv“. Laut einer Krankenkassen-Studie hat hierzulande der Anteil der Sechs- bis Zehnjährigen mit motorischen Entwicklungsstörungen in zehn Jahren um 63 Prozent zugenommen.

Eine Befragung der AOK ergab, dass nur jedes zehnte Kind ausreichend Bewegung hat. Die Hälfte der 14- bis 17-jährigen Patienten leiden an Rücken- und Nackenschmerzen. Sind dies Zahlen, die einen ausufernden, mit Neoliberalismus korrelierenden Fitnesswahn zeigen? Mit einem ausreichenden Maß an Bewegung und einer ausgewogenen Ernährung könnten, laut Global Burden of Disease, GBD, allein hierzulande pro Jahr rund 242.000 vorzeitige Todesfälle vermieden werden.

Fortschritt und Freiheit

Wenn die körperliche Fitness einer Gesellschaft ein Zeichen für die kapitalistisch-wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wäre, wären die meisten Industrienationen, die USA und Deutschland vorneweg, auf dem Weg in Richtung Dritte-Welt-Land. Handelt es sich hier um ein Henne-Ei-Problem? Was war zuerst da – Marktwirtschaft oder Zeit für Fitnesstraining? Wann begann die Ära des Kalorienüberschusses und wann jene der ausgebauten sozialen Sicherungssysteme und der arbeitsfreien Zeit? Erst in den vergangenen Jahrzehnten. Erst nachdem zunehmend Wohlstand aufgebaut worden war.

Erst der technische Fortschritt und die von den „einfachen Bürgern“ erkämpften und abgetrotzten Freiheitsgrade für alle haben, in manchen Ländern, zu einem „Wohlstand für alle“, Zitat Ludwig Erhard, und infolgedessen zu einer Marginalisierung der Körperlichkeit geführt.

Erst nach dieser „Entkörperlichung“ konnte es qua Definition in kleinen Teilen der Gesellschaft zu einer Art Gegenbewegung kommen: zum sogenannten „Fitnesstrend“. Der Mechanismus funktioniert demnach genau andersherum: In Ländern mit hohem Einkommen liegt, nach einer Studie der WHO, der Anteil der Menschen, die sich zu wenig bewegen, bei 36,8 Prozent. In Ländern mit niedrigen Einkommen bei 16,2 Prozent. Marktwirtschaftliche Offenheit korreliert positiv mit Wohlstand. Und Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten korreliert mit hohen Bewegungsmangel-, Krankheits- und Adipositas-Raten.

Die Auswirkung von Wohlstand auf die Bewegung

Dies wird auch am Beispiel Vietnams deutlich. Seit sich die sozialistische Republik wirtschaftlich reformiert und geöffnet hat, wächst der Wohlstand der Bevölkerung rapide. Gleichzeitig stieg, laut einer WHO-Studie, allein zwischen 2006 und 2016 der Anteil an übergewichtigen Menschen von 13 auf 18 Prozent – ergo: um 44 Prozent.

Eine ähnliche Entwicklung findet auch in Mexiko statt. 1980 waren noch weniger als 40 Prozent der Mexikaner übergewichtig. 2008 waren es fast 70, heute sind es 75 Prozent. „Wenn sich Länder von einem niedrigen zu einem mittleren Einkommen hin zu einem hohen Einkommen entwickeln, verdienen die Menschen mehr Geld und können die Lebensmittel essen, die ihnen schmecken“, sagt Steve Wiggins vom Overseas Development Institute in London. In vielen anderen Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen kann es gar keinen „Freizeitsport“ geben. Denn es gibt keine Freizeit. Keine Muße. Keinen Überschuss. Keine Sorglosigkeit.

Geschichte und Leistung

Wann in der Geschichte der Menschheit kam eine Fixierung auf leistungsfähige Körper auf? Eine Vermutung könnte lauten: vor rund 3,2 Millionen Jahren. Seit der erste Menschenaffe von seinem Baum geklettert ist. Körperlichkeit definiert jedes Tier, auch den Menschen. Das Überleben war seit Anbeginn der Lebewesen von der eigenen Bewegungsfähigkeit, den Muskeln, der Schnelligkeit, der Kraft, der Ausdauer abhängig. Mehr als 99 Prozent der Menschheitsgeschichte bestand vor allem aus: dem Kampf ums Überleben. Nahrungssuche, Jagd, Krieg, Feldarbeit, Flucht. Mit dem Sesshaftwerden und der Ausweitung der Landwirtschaft kamen zunächst: das weite Auseinanderdriften der „sozialen Klassen“, Hunger, Krieg und Krankheiten.

In mehreren Untersuchungen, unter anderem der Universität Cambridge, wurde gezeigt, dass der Übergang von der Jäger-und-Sammler-Epoche zu einer sesshaften bäuerlichen Lebensweise für das Gros der Menschheit zunächst ein „schlechter Deal“ war. Die Lebensqualität und -dauer sanken, die Arbeitszeiten nahmen zu, die Bedingungen wurden schlechter. Die durchschnittliche Körpergröße ging um mehr als zwölf Zentimeter zurück. Die Lebenserwartung und die Körpergröße waren erst nach rund 10.000 Jahren auf dem „alten Stand“. Der Großteil der Menschen kämpfte zumeist darum, das tägliche Kaloriendefizit auszugleichen.

In der Moderne gilt: Erst nachdem Wohlstand und Freiheitsgrade erschaffen und errungen wurden, bleibt auch den Menschen außerhalb einer winzigen Oberschicht genug Zeit und Kapital, um sich nicht lebensnotwendigen Dingen zu widmen. Etwa: Sport und anderen Hobbys. Der Körper als Symbol – ist dies, wie es im Buch suggeriert wird, ein Produkt der 1970er-Jahre, der Zeit der Jane-Fonda-Aerobic-Videos? Die wohl berühmteste Statue der Welt, Michelangelos David, wurde um das Jahr 1504 erschaffen.* Dieser Körper wirkt wie ein Symbol der puren physischen Leistungsfähigkeit.

War Michelangelo seiner Zeit Jahrhunderte voraus, nahm er „neoliberale Kapitalismus-Ideale“ vorweg? Im Gegenteil. Er kopierte nur sehr viel ältere Traditionen. Jene der Griechen und Römer. Ob Minoer, Ägypter, Sumerer oder Frühchinesen: Die Zeugnisse der frühen Hochkulturen zeigen eine Fixierung auf gut trainierte, sehr athletische und schlanke Körper.

Wirtschaft und Freizeit

Seit 1978 gelang allein in China mehr als 800 Millionen Menschen der Aufstieg aus der absoluten Armut – ein in diesem Ausmaß in der Menschheitsgeschichte einmaliger Erfolg. Ein Hauptgrund: Die wirtschaftliche Öffnung des Landes und das Loslösen von der reinen Planwirtschaft. 20 Jahre zuvor hatte Mao den „großen Sprung nach vorne“ verordnet. 45 Millionen Menschen starben – an Hunger, Folter, Krankheiten. Vor der Umwandlung von der reinen Plan- in eine „sozialistische Marktwirtschaft“ gab es in China sehr wahrscheinlich sehr wenige übergewichtige Menschen – die Parteikader einmal ausgenommen. Auch wenn alle „gleich“ sind, sind immer manche gleicher.

Im einst streng kommunistischen Vietnam sank nach den die Wirtschaft teils öffnenden Doi-Moi-Reformen seit Mitte der 80er-Jahre die Armutsquote von mehr als 80 auf nur noch rund fünf Prozent. Bevor Korea 1948 in einen kapitalistischen Süden und einen kommunistischen Norden geteilt wurde, war es eines der ärmsten Länder der Welt, vergleichbar mit Afrika südlich der Sahara. Dies blieb bis Anfang der 60er-Jahre so, auch im Süden.

Heute steht Nordkorea im Index für wirtschaftliche Freiheit auf Rang 177 – als letztes aller gelisteter Länder. Das marktwirtschaftliche Südkorea liegt auf Platz 19 – nur drei Ränge hinter Deutschland. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit 47 Jahre. Heute: 72. Vor der Entwicklung der Marktwirtschaft lebten die allermeisten Menschen in extremer Armut – 1820 betrug die Armutsquote 90 Prozent. 1981 lag sie bei 42,7, im Jahr 2000 bei 27,8, 2021 bei unter zehn Prozent.

Fitnesstrend als Randerscheinung

Wirtschaft, Wohlstand und die zunehmende „Entkörperlichung“ hängen miteinander zusammen. Der, warum auch immer, von einigen beklagte „Fitnesstrend“ ist nur eine Gegenbewegung eines sehr kleinen Bevölkerungsanteils. Laut des „Global status report on physical activity 2022“ beträgt weltweit der Anteil an Jugendlichen, die sich deutlich zu wenig bewegen: 81 Prozent. Eine fatale Zahl.

Der Teufelskreis aus Bewegungsmangel, Junk-Food, mehr Digitalisierung, weniger sozialen Kontakten und den daraus resultierenden psychischen und physischen Problemen dreht sich immer weiter und schneller – und wird dennoch, noch immer, politisch weitgehend ignoriert.

Dieser Leitartikel erschien in der RennRad 6/2023. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

*Als älteste Kunstwerke der Menschheit gelten die „Venus von Willendorf“ und ähnliche steinzeitliche Darstellungen sehr voluminöser Frauenkörper. „Fett muss für die Menschen des Jungpaläolithikums, 40.000 bis 10.000 vor Christus, purer Luxus gewesen sein. Warum also stellten sie in den ältesten Darstellungen des menschlichen Körpers diesen als von Fett gezeichnet dar?“, schreibt ‚Welt Geschichte‘.

In einer Studie der University of Colorado wurde festgestellt, dass die Herstellung dieser Figuren mit Zeiten extremer Nahrungsknappheit korrelieren. Eine Klimaveränderung führte zu einem schnellen Absinken der Temperaturen. Die Messungen zeigten, „dass in den Regionen, die den vordringenden Gletschern am nächsten lagen, die Statuetten deutlich rundlicher waren als in Räumen, die noch nicht vom Eis bedroht waren. Daraus schlossen die Forscher, dass die Figuren nicht Schwangere wiedergeben, wie von anderen Autoren vorgeschlagen, sondern einen idealisierten Körpertyp für die deutlich schwieriger gewordenen Lebensbedingungen darstellten. Rasch Fett anzusetzen und Nahrung gut für sich verwerten zu können, sei in Zeiten des Mangels von großem Vorteil gewesen.“

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