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Leistungssport, Ehrenamt, Radrennen: Leitartikel zum Stand des Radsports

Zeitfrage

Leistungssport, Ehrenamt, Radrennen: Leitartikel zum Stand des Radsports

Radmarathons und Jedermannrennen boomen, die Zahl der Rennradfahrer steigt – aber klassische Lizenzrennen sterben. Ein Leitartikel zum Stand des Radsports.
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Im Leistungssport geht es um viel, vor allem um Verzicht: Ein Athlet tauscht Zeit gegen potenziellen Erfolg ein. Für Profisportler ist dieser Tausch in der Regel „vernünftig“, denn der Sport ist ihr Beruf. Bei Amateur- und Hobbysportlern ist dieses Verhalten für Außenstehende, also einen großen Teil der Bevölkerung, sehr viel weniger nachvollziehbar. Dennoch ist das Gesetz unabdingbar: Wer bei einem Radrennen erfolgreich sein will, muss zuvor viel opfern. Vor allem jene Ressource, die wohl die wertvollste und knappste überhaupt ist: Lebenszeit.

Ein Athlet definiert sich über seinen Sport, über sein Hobby. Er kann beim Training abschalten, den Kopf frei bekommen, den Alltag vergessen, an seinem Körperbild und seiner Identität arbeiten. So weit ist die Motivationsspirale recht klar und offensichtlich.

Doch: Es existiert auch die andere Seite der Medaille, die andere Seite des Leistungssports, jene Seite, die fast immer im Dunkeln bleibt, die so wichtig ist und dennoch kaum beleuchtet wird. Jene Seite, die in diesem Land, in diesem Sport stirbt: die Seite der Rennveranstalter. Die Seite der Ehrenamtlichen. Jener Menschen, die ihre Freizeit opfern, um anderen ihren Sport zu ermöglichen.

„Das Ehrenamt ist ein Dienst – aber es ist auch die Chance, seine Umgebung, unser Miteinander, unsere Gesellschaft mitzugestalten“, sagte der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau in einer Rede. Doch im Radsport werden den Ehrenamtlichen und allen anderen Event-Organisatoren immer mehr Steine in den Weg gelegt – von der Politik. Die Veranstalter ersticken in Bürokratie und immer neuen Auflagen. Auflagen, die von kleinen Vereinen kaum mehr zu finanzieren sind. Die Konsequenz: Die Rennen sterben.

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Kostenexplosion im Leistungssport

Bayernrundfahrt, Thüringenrundfahrt der U23, Regiotour, Mainfrankentour, Sachsentour, Tour de Berlin – alle waren sie traditionsreiche Etappenfahrten. Keine davon existiert heute noch.

Aktuell ist auch eines der wichtigsten Etappenrennen Europas für ganz junge Fahrer gefährdet: die Internationale Kids Tour in und um Berlin für Jungen und Mädchen bis 15 Jahre. Sie wird seit 1993 ausgetragen. In der Siegerliste finden sich Namen wie John Degenkolb, 2003, oder Maximilian Schachmann, 2008. Jetzt steht sie vor dem Aus. Der Grund: immer weiter steigende behördliche Auflagen. Zu viel für die ehrenamtlichen Mitarbeiter. Zu viel für das Budget.

Der Gesamtetat der Rundfahrt liegt bei rund 74.000 Euro – doch durch die kurzfristig auferlegten behördlichen Auflagen fehlen den Organisatoren nun 10.000 Euro, um diese erfüllen zu können. Die Veranstalter haben eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, um das Rennen zu retten.

Selbst die deutsche Straßenmeisterschaft der Profis war in diesem Jahr gefährdet. Erst im letzten Moment fand sich noch ein Ausrichter. „Die Anzahl der Straßenrennen ist in den vergangenen zehn Jahren mindestens noch einmal um 50 Prozent gesunken“, sagte Udo Sprenger, der langjährige Vizepräsident des Bundes Deutscher Radfahrer, in einem FR-Interview. Der Hauptgrund für das Radrennen-Sterben sei fast immer derselbe: die Bürokratie. Und vor allem: die hohen Kosten durch steigende Sicherheitsauflagen. So hätten die Veranstalter des am 1. Mai ausgetragenen Klassikers Frankfurt-Eschborn allein „200 Seiten Auflagen zur Strecken-Absperrung erhalten“.

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Situation im Leistungssport: Ein Teufelskreis

Natürlich hat diese Entwicklung Folgen – und zwar fatale. Weniger Rennen gehen mit weniger Fahrern einher. Und mit weniger Chancen. Doch gerade junge Sportler brauchen die Wettkämpfe für ihre Entwicklung. Noch sind die deutschen Nachwuchsfahrer konkurrenzfähig. Die aktuellen Talente sind sogar mehr als das. So gewannen die deutschen U19- und U23-Athleten bei den Bahn-Europameisterschaften in Gent, Belgien, in diesem Jahr 24 Medaillen in 44 Wettbewerben – 13 goldene, vier silberne, sieben bronzene.

Im Straßenrennsport sticht ein Fahrer hervor: Marco Brenner. Schon heuer, in seinem ersten Jahr in der Juniorenklasse, stellte er klar: Er ist ein Supertalent. Der 17-Jährige gewann die Rennen der Rad-Bundesliga fast nach Belieben, dazu die Gesamtwertung der schweren Tour du Pays de Vaud in der Schweiz, zwei Etappen der renommierten Lunigiana-Rundfahrt in Italien, den Grand Prix Patton in Luxemburg und die Oberösterreich-Juniorenrundfahrt.

Doch wie lange wird die Spitze der Leistungspyramide besetzt sein, wenn die Basis immer stärker erodiert und schmaler wird? Wo und wie sollen sich die zukünftigen deutschen Radprofis entwickeln?

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Zahl der notwendigen Helfer steigt

Im Gegensatz zu früher verlangen die Gemeinden beziehungsweise die Landratsämter heute eine Vollsperrung von Rennstrecken. Somit steigt die Zahl der notwendigen Helfer, die der Polizisten, die der Kosten für die Absperrungen. Zudem müssen sämtliche Umleitungen ausgeschildert sein, natürlich mit normierten, vorgeschriebenen und teuren Schildern. Zudem gibt es Anforderungen von der Seite der Verbände – hinsichtlich des Kampfgerichts oder der Transponderzeitnahme etwa.

All dies sorgt dafür, dass heute neben dem Einsatz vieler ehrenamtlicher Helfer auch ein niedriger fünfstelliger Betrag nötig ist, um ein Lizenzrennen zu veranstalten. Allein dieses Wissen schreckt immer mehr Menschen und Vereine davon ab, ein Event zu veranstalten.

Wie ändert man diese Entwicklung? Wie durchbricht man diese Negativspirale? Indem man umsetzt, was Politiker seit Jahren, oder eher Jahrzehnten, predigen – um danach das Gegenteil zu tun: Indem man Bürokratie abbaut. Es muss geschehen, was in Deutschland unmöglich erscheint: Prozesse, Genehmigungsverfahren und Verwaltungsaufwand zu reduzieren. Und damit die Kosten und den Zeitaufwand derjenigen, die ihre Freizeit für den Sport, für ihr Hobby, für den Radsport-Nachwuchs opfern.

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Der Leistungssport und seine Vorbildfunktion

Den Sport zu fördern, ist aus Sicht der Politik allein schon ein Gebot der Rationalität. Eigentlich. Stichworte: Sozialisation zu Werten, die gesellschaftlich erwünscht und wertvoll sind – Teamwork, Fairness, Regeleinhaltung –, Bewegungsmangel, Zivilisationskrankheiten, psychische Erkrankungen, Milliardenkosten. Wer Zeit in ein Ehrenamt investiert, leistet einen Dienst an der Gesellschaft. Dies sollte ein Staat honorieren, statt es zu erschweren. Vereine sind Entwicklung-, Sozialisations- und Integrationsinstanzen. Schon deshalb sollten sie politisch stark gefördert werden.

An den Rennveranstaltern und dem Bund Deutscher Radfahrer liegt es, den Rennsport wieder attraktiver zu machen – und ihn zu öffnen. Ein nachahmenswerter Weg ist etwa jener, den die Veranstalter des „Riderman“ nun eingeschlagen haben: Im Rahmen des hochklassigen Etappenrennens für Jedermann-, also Nicht-Lizenz-Fahrer werden zukünftig auch Lizenzrennen der Klassen U19 und U17 ausgetragen. Alles im Rahmen einer Kooperation zwischen den Machern des Riderman und des Heuer-Cup.

Es entsteht etwas, das der vorherrschenden Entwicklung widerspricht: ein neues, schweres, langes Straßenrennen. Und damit genau das, was junge Talente für ihre sportliche Entwicklung brauchen. Diese Kooperation hat eine Vorbildfunktion. Es bleibt zu hoffen, dass sie viele Nachahmer finden wird.

Denn damit wird eine Brücke geschlagen zwischen den beiden sich so konträr entwickelnden Welten des Radsports: der Lizenz- und der Jedermann- beziehungsweise Hobbyszene. Radmarathons und Jedermannrennen boomen, die Zahl der Rennradfahrer steigt, überall entstehen neue informelle Trainingstreffs. Zu Hause, in den eigenen vier Wänden werden immer mehr Menschen zu Rennfahrern – virtuell, auf dem Hometrainer, durch digitale Plattformen wie etwa die Software Zwift, mit der man gegen andere Radfahrer auf der ganzen Welt antreten kann. Doch der traditionelle Lizenz-Rennsport stirbt. Das sollte man nicht zulassen.


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