Radfahrer, Verkehrspolitik, Infrastruktur, Deutschland
Verkehrsinfarkt: Leitartikel zum Umgang mit Radfahrern

Warum die Politik beim Umgang mit Radfahrern versagt

Verkehrsinfarkt: Leitartikel zum Umgang mit Radfahrern

Radfahrer werden benachteiligt. Dabei sollten sie gefördert werden – aus finanziellen und aus gesellschaftlichen Gründen. Doch die Politik versagt.
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Jeden Euro kann man nur einmal ausgeben – am besten für Sinnvolles. Für etwas, das sich rechnet, das eine Rendite einbringt – finanziell und in vielen weiteren Bereichen. Für eine Investition in die Zukunft. In Sicherheit, Lebensqualität, Umweltschutz, Kostenersparnis.

Eine solche Investition klingt zu gut, um wahr zu sein? Nein, es gibt sie. Denn all dies trifft auf ein Investitionsobjekt zu: die Fahrrad-Infrastruktur. In anderen Ländern hat man dies längst, teils seit Jahrzehnten, erkannt. Mit messbaren Ergebnissen.

Unzählige verletzte Radfahrer wegen schlechter Infrastruktur

In dem angeblich ach so reichen Deutschland dagegen wird nach wie vor viel zu wenig in Radwege und den Ausbau der Rad-Infrastruktur investiert.

Obwohl hierzulande statistisch gesehen mehr als ein Radfahrer pro Tag bei Unfällen stirbt. Obwohl 79.000 Radfahrer pro Jahr verletzt werden. Bei Unfällen innerhalb geschlossener Ortschaften sterben seit Jahren mehr Rad- als Autofahrer.

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Je mehr Radfahrer, desto weniger Unfälle

Der Anteil der Radfahrer am bundesweiten Verkehrsaufkommen ist zwischen 2002 und 2017 von neun auf elf Prozent gestiegen. In den Niederlanden liegt der Anteil bei 31 Prozent. Gleichzeitig verunglücken Radfahrer dort etwa zehnmal seltener.

Ein Hauptgrund dafür: In vielen Städten und Regionen, in denen eine sinnvolle und sichere Rad-Infrastruktur geschaffen wurde, wurde ein Safety-in-Numbers-Effekt nachgewiesen – steigt die Zahl der Radfahrer in einer Region, verringert sich deren Unfallrisiko signifikant. So ist das Risiko für Radfahrer in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen innerhalb von 15 Jahren um mehr als 70 Prozent zurückgegangen.

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Rad-Infrastruktur: Kein Wille zur Verbesserung der Lage

Die Infrastruktur zu erneuern, zu verbessern, sie sicherer zu machen, wäre finanziell kein Problem. Es ist nur augenscheinlich politisch nicht gewollt. Wie man dafür sorgt, dass mehr Menschen Rad fahren, und wie man das Radfahren sicherer macht, haben viele andere Länder und Städte bereits gezeigt. Man müsste es nur nachmachen. Wollen.

Doch die traurige Realität zeigt: Bei den Pro-Kopf-Ausgaben für den Radverkehr liegen deutsche Städte im internationalen Vergleich weit hinten. In Stuttgart bei fünf Euro, in Berlin bei 4,70, in Frankfurt bei 4,30, in Hamburg bei 2,90, in München bei 2,30 Euro.

In Amsterdam sind es laut der zugrunde liegenden Greenpeace-Studie elf Euro pro Kopf und Jahr, in Kopenhagen 35,60, in Oslo 70, in Utrecht 132 Euro – mehr als 57-mal so viel wie in der bayerischen Landes- und ehemaligen selbst ernannten „Radl-Hauptstadt“. Vielleicht orientieren sich die Kommunen am Bund, denn die radbezogene Investitionsquote des Verkehrsetats liegt dort gerade einmal bei rund 0,5 Prozent.

Investitionen in Radwege: Lohnenswert

Das Thema Sicherheit ist das eine. Der eine Grund, warum ein Staat, ein Land, eine Kommune, handeln sollte. Ein anderer lautet: Geld. Jeder in die Rad-Infrastruktur investierte Euro wirft eine Rendite ab.

Bereits 2014 wurde in einem Report der britischen Regierung konstatiert: Rad-Infrastruktur hat eine enorme gesamtgesellschaftliche „Marge“. Demnach lag das Verhältnis von Gewinnen zu Kosten zwischen 2:1 und 38:1.

In den Niederlanden betragen die jährlichen staatlichen Investitionen in den Radverkehr rund 500 Millionen Euro. Umgerechnet erbringen diese allein in Gesundheitseffekten einen Gewinn von 19 Milliarden Euro – ein 38:1-Return-on-Investment.

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Radfahrer sind lokaler, gesünder und günstiger

Um „The Value of Cycling“ ging es auch in einer sehr umfassenden Untersuchung der University of Birmingham. Einige der Ergebnisse: Radfahrer kaufen häufiger in lokalen Geschäften als Nutzer anderer Transportmittel. Pro Quadratmeter gerechnet, liefern Fahrrad-Stellplätze fünfmal höhere lokale Konsumeinnahmen als Pkw-Parkplätze.

Die Produktivität von Rad- ist signifikant höher als die von Auto-Pendlern – zudem haben erstere durchschnittlich weniger Krankheitstage. Der Kostenvorteil von Kurzdistanz-Lieferungen per Rad gegenüber einem motorisierten Transporter liegt zwischen 39 und 64 Prozent.

In Deutschland wurde für einen geplanten Radschnellweg in der Region Ruhr ein Kosten-Nutzen-Vorteil des Faktors 4,8 errechnet – jeder investierte Euro resultiert demnach in einem „Gewinn“ von fast fünf Euro. In diese gesamtgesellschaftliche Berechnung ließ man Parameter wie Staus, Umwelt- und Gesundheitskosten, Lärm und Tourismus einfließen.

Die positiven Effekte sind enorm. Das zeigen auch viele weitere Studien – so etwa eine umfassende Untersuchung der Universität Utrecht. Die Ergebnisse: In den Niederlanden leben Radfahrer durchschnittlich sechs Monate länger als Nicht-Radfahrer.

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Eine einfache Rechnung: Länger Radfahren, länger leben

6500 Todesfälle können durch die positiven Effekte der Bewegung jährlich vermieden werden. Im Durchschnitt fährt jeder Niederländer rund 75 Minuten pro Woche Rad. Entsprechend der Berechnung zahlt sich jede Stunde Radfahren in einer Lebensverlängerung um eine Stunde aus.

Die auf die Gesundheitskosten umgerechneten Vorteile entsprechen demnach mehr als drei Prozent des niederländischen Bruttoinlandsprodukts. Allein in der rund 340.000 Einwohner zählenden Stadt Utrecht betrug der jährliche gesamtgesellschaftliche Nutzen des Fahrrades rund 250 Millionen Euro – 735 Euro pro Einwohner. Dies hat das Forschungsinstitut Decisio berechnet.

Krankheitstage, CO2: Von allem ein bisschen weniger

In einer dänischen Studie aus  dem Jahr 2016 zu den Auswirkungen des Radverkehrs in der Metropolregion Kopenhagen zeigte sich, dass seit der Eingangsuntersuchung im Jahr 2012 durch das Radfahren hochgerechnet rund 50.000 Krankheitstage weniger anfielen. Das entspricht einem ökonomischen Gewinn von rund 215 Millionen Euro.

Die Menge an CO2, die allein während des dreimonatigen Testzeitraums eingespart wurde: 154 Tonnen. Der Verkehrsträgervergleich zeigt, dass durch Rad- und Fußverkehr pro „Personenkilometer“ 138 Gramm CO2 eingespart werden können. Ein Mensch, der seinen fünf Kilometer langen Arbeitsweg mit dem Rad statt dem Auto zurücklegt, sorgt somit für eine jährliche CO2-Einsparung von rund 350 Kilogramm.

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Solidarisch: Wer mit dem Rad fährt, fördert die Gesellschaft

Nach Berechnungen des Professors Stefan Gössling von der Universität Lund erzeugen Autofahrer Kosten von 20 Cent pro Kilometer, die derzeit nicht durch Steuern und Abgaben gedeckt sind. Seine Schlussfolgerung: „Davon ausgehend, dass ein Auto pro Jahr etwa 20.000 Personenkilometer bewegt wird, bedeutet dies, dass in Deutschland jedes einzelne Auto pro Jahr mit 4000 Euro von uns allen subventioniert ist.“

In Relation dazu seien 200 Millionen Euro für die Radverkehrsförderung „eine schreiende Ungerechtigkeit“. Denn nach seinen Berechnungen bringt jeder auf einem Fahrrad zurückgelegte Kilometer einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen von 30 Cent.

Einen größeren Teil des Verkehrs auf das Fahrrad zu verlegen, kann also ein Part der Lösungsstrategie für gleich mehrere große Probleme der heutigen Zeit sein: den innerstädtischen Platzmangel, den Bewegungsmangel weiter Kreise der Bevölkerung, die Verschmutzung von Umwelt und Luft – und: den Stau. Nach einer Studie des Unternehmens Inrix kosten Verkehrsstaus die deutsche Wirtschaft 80 Milliarden Euro pro Jahr.

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Dem Übergewicht vorbeugen: Radfahren als Prävention

Volkswirtschaftlich kommen dazu noch die enormen Kosten für die Umweltverschmutzung, den Flächenfraß und den Bewegungsmangel. Denn: Deutschland verfettet.

Aktuell sind hierzulande rund zwei Drittel der Männer, 67 Prozent, und mehr als die Hälfte der Frauen, 53 Prozent, übergewichtig. Ein Viertel aller Erwachsenen gilt – laut einer Untersuchung des Robert-Koch-Instituts – sogar als fettleibig. Die Folgekosten von „Bewegungsmangel-Krankheiten“ für das deutsche Gesundheitssystem: 15 bis 20 Milliarden Euro pro Jahr. Tendenz: stark steigend.

Ein großer Teil dieser Kosten könnte gespart werden – durch Prävention. Durch mehr Bewegung. Die positiven Gesundheitseffekte von Ausdauersport sind unstrittig. Um diese alle zu erwähnen, reicht der Platz in diesem Magazin nicht aus.

Deshalb soll es hier bei einer Zahl als Beispiel und Symbol für das große Ganze belassen werden: Regelmäßige Bewegung senkt das Risiko eines Herzinfarkts um rund 50 Prozent. Und natürlich wirken Sport und Bewegung auch gegen typische psychische „Massenkrankheiten“: indem sie dabei helfen, negative Stressoren abzubauen. Etliche Studien haben gezeigt, dass Ausdauersport mentale Probleme wie Ängstlichkeit und Depressionen reduzieren kann.

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Wohnungsmangel in deutschen Städten: Mieten vs. Löhne

Ein weiteres, in mehrfacher Hinsicht enorm teures Problem vieler Städte und ihrer Bewohner: der Platzmangel. Der motorisierte Straßenverkehr beansprucht im Durchschnitt die zehnfache Fläche anderer Verkehrsmittel.

Die Mieten in den Großstädten sind seit 2010 um rund 40 Prozent gestiegen. Die Kaufpreise haben sich deutschlandweit zwischen 2009 und 2017 um rund 50 Prozent, in städtischen Regionen um 70 Prozent, in den sieben größten Städten des Landes um 90 Prozent verteuert.

Da stellt sich die Frage: Wer verdient eigentlich heute 70 bis 90 Prozent mehr als 2009? Hier das „Wachstum“ der durchschnittlichen Bruttolöhne zwischen 2000 und 2015: 1,4 Prozent.

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Die Bahn: (K)ein zukunftsfähiges Transportmittel

Das Wachstum der Ticket-Kosten für ein weiteres potenzielles Verkehrsmittel der Zukunft – die Bahn: 66 Prozent, zwischen 2003 und 2017, im Fernverkehr, laut Pro Bahn. Während im Durchschnitt jeden Tag 3,3 aller Fernverkehrshalte ausfallen – und im August 2018 ganze 69,8 Prozent der Fernverkehrszüge pünktlich ankamen.

„Pünktlich“ ist in der Deutsche-Bahn-Definition alles mit weniger als sechs Minuten Verspätung. Zum Vergleich: In Japan, China und Taiwan, wo alles ab einer Minute als Verspätung gilt, kommen 99 Prozent aller Züge pünktlich an, in den Niederlanden über 91 Prozent. Die 1300 Kilometer zwischen Peking und Shanghai kann man in chinesischen Zügen in viereinhalb Stunden zurücklegen.

Die Deutsche Bahn dagegen hat trotz der hohen Ticketpreise fast keinen Spielraum für Investitionen. Denn der Konzern zahlt aktuell fast eine Milliarde Euro jährlich für Schuld-Zinsen. Der Investitionsrückstau im Schienennetz liegt bei 32 Milliarden Euro.

Die Pro-Kopf-Ausgaben in das Netz sind hierzulande geringer als in Italien, weniger als halb so hoch wie in den Niederlanden, Dänemark, Großbritannien, Schweden. In Österreich sind sie mehr als dreimal, in der Schweiz rund sechsmal höher.

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Wohnen in Deutschland: Der Ärger mit den Kosten

Fast jeder zweite Haushalt in deutschen Großstädten, 40 Prozent, muss mehr als 30 Prozent des Einkommens für die Miete ausgeben – rund 8,6 Millionen Menschen. 1,3 Millionen Großstadt-Haushalte haben nach Abzug der Mietkosten ein Resteinkommen, das unterhalb der Hartz-IV-Regelsätze liegt. Die Wohneigentums-Quote der 25- bis unter 40-Jährigen ist seit 2002 um 3,7 Prozentpunkte gesunken und liegt aktuell bei knapp 25 Prozent.

70 Prozent der Europäer wohnen im eigenen Heim – und nur 46 der Deutschen. Tendenz: fallend. In keinem anderen EU-Land besitzen auch nur annähernd so wenige Menschen eine Immobilie. Zum Vergleich: 72 Prozent der Italiener besitzen Wohneigentum, 74 Prozent der Griechen, 78 Prozent der Spanier, 83 Prozent der Norweger, 90 Prozent der Kroaten.

Land Anteil der Eigenheimbesitzer
Deutschland 46%
Italien 72%
Griechenland 74%
Spanien 78%
Norwegen 83%
Kroatien 90%

Politik und Banken als Auslöser

Die beiden Hauptpreistreiber: die Politik – allein neue Vorschriften sorgen für Zusatzkosten von 24.000 Euro pro Neubauwohnung, die fast überall stark angehobene Grunderwerbssteuer noch gar nicht eingerechnet.

Und die Europäische Zentralbank, die offenbar nach den Wünschen der Politik handelt, denn die Senkung der Zinsen nahe null in Verbindung mit der Flutung der Märkte durch Anleihenkäufe mit Volumen von bis zu 80 Milliarden Euro pro Monat sorgte nicht nur dafür, dass Staaten sich auf Kosten der normalen Sparer – allein deutschen Sparern entgingen deshalb seit 2006 mehr als 240 Milliarden Euro – entschulden können und dass in Deutschland angesichts der höchsten Steuereinnahmen und einiger Berechnungstricks stolz die „schwarze Null“ verkündet werden kann.

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Populismus als Folge

Es führte auch zu einer „Flucht in die Sachwerte“, zu Immobilienspekulationen und Luxussanierungen. Populistische Reaktionen auf diese Konsequenzen der eigenen Politik, vor allem die sogenannte „Mietpreisbremse“ – deren Effekt ein stärkerer Mietanstieg als in den Jahren zuvor ist – und weitere neue Auflagen werden wohl langfristig dafür sorgen, dass die Privatvermietung immer unattraktiver wird und somit die großen Konzerne noch mehr Marktmacht an sich reißen werden.

Dem größten Mietwohnungs-Konzern Deutschlands, Vonovia, gehören schon heute mehr als 355.000 Wohnungen. Der größte Aktionär hinter Vonovia: Blackrock aus den USA. Der weltweit größte Finanzkonzern.

Deutsche Finanzsituation: Kaum Vermögen, geringe Rente

Das Nettovermögen von 40 Prozent aller deutschen Haushalte liegt bei weniger als 27.000 Euro. Das Medianvermögen deutscher Haushalte: 60.800 Euro. Das griechischer: 65.100. Das italienischer: 146.000. Das spanischer: 160.000 Euro.

Rund 8,6 Millionen, rund die Hälfte aller Rentner, erhielten Ende 2016 weniger als 800 Euro pro Monat. Selbst wer heute 2500 Euro brutto verdient und 35 Jahre lang in Vollzeit gearbeitet hat, wird von 2030 an auf dem Grundsicherungsniveau, das bei 688 Euro liegt, enden – und muss zum Sozialamt. Diese Zahlen stammen nicht von irgendwem, sondern aus einer Hochrechnung des Arbeitsministeriums.

Wie viel muss ein 25-Jähriger mit 3300 Euro brutto pro Monat sparen, um mit 67 Jahren auf monatlich 1800 Euro zu kommen? 570 Euro. Monatlich. Schon heute sind rund fünf Millionen Rentner steuerpflichtig – fast doppelt so viele wie im Jahr 2005. Ab 2040 werden die gesetzlichen Renten komplett besteuert. Man bekommt also viel weniger, als man einzahlt – und das wenige wird dann noch einmal voll besteuert.

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Rente in Deutschland: Abgehängt

Aktuell liegt die deutsche Rentenhöhe, nach einer Statistik der OECD, bei gerade einmal 58 Prozent des Erwerbseinkommens. Und damit elf Prozent unter dem Durchschnittswert der OECD-Länder. Zum Vergleich: In Italien liegt das Niveau bei 75, in Spanien bei 84, in Griechenland bei 110 Prozent.

In Deutschland muss man im Durchschnitt 45 Jahre für die Rente arbeiten. In Frankreich 41, in Italien 40, in Griechenland 35 Jahre. In Deutschland, so hat es der Bund der Steuerzahler errechnet, arbeitet ein durchschnittlicher Arbeitnehmer bis zum 18. Juli nur für den Staat – von einem erarbeiteten Euro bleiben 45,7 Cent übrig. Die Einkommensbelastungsquote von 54,3 Prozent erreichte 2018 einen Rekordwert.

Land Medianvermögen eines Haushalts Rentenhöhe des Erwerbseinkommens Jahre für die Rente arbeiten
Deutschland 60.800 Euro 58% 45 Jahre
Griechenland 65.100 Euro 110% 35 Jahre
Italien 146.000 Euro 75% 40 Jahre
Spanien 160.000 Euro 84%
Frankreich 41 Jahre

Vorzeigenation Deutschland? Mitnichten!

Angesichts dieser Abgabenquote müsste Deutschland die besten Straßen und Schulen, die besten Radwege, das schnellste Internet, die höchsten Renten haben. Doch in der Realität verfällt die Infrastruktur, beim Breitbandausbau belegt Deutschland Platz 28 der 32 OECD-Länder.

In einer aktuellen Untersuchung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung zu den Rahmenbedingungen für die Digital-Wirtschaft belegte Deutschland unter 33 untersuchten Ländern Rang – gedachter Tusch: 33.

Deutschland ist damit „der unattraktivste Standort für Digital-Investitionen, die über den Wohlstand der Zukunft entscheiden werden“, schreibt Welt.de. So ist es. Bei der Immobilienbesitzquote, dem Vermögen und der Rentenhöhe – überall zählen die Deutschen zu den absoluten Schlusslichtern unter den Industriestaaten.

Großer Niedriglohn-Sektor, kleiner Klimaschutz

Vorne liegt man dagegen bei der Größe des Niedriglohnsektors – 7,4 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland auf 450-Euro-Basis, so viel zum sogenannten „Job-Wunder“. Und bei der Abgabenquote. Allein der Bundestag wird den Steuerzahler in diesem Jahr fast eine Milliarde Euro kosten. Und damit 100 Millionen Euro mehr als im Vorjahr.

Was waren noch gleich die Konsequenzen der Cum-Ex-Geschäfte, des größten Raubzugs der Geschichte, bei dem mal eben 32 Milliarden Euro durch „Steuerschlupflöcher“ flossen? Die der für deutsche Steuerzahler bis zu 240 Milliarden Euro teuren „alternativlosen Bankenrettung“? Die der völlig überstürzten, gut gemeinten, aber fatal gemachten und mindestens eine Billion Euro teuren Energiewende – CO2-Einsparung bisher: null Tonnen.

Platzierung im internationalen Klimaschutzvergleich: 27 – hinter Ländern wie der Slowakei, Rumänien oder Indien; Entschädigungssumme, die deutsche Verbraucher für „ungenutzten Ökostrom“ allein in den vergangenen zwei Jahren zahlen mussten: rund 840 Millionen Euro?

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Ausbeutung des kleinen Mannes

Die des Panama-Papers-Skandals? Die der „Rettung“ der landeseigenen HSH Nordbank mit rund fünf Milliarden Euro Steuergeldern? Die des mehr als sechs Milliarden Euro teuren Baudesasters namens Berliner Flughafen? Und wie hoch sind die Steuerquoten internationaler Großkonzerne – im Fall von Apple nach Berechnungen der EU-Kommission 0,005 Prozent auf die europäischen Gewinne – noch mal? Genau.

Der deutsche Staat betreibt eine Umverteilung von unten und der Mitte nach ganz oben. Er schröpft die Falschen, die normalen Arbeiter, die Mittelschicht.

Ausgaben-Problem

Der Staat hat kein Einnahme-, sondern ein massives Ausgabenproblem. Und er investiert falsch – viel zu wenig in die Zukunft des Landes, in die Lebensqualität, die Infrastruktur, den Erhalt des Wohlstandes.

Für Investitionen in die einzige Ressource, die Deutschland hat, Bildung, gilt dasselbe wie für die in die digitale und die Rad-Infrastruktur: Sie zahlen sich aus. Bis zu 30 Prozent aller Pkw-Fahrten in Ballungszentren lassen sich laut Umweltbundesamt auf das Fahrrad verlagern.

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Fehlende Sicherheit für Radfahrer

Aber: Laut einer Umfrage des Marktforschungsunternehmens Sinus fühlen sich 85 Prozent der Radfahrer unsicher, wenn sie ohne eigene Markierung mit Autos und Lkw gemeinsam auf einer Fahrspur unterwegs sind. Deshalb weichen viele von ihnen aus. Und deshalb verzichten viele potenzielle Radfahrer auf das Fahren in der Stadt.

In anderen europäischen Städten sind Radwege bereits seit vielen Jahren vom übrigen Verkehr getrennt. Der einfachste und beste Weg, die Städte zu entlasten, lautet: Radwege bauen. Richtige Radwege, die sicher sind und Platz bieten. Nicht die auf Straßen gepinselten und ständig zugeparkten Minispuren.

Mut zum Fahrrad

Wer mit dem Rad pendelt, entlastet die öffentlichen und die Krankenkassen. Deshalb muss es im Interesse der Politik sein, so viele Menschen wie möglich zum Radfahren zu verleiten. Durch Anreize.

Ansätze dafür gäbe es viele. Zum Beispiel: Wer mit dem Rad pendelt, sollte – je nach Kilometerzahl und Fitness – zehn bis 40 Prozent geringere Krankenkassenbeiträge zahlen. Man könnte die Pendlerpauschale für Radfahrer verdrei-, vervier-, verfünffachen. Man könnte Kaufprämien für Fahrräder einführen statt für die von ihrer Ökobilanz her umstrittenen und das Stau-, Platz- und Bewegungsmangel-Problem nicht lösenden Elektroautos.

Man könnte sich einfach an seinen Nachbarstaaten orientieren, an den vielen Studien, an dem, was erfolgreich ist, nachhaltig, gut für die öffentlichen Haushalte, die Krankenkassen, die Gesellschaft, die Menschen – denn Radfahren rechnet sich: für eine Stadt, ein Land, eine Gesellschaft. Für die Umwelt, die Psyche, die Physis. Nur fehlt dazu etwas. Entweder der Verstand oder der Wille.


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