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Bewegung und der Einfluss auf das Gehirn und die psychische Gesundheit

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Bewegung und der Einfluss auf das Gehirn und die psychische Gesundheit

Von Gehirnmassen und der Bedeutung der Bewegung: Alltag, Abschalten, Stress, Gesundheit und Krankheit. Leitartikel von RennRad-Chefredakteur David Binnig.
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Geist und Körper, Psyche und Physis – sie bedingen sich. Dass sich Bewegung und psychische Probleme beeinflussen können, ist wissenschaftlich längst gesichert. Doch in welchem Ausmaß diese Faktoren zusammenhängen, war lange unklar. Eine Studie, die im Journal „Frontiers in Psychology“ erschien, lieferte nun zumindest einen Hinweis: 60 Prozent.

Die schwedischen Forscher untersuchten die Daten von rund 400.000 Menschen – mit dem Fokus auf: viel oder wenig Bewegung, Sport treiben oder nicht. Konkret verglichen die Wissenschaftler Menschen, die zwischen 1989 und 2010 mindestens einmal am berühmten Wasa-Lauf – einem 90-Kilometer-Langstrecken-Ski-Langlauf-Event – teilnahmen mit Nicht-Skifahrern beziehungsweise -Sportlern.

Das wichtigste Ergebnis: Die sport-treibenden Menschen wiesen über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg ein rund 60 Prozent geringeres Risiko auf, Angstzustände zu entwickeln als Nicht-Athleten. Als mögliche Wirkmechanismen diskutieren die Forscher der Universität Lund, dass es während der Bewegung, gerade im Freien, ständig sensorische Inputs, und damit geistige Ablenkung, gibt – und durch den Sport das körpereigene Stresssystem trainiert und die psychische Widerstandsfähigkeit erhöht werden kann. Im Hinblick auf den Faktor „psychische Gesundheit“ vermitteln zahlreiche aktuelle Studien ein dramatisches Bild. Das Bild einer Notsituation. Die beiden am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen: Kinder und Jugendliche.

Gesundheit und Krankheit

„Seit dem Beginn der Covid-19-Krise haben psychische Leiden vor allem bei jungen Menschen stark zugenommen“, konstatieren die Autoren einer OECD-Studie. In mehreren Ländern – etwa den USA, Großbritannien, Frankreich und Belgien – hat sich die Zahl ernster psychischer Störungen verdoppelt. So litten demnach 2020 in den USA mehr als 30 Prozent der Menschen an Angstzuständen und 23 Prozent an Depressionen. In Frankreich betrugen diese Quoten 25 beziehungsweise 20 Prozent.

Noch extremere Zahlen brachte eine im „Social Science Research Network“ veröffentlichte Studie mit österreichischen Schülern zutage. Demnach hat sich die psychische Gesundheit innerhalb dieser Altersgruppe im Laufe der Pandemie massiv verschlechtert: 56 Prozent der über 14-Jährigen zeigen eine depressive Symptomatik, rund 50 Prozent weisen Angstsymptome auf, 16 Prozent haben suizidale Gedanken. Die Häufigkeit der Beschwerden hat sich demnach – wie auch jene von Schlafstörungen – verfünf- bis verzehnfacht.

Zu den weiteren Studienbefunden zählt auch, dass sich die „Digitalzeit“ extrem erhöhte: Rund die Hälfte der Schüler verbringt demnach täglich fünf Stunden oder mehr am Smartphone – doppelt so lange wie noch 2018. „Das ist umso bedenklicher, als mit steigender täglicher Handynutzung auch die Häufigkeit psychischer Beschwerden deutlich zunimmt“, sagt der Studienleiter Christoph Pieh von der Donau Universität Krems. Weitere Zahlen, Statistiken und Zusammenhänge zwischen Smartphone- beziehungsweise Internet-Nutzungszeiten, Bewegungslosigkeit und Gesundheit finden Sie im Leitartikel der RennRad-Ausgabe 10/2020.

Mediennutzung älterer Probanden

Ältere Probanden und ihre Mediennutzung standen im Mittelpunkt einer Studie von Wissenschaftlern der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore: Die Wissenschaftler werteten die Fernsehgewohnheiten von 599 Erwachsenen zwischen 1990 und 2011 aus.

Das Resultat: Jene Menschen, die überdurchschnittlich viel fernsahen, wiesen ein klar geringeres Volumen in ihrem frontalen Gehirn-Kortex auf. Im Rahmen einer Langzeitstudie der Columbia University New York wurden 10.700 ältere Menschen über 15 Jahre hinweg hinsichtlich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeiten untersucht. Ein Hauptergebnis: Jene Probanden, die einen besonders hohen TV-Konsum hatten, verschlechterten sich in den Kognitionstests um durchschnittlich 6,9 Prozent stärker als die Nicht- oder Wenig-Fernsehschauer.

Angstzustände, Depressionen, Verhaltsauffälligkeiten

Auch die Ergebnisse des UNICEF-Berichts „Zur Situation der Kinder in der Welt 2021“ sind alarmierend. Beziehungsweise: Sie sollten alarmierend sein. Sind es aber, anscheinend, aus Sicht der politisch Verantwortlichen nicht. Demnach lebt rund jeder siebte junge Mensch zwischen zehn und 19 Jahren mit einer diagnostizierten psychischen Beeinträchtigung oder Störung wie Angstzuständen, Depressionen oder Verhaltensauffälligkeiten.

Zitat: „Kinder und Jugendliche könnten die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf ihre psychische Gesundheit und ihr Wohlbefinden noch viele Jahre lang spüren. Weltweit nehmen sich jedes Jahr rund 46.000 junge Menschen zwischen zehn und 19 Jahren das Leben – ein junger Mensch alle elf Minuten. In der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen ist Suizid die vierthäufigste Todesursache nach Verkehrsunfällen, Tuberkulose und Gewalttaten.“ Die UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta Fore konstatiert: „Wegen der landesweiten Lockdowns und den pandemiebedingten Einschränkungen haben Kinder prägende Abschnitte ihres Lebens ohne ihre Angehörigen, Freunde, Klassenzimmer und Spielmöglichkeiten verbracht – Schlüsselelemente einer jeden Kindheit.“

Langfristige Effekte der Pandemie

Die langfristigen Effekte der Pandemie und der Pandemie-Politik wurden und werden, in der Relation zu ihrem potenziellen gesellschaftlichen Ausmaß, erstaunlich wenig diskutiert. Die Effekte der sozialen und soziologischen Veränderungen auf Kinder – auf ihre Physis und ihre Psyche – standen im Mittelpunkt einer Studie der Brown University, USA.

Dabei wurde festgestellt, dass Kleinkinder, die während der Pandemie zur Welt kamen, deutlich schlechtere verbale, motorische und kognitive Leistungen zeigten als „vor Corona“ Geborene. Im Jahrzehnt vor der Pandemie lag der durchschnittliche IQ-Wert bei standardisierten Tests für Kinder im Alter zwischen drei Monaten und drei Jahren bei rund 100 – bei während der Pandemie Geborenen sank er demnach auf nur noch 78.

Ein Hauptgrund dafür könnte, laut den Studienautoren, der Mangel an Stimulationen und sozialen Interaktionen sein. Ob diese niedrigeren kognitiven Werte einen langfristigen Einfluss haben werden, ist noch unklar. Die größten Leistungseinbußen wurden bei Kindern aus einkommensschwachen Familien festgestellt.

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Lang- vs. kurzfristig

Jungen waren stärker betroffen als Mädchen. Am deutlichsten beeinträchtigt waren die motorischen Fähigkeiten der Kleinkinder. Auch bei älteren Kindern und Jugendlichen vergrößert sich mehreren Studienergebnissen zufolge durch Maßnahmen wie Lockdowns der „Abstand“ zwischen „sozialen“ beziehungsweise „Einkommensschichten“ innerhalb einer Gesellschaft massiv. So untersuchten Bildungsforscher der Universität Oxford die Effekte einer achtwöchigen lockdownbedingten Heimschulungs-Fernunterrichts-Phase auf sieben- bis elfjährige niederländische Schüler.

Das Ergebnis: Der Fernunterricht brachte keinerlei Lernfortschritte. Und das in einem Land, in dem die digitale Infrastruktur sehr viel besser ausgebaut ist als etwa hierzulande. Für Deutschland fehlen – wie sollte es anders sein – groß angelegte Studien zur Effektivität der Maßnahmen. Gegenüber den üblichen Lern- und Kompetenz-Zuwächsen in einem Schuljahr verloren die niederländischen Schüler in Mathematik, bei der Rechtschreibung und im Leseverständnis durchschnittlich drei Prozentpunkte. Bei Kindern aus bildungsfernen Familien liegen die Lernverluste um bis zu 55 Prozent höher als bei Akademiker-Kindern.

Bewegung hilft der psychischen Gesundheit

Angstzustände, Depressionen, ADHS, Konzentrationsstörungen und mehr – für viele „Probleme“ der Psyche gilt: Sport hilft. Bewegung formt nicht nur den Körper, sondern auch den Geist. Im Wortsinn. Das zeigte jüngst eine, wenn auch leider von der Stichprobengrößer her sehr kleine, Studie. Forscher des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin rekrutierten sechs gesunde Probanden im Alter von 24 bis 32 Jahren – und protokollierten während eines Zeitraums von sechs bis acht Monaten, wie viel Zeit sie im Freien verbrachten, wie lange sie körperlich aktiv waren, ihre Flüssigkeitszufuhr und ihren Koffeinkonsum. Zudem wurden bei jedem Studienteilnehmer zweimal pro Woche MRT-Gehirnscans durchgeführt.

Das Ergebnis: Bewegung im Freien formt das Gehirn um. Der Aufenthalt „an der frischen Luft“ war mit einem rund drei Prozent größeren Volumen der grauen Gehirn-Substanz verbunden. Je mehr Zeit ein Proband im Freien verbrachte, desto größer war jener Gehirnbereich. Jener Bereich, der rechte dorsolaterale präfrontale Kortex, ist für Funktionen wie das Arbeitsgedächtnis, das Planen und die selektive Aufmerksamkeit zuständig. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich unsere Gehirnstruktur und unsere Stimmung verbessern, wenn wir Zeit im Freien verbringen. Dies wirkt sich höchstwahrscheinlich auch auf die Konzentration, das Arbeitsgedächtnis und die Psyche als Ganzes aus“, sagt die Hauptautorin Simone Kühn. Eine mögliche Wirkursache: Terpene. Dies sind Stoffe, die Pflanzen absondern, um untereinander Botschaften auszutauschen. Mehr als 8000 Terpene wurden bereits nachgewiesen. Sie sind Hauptbestandteile der sogenannten Waldaerosole.

Stress und Bewegung

In Japan ist die Zeit im Wald, das Spazieren, Erleben, Abschalten, das „Shinrin Yoku“, als therapeutisches Konzept bekannt. Diese „Waldbäder“ werden etwa gegen Depressionen eingesetzt. Ein nachgewiesener Effekt: Bereits nach zehn Minuten im Wald kann das Stresslevel deutlich sinken. Studien zum „Waldbaden“ zeigen, dass Terpene nicht nur entzündungshemmend, sondern auch neuroprotektiv wirken können. Untersuchungen, die die positiven Effekte von Naturerfahrungen auf die Psyche belegen, gibt es etliche.

Eine der großen Langzeitstudien stammt von Forschern der Universität Aarhus, Dänemark. Sie erfassten die Daten von einer Million Menschen im Zeitraum von 1985 bis 2013. Nach dem Ausschluss von Störvariablen stellten sie fest, dass Kinder, die in von Natur umgebenen Umfeldern aufwuchsen, eine um 55 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit hatten, später mentale Probleme zu entwickeln. Je mehr Zeit die Kinder in der Natur verbrachten, desto stabiler war ihre mentale Gesundheit im Erwachsenenalter.

Südkoreanische Forscher wiesen in einer großen Meta-Analyse potenzielle Effekte von Terpenen auf Entzündungen der Atemwege, Dermatitis, Arthritis, Neuroinflammation und weitere Entzündungskrankheiten nach. Wissenschaftler der Nippon Medical School Tokio ließen im Rahmen einer Studie zwölf Probanden in Hotelzimmern übernachten. Bei der einen Hälfte wurde „Waldluft“ in die Zimmer geleitet, bei der anderen nicht. Am nächsten Tag wurden von allen Probanden Blutproben entnommen.

Das Ergebnis: Im Blut jener Menschen, die nachts Waldluft geatmet hatten, wurde eine deutlich höhere Zahl und eine stärkere Aktivität körpereigener Killerzellen gemessen. Bewegung, Natur, Familie, Freunde, Sozialleben, Sicherheit – dies sind potenzielle Gegenmaßnahmen gegen die massive Zunahme psychischer Störungen. Es sind Widerstandsressourcen eines Menschen. Doch die gesellschaftliche Entwicklung geht in eine andere Richtung. Ohne Aufschrei. Ohne Notmaßnahmen. Ohne ständige Debatten. Ohne Sondersendungstalkshows. Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Zahl der psychisch bedingten Fehltage in Deutschland mehr als verdoppelt.

Natur und Kultur

Die dadurch entstandenen Produktionsausfälle werden auf rund 12,2 Milliarden Euro geschätzt – das entspricht 0,4 Prozent des Bruttonationaleinkommens. 43 Prozent derjenigen, die 2018 wegen Erwerbsunfähigkeit vorzeitig in Rente gingen, taten dies wegen psychischer Erkrankungen.

Schon heute erleidet hierzulande jeder Vierte psychische Störungen. Die aktuellen Entwicklungen scheinen wie ein Brandbeschleuniger dessen zu wirken. Stress, soziale Verarmung, Bewegungslosigkeit – dies sind dominierende gesellschaftliche „Trends“. Psychische Überlastungen, Depressionen und Co. sind längst „Volkskrankheiten“.

Diese Entwicklung wirkt wie der Elefant im Raum, über den kaum jemand spricht. In der Relation zu ihrem Ausmaß und den potenziellen Langfristeffekten auf Gesellschaften sind die Debatten dazu fast unsichtbar und unhörbar. „Psychische und körperliche Gesundheit gehören zusammen“, sagt die UNICEF-Direktorin Henrietta Fore. „Wir können es uns nicht leisten, das länger anders zu sehen.“

Dieser Artikel erschien in der RennRad 6/2022Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.


Leitartikel von Chefredakteur David Binnig aus 2022

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