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Image und Kultur von Rennradfahrern: Wie offen ist der Radsport?

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Image und Kultur von Rennradfahrern: Wie offen ist der Radsport?

Preise, Szene, Inflation, Kosten, Material, Image & Einstiegshürden. Wie offen, oder geschlossen, ist der Rennradsport? Ein Leitartikel.
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Ein vollbärtiger Mann auf einem 1500-Euro-Trekkingrad mit Gepäckträger, der durch die US-amerikanische Wüste fährt. Der Mann ist derjenige, der dieses Bild von sich nun – acht Jahre später – wieder auf Social Media veröffentlichte: Sofiane Sehili. Der 40-jährige Franzose ist ein Extrem-Radsportler. Einer der besten der Welt. Seine Spezialität: unsupported Langdistanz-Gravel- und Mountainbike-Rennen. Deren Prinzip: Jeder Starter ist für sich allein verantwortlich. Jeder muss alles, was er unterwegs braucht, selbst an und auf seinem Rad transportieren. Hilfe von außen ist nicht erlaubt.

Sehili gewann unter anderem das Atlas Mountain Race durch Marokko, das Silk Road Mountain Race in Kirgisistan und das French Divide. Die Streckendaten dieser Ultra-Events: 1167 Kilometer und 23.000 Höhenmeter, 1800 Kilometer und 30.000 Höhenmeter beziehungsweise 2170 Kilometer und 35.000 Höhenmeter.

Sofiane Sehili, Atlas Mountain Race, Sieger

Sofiane Sehili gewann das Atlas Mountain Race

Unter dem alten Bild von sich schrieb er: „Radsport-Kultur – was ist das? Warum ist es so, wie es ist? Sollten wir es ändern? Das auf dem Bild bin ich im Jahr 2014 auf der GDMBR, der Great Divide Mountain Bike Route von Kanada in den Süden der USA. Ich war ein völlig mittelloser Fahrradkurier und trug Klamotten und einen Rucksack mit Dingen darin im Gesamtwert von vielleicht 60 Euro. Ich fuhr auf einem 1500-Euro-Fahrrad und hatte daran mit alten verknoteten Rad-Schläuchen eine selbstgebastelte Tasche an meinem Gepäckträger befestigt. Heute, acht Jahre später, fahre ich teure Top-Modelle, trage die beste Radkleidung und nutze eine erstklassige Ausrüstung. Aber ich bin immer noch derselbe Typ: Ich bin einfach glücklich, auf einem Fahrrad zu sitzen. Vor ein paar Wochen war ich zum ersten Mal in Girona, Spanien. Die Stadt ist ein Rennradfahrer-Hotspot. Ich glaube, ich habe es geschafft, mich dort an die Szene anzupassen. Aber gerade so. Mit Mühe. Und ich habe mich nicht wohlgefühlt.

Elitär vs. offen

Warum ist das so? Die aktuelle Radsportkultur, wie sie sich entwickelt hat, empfinde ich als sehr elitär. Wenn man im ‚Radsport-Mekka‘ Girona ist, sieht man nur superteure Fahrradläden und schicke Cafés, in denen schicke Menschen die schicksten neuesten Trend-Getränke trinken. Radfahren muss nicht so sein. Es kann Spaß machen –und es kann entspannt und für alle zugänglich sein. Du kannst anziehen, was du willst, und mit dem Fahrrad fahren, das du dir leisten kannst, und trotzdem dazugehören. Denn die Fahrradkultur sollte das sein, was du daraus machst. Ich verrate dir ein Geheimnis: Der Preis deines Fahrrads, der deiner Klamotten und der deiner Ausrüstung – all dies spielt keine Rolle.

Meine Freude am Radfahren ist heute genau dieselbe wie damals, als ich mit einem gebrauchten 100-Euro-Mountainbike damit anfing. Ich bin jetzt vielleicht ein bisschen schneller, aber ich bin genauso glücklich. Nicht mehr und nicht weniger. Man muss klarstellen: Radfahren ist für jeden, der 100 Euro für ein Fahrrad ausgeben kann. Denn es geht darum, es zu genießen, draußen zu sein, in die Pedale zu treten – und sich hoffentlich nicht zu ernst zu nehmen. Fühlt euch nicht von den hippen Leuten eingeschüchtert, die das teuerste Trikot der angesagtesten Marke und die beste Aero-Sonnenbrille tragen und Bilder ihres Hipster-Café-sechs-Euro-Chai-Latte auf Instagram teilen. Es ist ihr Problem, nicht deins, wenn sie nicht entspannt sein wollen.“

Die Grundfrage, um die es Sofiane Sehili geht, lautet: Wie inklusiv – beziehungsweise exklusiv beziehungsweise elitär – ist der Rennradsport? Und: Wie hoch ist die „Eintrittshürde“ für Einsteiger?

Wohl jede Sportart hat ein „Image“. Diese steht, ob zu Recht oder vermeintlich, für etwas: für Werte, für Parameter, für bestimmte Stereotype. Das Image, man könnte auch Klischee sagen, des Golfsports lautet wohl beispielsweise so circa, aus der Sicht vieler: teuer, exklusiv, nicht für jeden, sondern primär für eine bestimmte soziale Klasse, abhängig vom Budget.

Wie lautet nun das Image des Rennradsports? Kann es sein, dass einige der genannten Zuschreibungen auch auf diesen – auf unseren – Sport zutreffen? Dafür mitverantwortlich ist unter anderem die enorme Preisinflation der vergangenen Jahre. Ist der Radsport ein Sport für alle? Was kostet eine „Rennrad- beziehungsweise Gravel-Grundausstattung“ aus Rad, Schuhe, Klickpedalen, Helm, Kleidung – neu beziehungsweise gebraucht? Und was kostet eine solche Ausstattung für Jugendliche, die ambitioniert Radrennen fahren wollen?

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Image des Radsports: Material und Preise

Dass die Preisentwicklung im Rennradmarkt – wie aktuell in fast allen Märkten – bedenklich ist, haben wir in diesem Magazin bereits häufig thematisiert. Die Rennrad-Topmodelle kosten inzwischen teils weit mehr als 10.000 Euro. Kurze Radtrikots für mehr als 150 und -hosen für über 250 Euro sind keine Seltenheit. Die potenzielle Wirkung dieser Zahlen: Abschreckung.

Auch die „Szene“ und der vorherrschende „Style“ können potenziell abschreckend auf „Nicht-Insider“ wirken. Man hat bestimmte eigene Marken, die einen höheren oder niedrigeren „Coolnessfaktor“ haben. Man hat eigene Begriffe, die keiner außerhalb dieser Rennradwelt kennt. In dieser Welt fährt man „sich grau“ und „Löcher zu“, man „lässt am Hinterrad reißen“, schwört auf „Di2“, „eTap AXS“, „EPS“, 28-Millimeter-Tubeless- oder 25-Millimeter-Clincher.

Natürlich sprechen auch wir – die Medien, die RennRad-Redaktion – diese Fachsprache. Natürlich testen wir die neuesten Produkte, die leichtesten Rennräder, die aerodynamischsten Felgen, die genauesten Powermeter. Natürlich sind wir uns dessen und des damit transportierten Images sowie der teils klaren preislichen Exklusivität der Testprodukte bewusst. Wir versuchen dies unter anderem durch einen Themenmix und eine regelmäßige Schwerpunktsetzung auf „Preis-Leistungs-Produkte“ auszugleichen. Und: Indem wir, etwa im Rahmen von Leitartikeln, immer wieder die soziale Kraft des Sports herausarbeiten. Diese Kraft gilt es, viel stärker zu fördern. Indem man Vereine und Ehrenamtliche unterstützt. Indem man Kinder und Jugendliche Bewegungs-, Sport- und Spielmöglichkeiten bietet.

Doch der „politisch-mediale-soziale Mainstream-Trend“ geht in die gegenteilige Richtung, hin zu einer bewegungslosen, entkörperlichten Sitz-Gesellschaft – dies wurde, anhand etlicher Studien, Zahlen und Statistiken, im Leitartikel der RennRad-Ausgabe 7/2022 dargelegt. Unsere Erfahrung ist jedoch: Der Rennradsport ist inklusiver, als er nach außen wirkt.

Beispiel der inklusiven Wirkung

In meinem Fall, dem Fall eines Arbeiterkinds vom Land, war der Radsport inklusiv. Beziehungsweise: Die Menschen waren es. Ich hatte Glück und vor allem: extrem sportaffine und unterstützende Eltern und den richtigen Verein. Die Verantwortlichen der RSG Heilbronn, in deren Mittwochs-Vereins-Training ich als 14-Jähriger unangekündigt auftauchte, haben mir innerhalb von zwei Tagen eine Rennlizenz und ein renntaugliches Leih-Rennrad organisiert. Einfach so. Ohne dass ich darum gebeten beziehungsweise irgendeine Art von Ahnung von Rennen, Training, Fahrrädern, Radbekleidung oder sonst etwas Artverwandtem gehabt hätte.

Später, in den Nachwuchs-Teams und Kaderstrukturen, wurde sämtliches Material – Rennrad, Kleidung, Radschuhe, Brillen, Energieriegel et cetera – von den Teams, Verbänden beziehungsweise Sponsoren gestellt. Die Trainingslager auf Mallorca wurden bezahlt. Die Förderung war vorbildlich.

Man erkennt: Die Vereinsförderung hat etliche direkte und weitverzweigt wirkende indirekte positive Effekte. Der Sport hat eine enorme soziale Kraft. Eine Kraft, die es stärker zu heben gilt. Die Zusammenhänge zwischen Bewegung, Psyche, Krankheit und Gesundheit sind das Thema des Leitartikels der RennRad-Ausgabe 6/2022.

Radsport geht auch günstig

Generell gilt: Rennradfahren geht auch günstig – für alle. Mit gutem gebrauchtem Material, mit Rabatten und Angeboten, mithilfe von Vereinen, Ehrenamtlichen und Förderstrukturen. „Den Radsport“ gibt es nicht. Radsport ist das, was man daraus macht. Egal, ob man fast so viel Spaß daran hat, sich mit seinem Material und den Accessoires zu beschäftigen, als zu fahren – oder ob man das Rad nur als Mittel zum Zweck sieht: Als Ding, mit dem man Strecken zurücklegt, sich auspowert, den Kopf frei bekommt, die Natur, die Geschwindigkeit und sich selbst erlebt. Egal, ob man 500 oder 15.000 Euro investiert. Investieren kann. Investieren will.

Natürlich arbeitet man auf dem Rad, in der Szene, durch, in und mit dem Sport auch an seinem Selbstbild. Dies zu negieren oder „moralisch“ anzuzweifeln, wäre dumm, unfair und überheblich. Rennradfahren steht für das Gegenteil von Konvention. Es steht für Freiheit, Natur- und Gruppenerfahrungen. Man trifft sich, man grüßt fremde Menschen, man hat Gemeinsamkeiten, man teilt eine Leidenschaft. „Immer wenn ich einen erwachsenen Menschen auf einem Fahrrad sehe, verzweifle ich nicht an der Menschheit“ – H. G. Wells.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 8/2022Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.


Leitartikel von Chefredakteur David Binnig aus 2022

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