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RED-S – Relativer Energiemangel im Sport: Einblicke, Studien, Hintergründe

Energiehaushalt

RED-S – Relativer Energiemangel im Sport: Einblicke, Studien, Hintergründe

Ernährung und Leistung – von Kalorien und Risiken. Das Problem RED-S: Relativer Energiemangel im Sport – wenn dem Körper die Energie fehlt. Wissenschaftliche Einblicke.
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Für den Sieg bei der Tour de France, beim Ötztaler oder beim Rhön Radmarathon ist keine absolute Zahl mitentscheidend, sondern eine relative: der Watt-pro-Kilogramm-Wert. Anders gesagt: Die Leistung in der Relation zum Körpergewicht. Dies ist eine der Besonderheiten des Straßen-Radsports: die je nach der Strecke teils sehr große Bedeutung des eigenen Körpergewichts. Leistung, Ernährung, Kalorien, Energie – all dies hängt miteinander zusammen. Im Positiven wie im Negativen. Wenn die Leistung nicht mehr stimmt, die Erholung lange dauert, die Verdauung verrückt spielt, die Laune schlecht ist, das Gewicht stagniert, dann kann das auf eines hindeuten: RED-S – „Relativen Energiemangel im Sport“.

Wegen der enormen Bedeutung des Faktors „Körpergewicht“ wird der Radsport von Wissenschaftlern zu den Risikosportarten für die Entstehung von Essstörungen oder einem gestörten Essverhalten gezählt. Und tatsächlich berichteten Riebl und seine US-amerikanischen Kollegen bereits im Jahr 2007 in einer Studie von einer erhöhten Häufigkeit von Essstörungen unter Radsportlern. Sie befragten dazu eine Gruppe männlicher Sportler. Dabei zeigte sich, dass Radsportler im Vergleich zu weniger sportlichen Männern häufiger an Essstörungen litten. Zudem wussten viele der Befragten nicht, wie man ein ungesundes Essverhalten erkennt.

Kalorien und Symptome

Nicht erst seit Erfindung der Radcomputer, Smartwatches und Powermeter rückte das Körpergewicht in den Fokus. Dünn und leicht sein, um schneller die Berge hochzukommen – so in etwa lautet das große Ziel vieler ambitionierter Radsportler. Und so beginnen bereits in den Wintermonaten nicht wenige Athleten damit, die Energiezufuhr zu reduzieren, um abzunehmen. Gleichzeitig wird oftmals die Trainingsbelastung gesteigert – Intensität und Umfang. Ein typischer Fehler.

Viele derjenigen, die über einen längeren Zeitraum hinweg versuchen, parallel an ihrem Gewicht und an ihrer Form zu arbeiten, stellen irgendwann fest: Die eigene Leistungsfähigkeit stagniert – oder sinkt. Eine potenzielle Erklärung dafür: In vielen Fällen kommt es zu Symptomen, die man unter dem Begriff „Relativer Energiemangel im Sport“ zusammenfasst. Das Internationale Olympische Komitee, IOC, hat 2014 erstmals von diesem klinischen Syndrom berichtet.

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Was bedeutet RED-S?

Eine Expertengruppe rund um Margo Mountjoy hat dabei das bekannte ursprüngliche Konzept der Triade der Frau aus dem Jahr 1972 erweitert. Denn: Es wurde deutlich, dass das Problem ein viel umfassenderes ist, als bis dahin angenommen worden war. RED-S bedeutet: Dem Körper wird nicht ausreichend Energie zugeführt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer niedrigen Energieverfügbarkeit. Diese unzureichende Energiezufuhr wirkt sich nachteilig auf die Gesundheit und die Leistung aus. Unter anderem in Form von: Beeinträchtigungen des Immunsystems, der Menstruationsblutung, des Stoffwechsels, der Knochengesundheit, der kardiovaskulären Gesundheit, der psychischen Gesundheit sowie der Eiweißsynthese.

Ein wichtiger Schritt 2014 war auch die Berücksichtigung der männlichen Sportler, denn bis dahin galt die Aufmerksamkeit vorwiegend Sportlerinnen. Die Nachricht lautet: Dieses Problem kann jeden treffen. Der Energiemangel – und seine Symptome – treten dann auf, wenn die aufgenommene Energie nicht mindestens der verbrauchten Energie entspricht. Und in der Folge dessen zu wenig Energie „übrig bleibt“, um körpereigene Funktionen zu unterstützen.

Laut neueren Untersuchungen, unter anderem im Rahmen einer Studie von Logie et al., liegt die Häufigkeit von niedriger Energieverfügbarkeit unter Sportlern bei 22 bis 58 Prozent. In der Folge kommt es zu starken Störungen beispielsweise des Stoffwechsels, der Menstruationsblutung oder der Knochengesundheit. Daraus resultiert ein Leistungsabfall. Um dies zu verhindern, gilt es, den sportbedingten Mehr-Energieverbrauch durch einen dazu passenden Kalorienkonsum auszugleichen.

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Da das Körpergewicht im Radsport eine wichtige Rolle spielt, sind gerade hier Ernährungstrends populär, die darauf abzielen, die Energiezufuhr zu reduzieren...

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...Besonders verbreitet sind etwa: Low-Carb-Ansätze. Doch: Diese „Diät“ birgt Risiken

Grenzwerte und Risiken

Berechnet wird die Energieverfügbarkeit, indem man die Kalorien pro Kilogramm fettfreier Masse, FFM, pro Tag berechnet. Ziel ist es, 45 Kilokalorien pro Kilogramm und FFM pro Tag aufzunehmen. Bei dieser Kalorienmenge wird davon ausgegangen, dass der Körper ausreichend mit Energie versorgt ist und er somit alle körpereigenen Funktionen aufrechterhalten kann. Liegt die Energieverfügbarkeit zwischen 30 und 45 Kilokalorien pro Kilogramm und FFM pro Tag, spricht man von einer reduzierten Energieverfügbarkeit.

Dieses Defizit entsteht bei einer geplanten Gewichtsreduktion: Man nimmt etwas weniger Kalorien zu sich, als man verbraucht. Wichtig dabei ist auch, den Grundumsatz, den Energieverbrauch im Ruhezustand, zu berücksichtigen. Besteht dieses Defizit für einen beschränkten Zeitraum von wenigen Tagen bis Wochen, sind keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Komplikationen zu befürchten. Je länger man dieses Defizit aufrechterhält – und je intensiver die Belastung ist – desto höher ist das Risiko, negative Auswirkungen zu erleben.

Als besonders kritischer Wert der Energieverfügbarkeit gilt die Grenze von 30 Kilokalorien pro Kilogramm und FFM pro Tag. Diese Energiemenge wurde lange als Schwelle angenommen, unter welcher gesundheitliche Auswirkungen sicher sind. Loucks und ihre Kollegen haben bereits Anfang 2000 in mehreren Studien nachgewiesen, wie sich diese niedrige Energieverfügbarkeit auswirkt. So zeigt sich in ihren Studien, dass bei einer unzureichenden Energiezufuhr der Grundumsatz der Sportler nach und nach abgefallen ist.

Ergo: Der Körper hat damit begonnen, nicht lebensnotwendige Prozesse abzuschalten beziehungsweise „auf Sparflamme“ zu gehen. Das bedeutet: Der Grundumsatz fällt ab. Adaptionen an Trainingsreize finden kaum mehr statt. Die Auswirkungen auf das Körpergewicht und das Gewichtsmanagement: Gerade Radsportler im RED-S-Zustand zeigen auf der Waage oftmals ein stabiles Gewicht – obwohl ihre Energiezufuhr nicht ausreichend ist. Viele glauben deshalb, dass sie ausreichend oder noch immer „zu viel“ essen. Daher reduzieren sie ihre Nahrungsaufnahme weiter und kommen in einen gefährlichen Kreislauf, der schwere gesundheitliche Konsequenzen mit sich bringen kann. Ergo: eine Negativspirale.

Warum kommt es zu unzureichender Energieaufnahme?

Obwohl die Berechnung der Energieverfügbarkeit einfach scheint, ist ihre Bestimmung nicht unkompliziert. In der Praxis zeigt sich häufig, dass fehlerhafte Notizen zur aufgenommenen Energie und ungenaue Berechnungen des Energieverbrauchs oftmals falsche Ergebnisse für die Energieverfügbarkeit liefern. Diese Berechnungen sollten deshalb immer mithilfe von ausgebildetem und geschultem Personal vorgenommen werden.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie es zu einer unzureichenden Energieaufnahme kommen kann. Eine Untersuchung unter Radsportlern, die in England durchgeführt wurde, zeigte unterschiedliche Szenarien dazu. Die Forscherin Nicola Keay hat gemeinsam mit ihren Kollegen in einer Gruppe von Radsportlern beobachtet, dass sich fast ein Drittel der befragten Athleten in einem Zustand der niedrigen Energieverfügbarkeit befanden. Dafür gab es sehr unterschiedliche Gründe: Manche Athleten reduzieren ihre Energiezufuhr bewusst, weil sie abnehmen möchten. Häufig fällt diese Kalorienreduktion zu groß aus und der Körper befindet sich in einem ständigen Mangelzustand. In anderen Fällen kommt es zu einer kurzfristigen, zu niedrigen Energieverfügbarkeit. Dies kann zum Beispiel eintreten, wenn man während und nach einer langen intensiven Trainingsfahrt zu wenig zu sich nimmt – und seinen Energieverbrauch dadurch nicht ausreichend kompensiert.

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Versorgung und Leistung

An solch einem Tag bleibt der Körper unterversorgt – es sind allerdings keine weiteren Konsequenzen zu befürchten, wenn es bei diesem einmaligen deutlichen Energieungleichgewicht bleibt. Anders sieht es aus, wenn sich dieses Szenario wiederholt. Das zeigte etwa auch eine Untersuchung von Ida Heikura, die unter Profiradsportlern durchgeführt wurde: Während der Frühjahrsklassiker wurde jeweils ihre Energiezufuhr analysiert.

Die Ergebnisse der Studie bestätigten, dass viele Radrennfahrer es nicht schaffen, dauerhaft eine ausreichende Energiemenge zuzuführen. Während der Frühjahrsklassiker wiederholte sich das Problem der unzureichenden Energiezufuhr, was sich letztendlich auch in Veränderungen in der Blut-Konzentration mancher Hormone widerspiegelte.

Ernährungstrends und RED-S

Eine weitere weitverbreitete Ursache für die niedrige Energieverfügbarkeit ist: Viele unterschätzen den täglichen Energieverbrauch aufgrund des Trainings. Diese Falscheinschätzung führt dazu, dass zu wenig Kalorien aufgenommen werden und damit der Körper unterversorgt wird. Da das Körpergewicht im Radsport eine wichtige Rolle spielt, sind gerade hier Ernährungstrends populär, die darauf abzielen, die Energiezufuhr zu reduzieren.

Besonders verbreitet sind etwa: Low-Carb-Ansätze – Ernährungsweisen, die auf einer mehr oder weniger radikalen Reduzierung der Kohlenhydrataufnahme basieren. Diese können für manche und in manchen Phasen sinnvoll sein. Doch sie bergen auch Risiken. Gerade für Athleten. Denn: Sie führen häufig zu einer unzureichenden Energiezufuhr. Auch andere „Trends“, in denen ganze Lebensmittelgruppen aus dem eigenen Speiseplan eliminiert werden, können das RED-S-Risiko erhöhen. Der Energieverbrauch bleibt hoch, aber viele Lebensmittel haben keinen Platz mehr im Speiseplan – und die fehlenden Kalorien werden oftmals nicht ausreichend ersetzt. Was anfangs vielversprechend scheint, führt letztendlich häufig zu RED-S. Nach einem ersten deutlichen Gewichtsverlust fällt die Leistung ab – und das Gewicht sinkt nicht mehr weiter.

Große Hintergrundartikel zu den Low-Carb-Ernährungskonzepten, zu den Vor- und Nachteilen sowie den Chancen und Risiken finden Sie hier. Wie man seine Leistungsfähigkeit durch die richtige Ernährung heben kann, erfahren Sie hier.

Konsequenzen von RED-S

Die potenziellen Konsequenzen der niedrigen Energieverfügbarkeit: Neben den immunologischen Veränderungen kann es zu kardiovaskulären, gastrointestinalen, endokrinologischen, metabolischen, hämatologischen und psychologischen Komplikationen kommen. Weiter treten Menstruationsstörungen auf. Ein starker Hinweis auf das RED-S-Syndrom ist etwa die ausbleibende Regelblutung. Zudem leidet die Knochengesundheit. Weitere Symptome sind etwa: eine abfallende Leistung, häufige Infekte, Depression, Gereiztheit, ein erhöhtes Verletzungsrisiko, verlängerte Erholungszeiten, Schlaf- und Konzentrationsstörungen.

Das Gefährliche am RED-S- Syndrom sind mögliche bleibende Schäden. So nimmt etwa die Knochendichte ab, während das Osteoporose- und Knochenbruchrisiko deutlich ansteigt. Besonders tragisch daran: Dieser Mechanismus ist nicht mehr reversibel. Menstruationsstörungen können zudem langfristig zur Unfruchtbarkeit führen. Auch dieses Problem wird im Sport-System viel zu selten thematisiert.

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Die Auswirkungen des chronischen Energiemangels sind oft uneinheitlich beziehungsweise sehr individuell – deshalb ist die Diagnose teils schwierig zu stellen. Die Experten von Swiss Olympic fassen die potenziellen Symptome zusammen mit: hormonelle Störungen, eine Minderung der Knochendichte, psychologische Beschwerden wie etwa Depressionen, ein schlechteres Konzentrationsvermögen, eine verminderte sportliche Leistungsfähigkeit, eine erhöhte Verletzungs- und Infektanfälligkeit, Zyklusstörungen – und mehr

Diagnose und Gegenmaßnahmen

RED-S kann etwa während der empfohlenen sportärztlichen Routine-Untersuchung diagnostiziert werden. Bei Symptomen sollte man seinen Arzt sofort darauf ansprechen. Besteht der Verdacht, können gewisse Blutparameter analysiert werden, die bei der Diagnose helfen können. Umso früher RED-S entdeckt wird, desto besser ist es.

Häufig wird RED-S mit Essstörungen gleichgesetzt. Allerdings hat nicht jeder, der am RED-S-Syndrom leidet, eine Essstörung. Umgekehrt befinden sich viele Patienten mit Essstörungen in einer Situation der niedrigen Energieverfügbarkeit. Der einzige Weg zur Besserung lautet: die Energiezufuhr sinnvoll erhöhen. Idealerweise wird nicht nur die Energiezufuhr angepasst, sondern auch auf das richtige Timing geachtet. Je nachdem, wie lange jemand unter RED-S gelitten hat, kann auch die Zeit bis zur Genesung unterschiedlich lange dauern. War der Zeitraum nur sehr kurz, werden sich meist auch die körpereigenen Prozesse und Blutparameter schnell normalisieren. Sollte die Knochendichte beeinträchtigt sein, kann hier eventuell eine Supplementierung mit Kalzium und Vitamin D notwendig werden.

Es gilt: Der Wunsch nach einem niedrigen Körpergewicht und Körperfettanteil kann Risiken bergen. Wer seine Energiezufuhr zu lange zu tief ansetzt, wird gesundheitliche Probleme bekommen, deren Auswirkungen sich Jahre später noch bemerkbar machen können. Oft werden RED-S-Symptome erkannt, aber falsch interpretiert. Die Reaktion vieler Athleten auf eine Leistungsstagnation oder eine ausbleibende Gewichtsabnahme lautet oft: Noch mehr trainieren, noch weniger essen. Das Gegenteil wäre richtig.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 3/2023Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

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