Tour de France, Radsport
Tour de France: Leitartikel zur Bedeutung der Tour für den Radsport

Darum ist die Tour de France für den Radsport existenziell

Tour de France: Leitartikel zur Bedeutung der Tour für den Radsport

Sie ist das Highlight dieses besonderen Sport-Jahres 2020 – und steht im Mittelpunkt des Radsports: die Tour de France. Zahlen, Hintergründe und Einblicke.
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Sommer, Sonne, Tour de France – rund zwölf Millionen Menschen stehen jährlich an den Straßen der Etappenstrecken. Eine Milliarde sitzt weltweit vor Bildschirmen. Normalerweise. Nicht in diesem Jahr. Die Tour de France wurde, wegen der Corona-Krise, verlegt. Der ganze neue provisorische Rennkalender wurde um die Tour herumgebaut. Sie „schwebt“ im Zentrum des Profiradsports wie die Sonne im heliozentrischen Weltbild.

„Die Tour ist das Wichtigste“, sagt André Greipel im RennRad-Interview. „Und sie ist nach der Verschiebung der Olympischen Spiele und der Fußball-EM das medial am meisten beachtete Sportevent. Mit der Tour steht und fällt alles, auch die Zukunft vieler Teams.“

Mit dieser Sicht ist Greipel nicht allein. Der viermalige Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin bestätigte diese Andersartigkeit, diese „Semi-Allmacht“ der Grande Boucle gegenüber RennRad. In unserem Interview sagte er: „Die Tour steht über allem. Wenn sie stattfindet, ist der Rest fast egal – die Saison ist gerettet. Das Interesse an der Tour macht 70 bis 80 Prozent des gesamten Radsports aus.“

Umsatz bei der Tour de France

Wenn Markennamen in den Sprachgebrauch eingehen, spricht man von Deonymen. „Uhu“ steht in der Alltagssprache vieler für Klebstoff, „Tempo“ für Taschentuch, „Edding“ für Filzstift. Für die meisten „Normal-Menschen“, ergo Nicht-Rennradfahrer, steht „die Tour“ für den Rennrad-Sport. Pars pro toto.

Ein Rennen steht im medialen Mittelpunkt. Ein Rennen entscheidet über die Zukunft von Teams und Fahrern. Über Erfolg und Misserfolg. Über Werbeeffekte. Über TV-Präsenzzeiten. Über Sponsoren- und Fahrerverträge. Ein Rennen determiniert das gesamtgesellschaftliche Image einer ganzen Profi-Sportart. Zu Recht? Zu Unrecht? Hat der Profi-Radsport ein „Klumpenrisiko“?

Die Tour ist sehr viel mehr als ein Radrennen. Sie ist mehr als Sport. Sie ist ein nationales Kulturgut – und ein Wirtschaftsfaktor. „Die Tour durchzuführen, hat höchste Bedeutung“, sagte die französische Sportministerin Roxana Mărăcineanu.

Die Tour wird – wie viele andere Radrennen auch, von China bis Katar – von der Amaury Sport Organisation, der ASO, veranstaltet. Rund drei Viertel des ASO-Umsatzes sollen auf die Tour de France entfallen. Die Haupteinnahmequelle: die Fernsehrechte. Die Tour wird von rund 190 TV-Sendern weltweit übertragen. Laut eines Medienberichts wird mit ihr jährlich rund 150 Millionen Euro Umsatz gemacht. 2017 soll der Gewinn 45 Millionen Euro betragen haben. 2019 wurden 2,3 Millionen Euro Preisgeld ausgezahlt. Der Gesamtsieg brachte Egan Bernal 500.000 Euro – die er natürlich mit allen anderen Ineos-Teammitgliedern, von den Physiotherapeuten bis zu den Busfahrern, nach einem festgelegten Schlüssel geteilt hat.

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Ausfall der Tour de France? Nur in zwei Phasen!

Nur in zwei Phasen wurde die Rundfahrt nicht ausgetragen: während den beiden Weltkriegen. In diesem Corona-Krisen-Jahr war es fast so weit. Die Tour wurde abgesagt. Lange wurde nach einem Ersatztermin gesucht, bis er gefunden wurde.

Der neue Rennkalender 2020 ist ein Provisorium. Er sieht vor: Erst die Tour de France, dann der Giro und die Vuelta – bei denen sich sechs Etappen überschneiden. Parallel dazu einige wichtige Frühjahrsklassiker. Kleinere Rundfahrten werden teils verkürzt. Nur an neun von 100 Tagen sind keine Radrennen vorgesehen. Die „L‘Équipe“ nannte diesen neuen Renn-Plan einen „Takt der Hölle“.

Parallel zum Giro sollen etwa die Frühjahrsklassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich am 4. Oktober und die Flandern-Rundfahrt am 18. Oktober nachgeholt werden. Parallel zur Vuelta, die um drei Tage verkürzt wurde, ist unter anderem Paris-Roubaix am 25. Oktober vorgesehen. Am 25.10. finden das Abschlusszeitfahren des Giro, eine Vuelta-Bergankunft und Paris-Roubaix parallel statt.

„Es mussten einige Opfer gebracht werden“, sagte ein Giro-Sprecher. Ralph Denk, der Bora-Hansgrohe-Teamchef, findet diesen Renn-Plan „ein bisschen respektlos“. Im Frühjahr sagte er: „Ich hoffe, dass die Tour de France stattfindet. Dann kann der Radsport mit einem blauen Auge davonkommen. Ohne die Tour würde der Radsport ein ganz großes Problem haben. Der Werbewert der WorldTour liegt pro Saison bei 300 bis 500 Millionen Euro. Allein 70 Prozent davon werden bei der Tour de France generiert.“

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Die Tour de France ist existenziell

Die Tour ist für den Profi-Radsport existenziell. „Wenn die Tour nicht stattfindet, können Teams verschwinden. Fahrer und Mitarbeiter wären gleichermaßen arbeitslos“, sagte Marc Madiot, der Teamchef Groupama-FDJs. Schon im Frühjahr wurden Konsequenzen des Lockdowns, der Renn-Ausfälle und der damit verringerten medialen Aufmerksamkeit sichtbar. So hat etwa der Hauptsponsor des Teams CCC angekündigt, sein Engagement am Ende der Saison 2020 zu beenden.

Das polnische Unternehmen CCC vertreibt unter anderem Schuhe, Handtaschen und Lederaccessoires – und hatte aufgrund des Corona-Lockdowns massive Umsatzeinbußen. Im belgischen Team Lotto-Soudal wurden 25 Mitarbeiter, vom Mechaniker bis zum Busfahrer, entlassen.

Die Auswirkungen der Krise könnten im Radsport ähnlich ausfallen wie in der Wirtschaft, in der die großen vorrangig US-amerikanischen Internet- und Finanz-Unternehmen – wie etwa die fast „allmächtigen“ Alphabet, Amazon, Facebook, Blackrock, Vanguard, Goldman Sachs – immer mehr Marktanteile und Marktmacht akkumulieren: Die „Großen“ werden überleben und danach mächtiger sein, während die „Kleinen“ leiden. Auch im Sport könnte die Kluft zwischen „kleinen“ und „großen“ Teams weiter wachsen.

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Dominanz

Aus Fan-Sicht waren der Giro und die Vuelta in den vergangenen Jahren oft spannender und spektakulärer als die Tour. Zu drückend war dort die Dominanz eines Teams: Ineos, vormals Sky. Viele der dort als Helfer fahrenden Profis könnten in anderen Teams Kapitäne sein. Vor dieser Saison verpflichteten die Briten mal eben den amtierenden Giro-Sieger, Richard Carapaz, und den amtierenden Zeitfahr-Weltmeister, Rohan Dennis.

Zudem stehen, neben etlichen anderen Weltklassefahrern wie etwa Michal Kwiatkowski, drei Tour-Sieger im Aufgebot: Chris Froome, Geraint Thomas und Egan Bernal. Wer soll diese Phalanx herausfordern? Selbst wenn Ineos Froome und Thomas nicht bei der Tour de France ins Rennen schickte. Der durchschnittliche Jahres-Etat eines World-Tour-Teams liegt laut der UCI bei rund 18 Millionen Euro.

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Gehälter

Dem Team Ineos sollen dagegen mindestens 40 Millionen Euro jährlich zur Verfügung stehen. Einiges spricht dafür, dass ein „Salary Cap“, eine Gehaltsobergrenze, wie man sie aus US-amerikanischen Profi-Ligen kennt, auch im Profi-Radsport sinnvoll sein könnte.

Ralph Denk sagt dazu: „Sport ist immer interessanter, wenn sich möglichst gleichwertige Gegner miteinander messen. Der Fan will keine Machtdemonstration sehen von einem Team, das in der Lage ist, sich die besten Fahrer zu kaufen.“

Eine weitere Besonderheit dieser Tour de France und dieser ganzen Rad-Saison betrifft: die Anti-Doping-Politik. Denn auch das Test-System war durch die Corona-Krise massiv betroffen. Die Zahl der Trainingskontrollen ging zeitweise um rund 95 Prozent zurück. Noch Ende April teilte der FDJ-Profi Thibaut Pinot der „L’Equipe“ mit, dass er seit Oktober kein einziges Mal getestet wurde.


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