Monat: Oktober 2020

Patrick Bitzinger: Blinder Triathlet und Rennrad-Fahrer

Patrick Bitzinger, Triathlon, Rennrad

Als die beiden Fahrer gleichzeitig aus dem Sattel gehen und antreten, schnellt ihr Rennrad-Tandem nach vorne. Sie beschleunigen über die Kuppe eines Hügels hinweg. Die Straße ist schmal und leer. Sie führt durch ein Waldstück. Kurz darauf wird sie flacher. Die beiden Fahrer beschleunigen weiter. Vier Beine. Im Gleichtakt. 50, 52, 54, 56 km/h. Im Flachen. Sie fahren Intervalle. Nach fünf Minuten wird das Tandem langsamer. Bis zum nächsten Intervall. Bis wieder der vordere Fahrer das verbale Signal gibt: „Hopp“. Das Signal, um aus dem Sattel zu gehen. Zu beschleunigen. Der Fahrer hinter ihm lächelt. Er genießt die Anstrengung, das Tempo, die Landschaft, die vorbeizieht. Auch wenn er sie nicht sehen kann. Denn er ist blind. Patrick Bitzinger sitzt hinter seinem Guide auf einem Renn-Tandem. Die beiden sind unterwegs in den Hügeln westlich von Wien. In seinem Lieblings-Trainingsrevier – dichte Wälder, durchzogen von Serpentinen. Das Ziel vieler Rennradfahrer. Das Renn-Tandem fliegt an vielen von ihnen vorbei.

Patrick Bitzinger: Training und Experimente

Patrick Bitzinger gewann mehrmals die österreichischen Paracycling-Staatsmeisterschaften, auf der Straße und im Einzelzeitfahren. 2014 gewann er ein Europacup-Rennen, im Jahr darauf wurde er WM-Vierzehnter. Sein Ziel damals: die Paralympics in Rio de Janeiro. Heute sagt er: „Im Nachhinein betrachtet war das Ziel Rio vielleicht etwas zu hoch gegriffen.“ Er verfehlte knapp einen Quotenplatz. Dies brachte Raum für neue Gedanken, neue Ziele. Für Experimente.

In seinem Kopf tauchte etwas Neues auf: Triathlon. „Ich wollte das mal ausprobieren.“ Im Frühjahr 2016 erwähnt er diese Idee seiner Trainerin gegenüber. Sein Ziel: die Teilnahme an einem Triathlon der Olympischen Distanz im Herbst. „Sie hielt mich für verrückt. Sie sagte nur: ‚Ich habe dich noch nie im Becken gesehen.‘ Also haben wir es gleich ausprobiert. Sie ließ mich einen Kilometer durchschwimmen. Ich habe es geschafft.“

Patrick Bitzinger, Triathlon, Rennrad

 

Patrick Bitzinger, Triathlon, Rennrad

 

Triathlon

Einige Monate später: sein erster Triathlon, in Podersdorf am Neusiedler See. Mit den Top-Schwimmern kann er nicht ganz mithalten – doch auf dem Rad fährt er die zehntbeste Zeit aller Teilnehmer.

Beim Laufen lässt er seinen Guide nach drei Kilometern stehen. Als eine schnelle Läuferin vorbeikommt, hält er ihr seine Hand hin. Sie nimmt sie. Und läuft mit ihm bis ins Ziel. Es ist kalt, als sich Patrick Bitzinger und sein Guide zu ihrer Ausfahrt aufmachen, die Wolken hängen tief.

Im Hinterzimmer eines kleinen Fahrradladens im Westen von Wien packen sie sich in ihre Rennradklamotten ein. Sie fahren für denselben Verein. In dem Shop, der einem Freund von Patrick Bitzinger gehört, lagert auch sein Rad: Ein Tandem-Modell eines amerikanischen Herstellers, der sich auf Sonderanfertigungen spezialisiert hat. Mit seinem Carbon-Rahmen und den Laufrädern wiegt es weniger als zehn Kilogramm. Alles zusammen bleibt unter zehn Kilogramm – für zwei Fahrer. Die Gänge werden elektronisch gewechselt. „Das ist die Formel 1“, sagt er andächtig, als er sanft über den Sattel streicht.

Noch ein Prozent

Als Patrick Bitzinger auf die Welt kam, konnte er noch normal sehen. Bald aber wurde ein Wasserkopf diagnostiziert, eine Leitung musste vom Kopf in den Bauch gelegt werden, damit die Hirnflüssigkeit abfließen kann. Es kam zu Komplikationen, die Leitung drückte wiederholt auf den Sehnerv. Beim ersten Mal, mit sieben Jahren, verlor er 90 Prozent seiner Sehfähigkeit.

Nach dem zweiten Mal, mit 14, blieb ihm nur noch ein Prozent. Es reicht, um Menschen als Schatten wahrzunehmen. Erkennen kann er sie nicht. Auf dem Tandem merkt er aufgrund der Helligkeit und der Umrisse, ob er gerade durch den Wald fährt, übers freie Feld oder zwischen Häusern hindurch. „Wenn wir höher hinaufkommen, dann bemerke ich, wie weit die Aussicht wird, und das gibt mir viel. Da weiß man, warum man da rauffährt.“

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Patrick Bitzinger: Schwimmen, Laufen, Radfahren, Fußball

Begonnen hat die sportliche Karriere des heute 25-Jährigen mit 15. Damals probierte er vieles aus: Schwimmen, Laufen, Radfahren, Fußball. „Aber alles mit Bällen ist nichts für mich.“

Er wuchs auf einem Bauernhof im Waldviertel, ganz im Norden Österreichs, auf. Umgeben von Natur. Mit dem systematischen Training begann er mit 17. Auf der Tribüne im Bahnrad-Oval der Olympischen Spiele von London packte ihn die Atmosphäre – und ließ ihn nicht mehr los. Eine Idee reifte, ein Ziel: Dorthin, zu Olympia, wollte er es auch schaffen. Nach seiner Rückkehr suchte er sich einen Trainer, einen Pilotfahrer – und begann zu trainieren. Er spürt die Geschwindigkeit. Das ist es, was ihn antreibt. Er spürt den Fahrtwind, die reine Kraft. Deshalb gehört seine Liebe dem Rennrad, nicht dem Mountainbike. „Das Radfahren ist meine große Leidenschaft. Da muss der Guide ein sehr guter Radfahrer sein. Denn wenn ich auf dem Rad sitze, will ich nicht, dass mich jemand überholt.“

Patrick Bitzinger trainiert diszipliniert

Auch deshalb trainiert er sehr diszipliniert. Bis zu fünf Stunden am Stück saß er während seiner Phase als Mitglied des Paracycling-Nationalteams regelmäßig zu Hause auf dem Ergometer – immer dann, wenn das Wetter schlecht war. Aber auch bei Sonnenschein, dann, wenn keiner seiner Guides Zeit hatte. Nebenher liefen Skirennen im Fernsehen. Auch jetzt noch trainiert er oft und ausgiebig im eigenen Wohnzimmer. Denn die Abstimmung mit seinen Begleitern ist nicht immer einfach.

Heute ist er mit Peter unterwegs – einem Elitefahrer, der in der österreichischen Bundesliga und bei internationalen Rennen startet. Als Guide zu fahren sei eigentlich nicht anders, als allein auf dem Rennrad zu sitzen, sagt er. Nur einen längeren Bremsweg müsse man einberechnen. Und die Fliehkräfte, die in den Kurven höher seien. „Den wohl größten Unterschied spürt man im Wiegetritt: Da merkt man das hohe Gewicht, weil das Kippen des Rades doch schwerer fällt.“

Ein Guide müsse vor allem über ein gutes Rad-Handling verfügen, sagt Patrick Bitzinger. Und sich auch in den Abfahrten viel trauen. „Man braucht schon Mut und muss angstfrei sein. Wenn ich hinten auf dem Rad sitze, kann der Lenkende vorne viel machen – ans Limit gehen, auch bergab. Ich fasse schnell Vertrauen zu meinem Vordermann, auch wenn der zu Beginn noch etwas unsicher ist.“ Vor allem bei kleineren Rennen sei ein sehr guter Guide natürlich ein Wettbewerbsvorteil. Auf internationaler Ebene seien die Standards so hoch, dass kaum mehr Unterschiede auszumachen seien. Hier sitzen oft ehemalige Radprofis auf der vorderen Tandem-Position.

Freundschaft

Während Wettkämpfen, erklärt Patrick Bitzinger, werde zwischen dem Guide und dem blinden Fahrer kaum kommuniziert. Je höher die Renn-Klasse, desto weniger. So gut sei man da aufeinander eingespielt, alles funktioniere wie selbstverständlich: „Wenn der vorne reintritt, dann wird eben attackiert.“ Die taktischen Entscheidungen trifft der vordere Fahrer, der Guide. Von schweren Stürzen blieb er bisher verschont. „Einmal haben sich in einem Rennen zwei Tandems verkeilt – bei Tempo 60. Aber meine Schürfwunden waren nach zwei Wochen schon wieder verheilt. Meinen Guide hat es schlimmer erwischt. Der war 20 Zentimeter größer als ich und hat das meiste abgefangen.“

Seine vier Guides wurden zu Freunden. Sie alle trainieren in ihrer Freizeit, aus Liebe zum Sport. Für Wettbewerbe erhalten sie kleine Entschädigungen vom Behindertensportverband. Einen Guide für eine Sportart zu finden, sei noch relativ einfach, sagt Patrick. Doch im Triathlon ist es anders. Bei kleinen lokalen Veranstaltungen dürften die Begleiter zwischen den Disziplinen wechseln – bei Lizenzrennen nicht. Dort gilt: ein Athlet, ein Guide. Jemanden zu finden, der in allen drei Disziplinen etwa auf dem gleichen Level unterwegs ist, sei extrem schwierig. „Nicht nur, weil ich so ein hohes Niveau habe. Auch weil die meisten Age Grouper eben auch ihre eigenen Rennen machen, und das verstehe ich vollkommen.“

Patrick Bitzinger, Triathlon, Rennrad

Welche Ziele hat Patrick Bitzinger für die Zukunft?

Ziele von Patrick Bitzinger

Eines seiner aktuellen Ziele lautet: Seinen Staatsmeistertitel im Paratriathlon verteidigen. Doch: Noch ist unklar, ob dieser Wettkampf in diesem Jahr überhaupt stattfinden kann. Im Vorjahr wurde er Gesamtsieger aller Altersklassen.

Im Winter will er in den nächsten Jahren seinen Fokus auf den Skilanglauf legen. Während des Lockdowns, als er nicht mit dem Tandem auf die Straße konnte, trainierte er vermehrt seine Kraft und Kraftausdauer. Ein weiteres großes Ziel: der erste Ironman – die volle Langdistanz über 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,2 Kilometer Laufen.

Schwimmen als größte Sorge

Die Disziplin, die ihm die größten Sorgen bereitet, ist das Schwimmen. „Auf dem Rad und beim Laufen kann ich mit meinem Guide kommunizieren. Da bekomme ich mit, wie schnell oder wie lange wir schon unterwegs sind oder wie die Umgebung ist. Beim Schwimmen bin ich eine Stunde lang isoliert im Wasser, da merke ich nicht, was um mich herum passiert.“

Beim Schwimmen erlebt er die größten Einschränkungen. Zwei bis drei Stunden pro Woche schwimmt er mit seinem Verein auf gesperrten Bahnen. Öffentliche Bäder meidet er mittlerweile. Hier sind die Becken meist voll – und für einen blinden Sportler, der nicht immer perfekt geradeaus schwimme, hätten viele Menschen kein Verständnis, sagt Patrick. „Selbst dann nicht, wenn ich die Schwimmmütze mit den drei Punkten aufsetze.“ Das tue er aber ohnehin ungern, weil er sich nicht kennzeichnen wolle. „Da bin ich müde geworden.“

Der Sport ist sein Leben. In den letzten beiden Jahren hat er eine Ausbildung zum Trainer gemacht. In den vergangenen Wintern gab er Spinning-Kurse in einem Fitnessstudio. Im Sommer organisiert er Zirkeltrainings an der Alten Donau. Zudem wollte er ein Studium an der Universität Wien beginnen.

Patrick Bitzinger, Triathlon, Rennrad

 

Patrick Bitzinger, Triathlon, Rennrad

 

 

Dankbarkeit

Er wohnt in einer Studenten-WG. Sein Ziel war: ein Bachelor-Abschluss in Trainingswissenschaften und Sportmanagement. „Mein Traum ist es, in der Trainingsplanung und -organisation zu arbeiten.“ Doch: Wegen seiner Sehbehinderung kann er etwa Bewegungsanalysen nicht durchführen.

Er schlug einen anderen Weg ein und lässt sich nun zum Masseur ausbilden. In Zukunft will er seinen Schwerpunkt auf Sportmassagen legen. Den Traum, in der Sportbranche tätig zu sein, hat er nicht aufgegeben. „Ich hadere nicht damit, blind zu sein“, sagt er. „Ich kenne viele Blinde, die sehr tief im Sumpf sitzen, nur unter sich bleiben. Das sehe ich sehr kritisch. Das Schöne am Sport ist: Man hat Kontakt mit vielen verschiedenen Leuten.“

Patrick Bitzinger will kein Vorbild sein

Ein Vorbild will er jedoch nicht sein. „Man kann sich etwas abschauen, ja, aber niemand soll etwas nachahmen. Jeder muss seinen eigenen Weg gehen.“ Wenn es darum geht, zu beschreiben, wie er selbst zu seiner Erblindung steht, sucht er nach den richtigen Worten. „Es klingt vielleicht komisch, aber eigentlich bin ich fast froh darüber.“

Sein Leben wäre ganz anders verlaufen, wenn er normal sehen könnte, sagt er. Konventioneller. „Ich wäre nie in Wien gelandet, hätte wahrscheinlich irgendeine Lehre absolviert, in einem handwerklichen Beruf gearbeitet, nie diese Erfahrungen im Leistungssport gemacht, nie die Paralympics als Ziel gehabt.“ Und nach einer langen Pause fügt er hinzu: „Nein, ich bin nicht dankbar, dass ich so schlecht sehe, aber ich bin dankbar dafür, dass ich all diese Erfahrungen machen darf.“

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Patrick Bitzinger: Steckbrief

Geburtsdatum 04.01.1995
Wohnort Wien
Größe und Gewicht 1,70 Meter / 61 Kilogramm
Behindertensportverein VSC ASVÖ Wien
Radsportverein ARBÖ Headstart ON-Fahrrad

Dieser Artikel erschien in der RennRad 10/2020. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.


Patrick Bitzinger: Größte Erfolge

Rennrad

  • Platz Europacup Prag 2014
  • Platz Oberösterreichrundfahrt 2015
  • Platz Straßenweltmeisterschaft Nottwil 2015
  • Mehrfacher österreichischer Staatsmeister

Triathlon

  • Platz U23 Ironman 70.3 St. Pölten 2017
  • Platz Österreichische Meisterschaften Paratriathlon 2017

ADHS und andere psychische Erkrankungen: Pandemie

Leitartikel, ADHS

Von Corona spricht jeder. Von einer anderen „Pandemie“ fast keiner. Vier bis sechs Prozent der Sechs- bis Achtzehnjährigen in Deutschland entwickeln ADHS, das „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom“. In den USA werden fast 20 Prozent aller Jungen an der High School mit ADHS diagnostiziert – dies entspricht einem Anstieg von 37 Prozent seit 2003. Jungen sind fünfmal häufiger von ADHS betroffen als Mädchen. Weltweit sollen zudem rund 2,5 Prozent der Erwachsenen darunter leiden.

Typische Symptome sind unter anderem: Unruhe, Unaufmerksamkeit, Ungeduld, häufiges Unterbrechen anderer, Lern- und Leistungsstörungen, Angst und Depressionen. Der Begriff Pandemie ist definiert als weltweite Epidemie beziehungsweise als kontinentübergreifende Ausbreitung einer Krankheit.

ADHS ist ein Diagnose-Virus

Im Falle von ADHS ist es kein Erreger, der sich ausbreitet – es ist ein Diagnose-Virus.  ADHS gilt als Modekrankheit des 21. Jahrhunderts. Das bekannteste ADHS-Medikament: Ritalin. Allein 2017 soll der Hersteller Novartis damit einen weltweiten Umsatz von fast 600 Millionen US-Dollar gemacht haben. Der Wirkstoff Methylphenidat ähnelt strukturell Amphetaminen, stimuliert das Gehirn und hat eine ähnliche Wirkweise wie Kokain. Die Entwicklung der Methylphenidat-Verordnungen in Deutschland zwischen 1999 und 2013: plus 600 Prozent. Verschriebene Tagesdosen 2013: 56,7 Millionen.

Auch immer mehr gesunde Menschen setzen ADHS-Medikamente gezielt als Gehirn-Doping-Mittel ein. Mehrere Studien zeigten, dass rund jeder zehnte US-Student mehr oder weniger regelmäßig Ritalin einnimmt. In einer aktuellen Studie aus den Niederlanden wurde jüngst festgestellt, dass Ritalin bei Kindern lebenslange Änderungen in der Arbeitsweise des Gehirns bewirken kann.

Studie der LMU München zu ADHS-Diagnosen

Einschub: Um die Qualität der Diagnosen einschätzen zu können, sei an dieser Stelle auf eine Studie der LMU München und des Zentralinstituts der kassenärztlichen Versorgung hingewiesen.

Darin wurden die Daten von sieben Millionen gesetzlich versicherten Kindern zwischen vier und 14 Jahren ausgewertet. Das Ergebnis: Kinder, die früher in die Schule kommen, sind eher ADHS-Patienten. Zumindest werden sie als solche diagnostiziert.

Konkret: Kinder, die kurz nach ihrem sechsten Geburtstag eingeschult wurden, werden mit einer klar höheren Wahrscheinlichkeit als ADHS-krank eingestuft als etwas ältere Kinder, die mit fast sieben Jahren in die Schule kommen. Von den jüngeren Kindern war demnach jedes 20., von den älteren jedes 25. betroffen. Mit was dies wohl zusammenhängen könnte? Vielleicht, aber nur vielleicht, mit dem höheren Bewegungsdrang der Jüngeren? Sarkasmus Ende.

Videospiel als ADHS-Gegenmittel

Gibt es – neben den in die Gehirn-Chemie eingreifenden Mitteln wie Ritalin oder Modafinil – andere ADHS-Gegenmittel? In den USA wurde in diesem Jahr eines zugelassen: ein Videospiel.

Auf dem Smartphone- oder Tablet-Display ist zu sehen: Ein kleines, etwas pixeliges Raumschiff, das durch eine Welt aus Eis fliegt. Die Aufgabe des Spielers: den auftauchenden einäugigen Wesen ausweichen – oder sie einfangen. Der Name des Spiels: Endeavor RX. Es ist das erste Videospiel überhaupt, das es in den USA auf Rezept gibt. Ärzte dürfen es Kindern im Alter von acht bis zwölf Jahren als Medikament verschreiben. Es soll dabei helfen, sich auf eine Sache zu konzentrieren.

Sieben Jahre lang wurde das Spiel zuvor in Studien mit mehr als 600 Kindern getestet. Sie spielten jeweils über vier Wochen an je fünf Tagen pro Woche für 25 Minuten.

In einer der fünf Testreihen wurde festgestellt, dass ein Drittel der Kinder danach „kein messbares Aufmerksamkeitsdefizit bei mindestens einem Maß objektiver Aufmerksamkeit“ mehr hatte.

Doch es traten auch Nebenwirkungen auf: Frustration, Kopfschmerzen und Schwindel. Dies ist nur der eine Fakt, der zu denken gibt. Der andere: Wie das Technik-Portal „The Verge“ berichtet, waren an der Erstellung dieser Studie Ärzte beteiligt, die für die Herstellerfirma arbeiten – beziehungsweise Aktienoptionen dieses Unternehmens besitzen.

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Bewegung als ADHS-Gegenmittel

Warum einfach, wenn es auch kompliziert – und wissenschaftlich kaum validiert – geht, scheint das Motto zu sein. Das günstigste Medikament lautet: Bewegung. Nebenwirkungen: keine. Weltweit sind mehr als 80 Prozent der Elf- bis Siebzehnjährigen nicht ausreichend aktiv – in Deutschland bewegen sich 88 Prozent der Mädchen und 80 Prozent der Jungen nicht in einem ausreichenden Ausmaß.

Dass Sport die kognitiven Fähigkeiten – besonders die Aufmerksamkeit und die Gedächtnisleistung – von Kindern mit ADHS verbessern kann, haben unter anderem Sportwissenschaftlerinnen der Universität Regensburg nachgewiesen.

Studie der Universität Regensburg

In ihrer Studie teilten sie 43 Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren in drei Gruppen ein. Zwei Gruppen absolvierten je ein anderes zwölfwöchiges Sportprogramm. In dem einen wurden vor allem Ball-, Geschicklichkeits- und Balance-Fertigkeiten trainiert. Im anderen eher ausdauerorientierte Sportarten. Die Kinder in der Kontrollgruppe machten keinen zusätzlichen Sport.

Die Ergebnisse: Die Kinder aus den beiden Sport-Gruppen zeigten signifikante Leistungssteigerungen in ihren kognitiven Funktionen. So konnten sie sich nun etwa Zahlenfolgen klar besser merken. Zudem verbesserten sie, erwartungsgemäß, ihre motorischen Fähigkeiten deutlich.

Die Effekte von Bewegung sind ähnlich zu jenen stimulierender Medikamente. Selbst eine leichte körperliche Aktivität verbessere die Stimmung und die kognitive Leistung, indem sie das Gehirn dazu stimuliere, Glückshormone freizusetzen, sagt der Psychologe John Ratey von der Harvard University. Er schlägt deshalb vor: Sport solle als ADHS-Medikament eingestuft werden.

Sportunterricht

Sport ist das einfachste Gegenmittel gegen viele psychische wie auch physische Leiden – in der Freizeit, im Verein, in der Schule. Jedes siebte Kind in Deutschland ist übergewichtig, jedes fünfte hat Haltungsschäden. Jedoch sorgt die Politik für eine immer stärkere Entwertung des Sports. Die Freiheitsgrade von Kindern und Jugendlichen werden immer weiter eingeschränkt. Die Kindheit wird verschult. Die Zeit für Sport und andere Hobbys nimmt ab.

Auch der Sportunterricht wird – politisch – nicht wertgeschätzt. So sind in Nordrhein-Westfalens Schulen zwar drei Stunden Sportunterricht pro Woche vorgesehen. Doch in der Realität liegt der Durchschnitt bei 2,4 Stunden – rechnet man die Ferien ein, bei 1,8 Stunden. In Sachsen wurde 2019 die Zahl der vorgesehenen Sportstunden von drei auf zwei reduziert.

Zudem zeigen Studien, dass sich Kinder in Deutschland pro Sportstunde durchschnittlich „ganze“ 8,5 Minuten in einem moderaten bis intensiven Intensitäts-Bereich bewegen. Maximal 17 Minuten Bewegung pro Schulwoche. Über die Auswirkungen dessen kann, und sollte, sich jeder selbst Gedanken machen. Wo sollen Kinder hin mit ihrer Energie? Mit ihrem, völlig natürlichen, Bewegungsdrang?

Auswirkungen der Corona-Krise

Die Auswirkungen der Corona-Krise sind vielfältig. Gerade Kinder und Jugendliche waren beziehungsweise sind in einem besonderen Maße betroffen.

In einer Studie der Uniklinik Hamburg-Eppendorf mit Daten des Krankenversicherers DAK wurden die Gaming- und Social-Media-Gewohnheiten von Kindern und Jugendlichen zwischen zehn und 17 Jahren untersucht: Einmal im September 2019 und ein zweites Mal während des „Corona-Höhepunkts“ im April.

Die Ergebnisse: Regelmäßige Nutzer verbrachten allein an Werktagen während der Kontaktbeschränkungen 75 Prozent mehr Zeit mit Internet-Spielen. Das Zeit-Investment der Kinder stieg von 80 Minuten im September auf fast 140 Minuten im April. Die Nutzungsdauer sozialer Medien erhöhte sich von knapp zwei auf mehr als drei Stunden. Pro Tag. In jedem zweiten der befragten Haushalte gibt es, laut der Studie, keine zeitliche Obergrenze der Handy-, PC- beziehungsweise Internet-Nutzung.

Bereits die „Vor-Corona-Zahlen“ waren mehr als bedenklich. Schon nach der Erhebung im September stuften die Experten die Gaming-Gewohnheiten einer halben Million Jugendlicher als „riskant“ ein. Rund 150.000 Kinder und Jugendliche waren bereits damals „pathologische Nutzer“.

Gegenmittel

Im Durchschnitt verbringen Kleinkinder unter zwei Jahren täglich rund 40 Minuten damit, auf Bildschirme zu schauen. Dies suggeriert eine große Studie aus den USA.

In einer anderen Umfrage gab fast die Hälfte aller US-amerikanischen Teenager an, fast durchgehend online zu sein. Für eine aktuelle Studie, an der unter anderem Forscher des Cincinnati Children’s Hospital beteiligt waren, wurden die Gehirne von Kindergartenkindern im MRT untersucht.

Der Befund: Die vor Bildschirmen verbrachte Zeit stand im Zusammenhang mit strukturellen Veränderungen des Gehirns. Mehr vor Bildschirmen verbrachte Stunden korrelierten mit einer Verringerung der weißen Gehirnmasse. Über die kognitiven Effekte der übermäßigen Nutzung digitaler Medien und der „Digitalisierung“ der Schulen hatte ich im Leitartikel der RennRad 6/2019 geschrieben – und unter anderem auf das Buch „Digitale Demenz“ des Neurowissenschaftlers und Psychiaters Manfred Spitzer verwiesen.

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Psychische Erkrankungen nehmen durch Corona-Krise zu

Nach einer Erhebung der Krankenkasse KKH nahm die Zahl der psychischen Erkrankungen in der Corona-Krise um 80 Prozent zu – im Vergleich zum Vorjahr. Im ersten Halbjahr 2020 verzeichnete die KKH unter ihren rund 1,7 Millionen Versicherten rund 26.700 Krankmeldungen wegen seelischer Leiden.

Als mögliche Gründe führen die Experten Existenzängste, die Furcht vor dem Virus und das Problem gravierender plötzlicher Lebensveränderungen an. Zudem nahm die Zahl sozialer Kontakte ab.

Die Ergebnisse der aktuellen COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zu den Auswirkungen der Corona-Krise: Zwei Drittel der befragten Kinder und Jugendliche gaben eine verminderte Lebensqualität und ein geringeres psychisches Wohlbefinden an. Eine enorme Steigerung von mehr als 30 Prozent im Vergleich zu vor den Corona-Maßnahmen. Das Risiko für psychische Auffälligkeiten stieg von rund 18 Prozent vor Corona auf 31 Prozent während der Krise.

Offensichtliche Lösungen

Die Effekte des Sporttreibens auf die Psyche habe ich bereits in früheren Leitartikeln anhand von Studienergebnissen aufgeführt. Sie sind valide und klar belegt. Eindrucksvoll untermauert dies auch eine im „JAMA Psychiatry Journal“ erschienene Untersuchung mit 2000 Probanden. Die Forscher ließen die Studienteilnehmer ein besonderes Therapieprogramm absolvieren: Gewichtheben.

Das Ergebnis: Depressionen und depressive Verstimmungen wurden durch das Training klar gemindert – unabhängig vom Alter, dem Geschlecht und der Stärke der Symptomatik zu Beginn der Untersuchung.

Dr. James Blumenthal von der Duke University Durham, USA, ließ seine depressiven Patienten während eines Winters regelmäßig joggen.

Das Ergebnis: Das Laufen linderte die Depressionen im gleichen Maße wie verschreibungspflichtige Antidepressiva – nur ohne Nebenwirkungen. Die Ergebnisse sind klar.

Die Lösungen liegen auf der Hand. Sie wären günstig, gesund, effizient, präventiv. Wenn die Menschen an den entscheidenden Stellen sie denn sehen wollen würden.


Weitere Leitartikel von RennRad-Chefredakteur David Binnig