Monat: April 2021

Radmarathon-Training: Trainingstipps vom zweifachen Ötztaler-Sieger

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Die erste Fahrt „kurz-kurz“, angenehme Temperaturen, weniger Matsch und Dreck an der Kleidung und am Rad – im Frühling starten Viele mit längeren Ausfahrten, mit dem gezielten Training: hin zu den ersten Saisonhöhepunkten des Jahres. Diese sind auch in diesem Jahr mit einigen Unsicherheiten verbunden: Die üblichen „frühen“ Langstreckenevents, wie etwa Mallorca 312 oder der Nove-Colli-Radmarathon in der Emilia Romagna, wurden verschoben. Und finden 2021 erst im Herbst statt. Bei aller Ungewissheit lohnt sich dennoch ein strukturiertes, bedachtes Radmarathon-Training mit gesteigerten Umfängen im Frühjahr – egal ob die Ziele bereits feststehen, später im Jahr stattfinden, oder gar nicht als Rennen oder Radmarathons definiert sind.

Doch die ersten langen Fahrten sind mit einigen Risiken verbunden, insbesondere für diejenigen, die im Winterhalbjahr wenig rad-spezifisch trainiert haben oder sich auf meist kürzere, intensive Rolleneinheiten fokussierten. Es ist daher meist sinnvoll, den Trainingsumfang langsam zu steigern.

Die Wochenendausfahrten können sich beispielsweise jede Woche um eine Stunde verlängern – von einer zwei- oder dreistündigen Einheit zu vier- oder fünfstündigen. Das gibt dem Körper Zeit, sich an diese Belastungen zu gewöhnen. Der Stoffwechsel, das „Sitzfleisch“, die Muskeln und Sehnen werden so auf härtere Einheiten vorbereitet. Dies kann etwaige Überbelastungen, Verletzungen und andere Beschwerden verhindern.

Risiken, Pausen und Ausdauer-Training

Nicht nur die Dauer der Belastung kann einen Einfluss auf das Verletzungsrisiko haben. Das Wetter ist oft unbeständig – ein sonniger Tag verleitet häufig zum Tragen zu leichter Kleidung. Tipp: Lieber mit einer Schicht mehr starten und Armlinge, Knielinge, Westen und andere wärmende Kleidunggstücke mit dabeihaben. Auch die Sitzposition hat oft einen Anteil an Beschwerden wie einer Überlastung der Sehnen oder einzelner Muskelgruppen – unterschiedliche Räder auf der Rolle und draußen zu fahren, kann eine Ursache sein.

In größeren Gruppen sollte man laut den Corona-Maßnahmen ohnehin nicht unterwegs sein. Das ist jedoch nicht der einzige Grund, aus dem man dem Drang widerstehen sollte, sich in den Windschatten vorbeifahrender Radfahrer zu „hängen“. Wenn der Leistungsunterschied nicht zu groß ist, dann ist es kein Problem – deutlich schnellere Fahrer lässt man jedoch besser ziehen.

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Radmarathon-Training: Grundlagentempo

Gerade zum Beginn der Saison sollte das Ziel nicht bei einem bestimmten Durchschnittstempo liegen. Wichtiger ist es, die eigenen Trainingsbereiche einzuhalten und sich vorwiegend im eigenen Grundlagentempo zu bewegen.

Dies aktiviert die Fettverbrennung und hilft somit dabei, den gewünschten Trainingseffekt der Ökonomisierung zu erreichen. Auch wenn die Motivation noch so groß ist, darf man die Signale des Körpers nicht „überhören“. Oft sind es die Sehnen am Knie, die zuerst schmerzen. Dann heißt es, konsequent pausieren und Ursachenforschung betreiben.

Um Problemen der Stütz- und Haltemuskulatur vorzubeugen, ist ein regelmäßiges Krafttraining sinnvoll. Auch Intervalle sollte man nur ausgeruht angehen.Umso wichtiger sind strikte Ruhetage, an denen auch weiterhin ausgleichendes Stabilisations-Training absolviert wird. Stabilisation, Krafttraining, Dehnen: Gerade jetzt im Frühjahr helfen diese Übungen enorm, um trotz des höheren Umfangs auf dem Rad Schmerzen und Verkürzungen vorzubeugen.

Um, trotz der Frühlings-Motivation, dem Risiko des Übertrainings entgegenzuwirken, ist die Trainingssteuerung entscheidend. Ein Herzfrequenzmesser oder ein Powermeter sind dafür sinnvolle Hilfsmittel. Wichtig ist es zudem, sich an den eigenen Werten und Trainingszonen zu orientieren. Und sich nicht von anderen zum Überziehen verleiten zu lassen.

Intervalle und Grundlage beim Radmarathon-Training

Eines der Hauptziele der Frühjahrsvorbereitung ist die Verbesserung des Fettstoffwechsels. Dieser kann gezielt trainiert werden, vor allem durch Fahrten im Grundlagenbereich. Wie hoch dieser Bereich bei jedem individuell anzusetzen ist, hängt von der FTP ab. Bei etwa 50 bis 77 Prozent der Leistungsschwelle bewegt man sich im Bereich der Grundlagenausdauer und erhöht den Anteil der Fettverbrennung.

Wer ohne Powermeter fährt, kann sich auch an seinem Puls orientieren – bis zu 80 Prozent der maximalen Herzfrequenz ist dann die grobe Richtlinie für den Grundlagenbereich. Wer mit dieser Intensität fährt und trainiert, gewinnt, relativ gesehen, am meisten Energie aus dem Fettstoffwechsel.

Nüchterntraining

Zudem kann die Fettverbrennung durch Nüchterntrainings und gezielte Umfang-Blöcke verbessert werden. Ein Training mit leerem Magen bedeutet, dass körpereigene Reserven zur Energiegewinnung herangezogen werden müssen. Es sollte jedoch nicht zu lange betrieben werden. Da dann auch der Blutzuckerspiegel niedrig ist, sollte der Umfang 90 Minuten nicht übersteigen.

Etliche Studien weisen darauf hin, dass auch kurze hochintensive Intervalle die Ausdauer in Form der maximalen Sauerstoffaufnahme verbessern. Eine Mischung von längeren Grundlagen-Einheiten und kurzen intensiven Belastungen kann für viele Fahrer sinnvoll sein. Mehr über diese Trainingsform der Polarisierung lesen Sie in der nächsten Ausgabe. Aus meiner Sicht sollten die ersten 500 Kilometer draußen in der Regel fast nur im Grundlagen-Tempo absolviert werden. Erst danach sollten etwa HIIT-, EB- und SB-Intervalle in den Trainingsalltag eingebaut werden.

Dieser Artikel erschien in RennRad 5/2021. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.


Stefan Kirchmair ist zweifacher Ötztaler-Radmarathon-Sieger und Radtrainer mit A-Lizenz. Seine Erfahrungen gibt er gerne an alle Radsportbegeisterten weiter. Für Fragen stehen er und sein Team zur Verfügung. Weitere Informationen zu Stefan Kirchmair finden Sie auch auf www.kirchmair-cycling.com sowie auf der entsprechenden Facebookseite.

Seine Online-Race-Community finden Sie unter anderem auf Strava: www.strava.com/clubs/Kirchmair-Cycling

Sa Calobra: Kill The Hill

Kill The Hill

Zehn Kilometer, etliche Serpentinen, 710 Höhenmeter – und traumhafte Ausblicke auf das Mittelmeer. Ein Bergzeitfahren auf einer Straße, von der viele träumen, auf der „Radfahrer-Insel“ schlechthin: Das ist das „Kill The Hill“ auf Mallorca. Die Strecke: vom Meer auf die Passhöhe des Coll dels Reis – auf einer extra für den normalen Verkehr gesperrten Traumstraße.

Bergzeitfahren: Kill The Hill Sa Calobra

Das Event-Datum: der 6. November 2021. Der Wettkampf für Sportler aller Alters- und Leistungsklassen wird zum ersten Mal ausgetragen. Die Platzierungen in den verschiedenen Klassen werden anhand der gemessenen Auffahrtszeiten ermittelt. Die Zahl der Startplätze ist bei dieser Premieren-Veranstaltung streng limitiert.

Kill The Hill

Zehn Kilometer, 710 Höhenmeter: Sa Calobra. Wer gewinnt das Bergzeitfahren Kill The Hill?

Kill The Hill: Virtuelle Teilnahme

Doch: Mitmachen kann fast jeder – vom eigenen Zuhause aus, virtuell. Denn: Parallel zu dem Event auf Mallorca wird auch ein digitales Zeitfahren ausgetragen – auf einer Hometrainings-Plattform. Die Gewinnerin und der Gewinner werden bei einer Siegerehrung gefeiert – und zum realen Event des nächsten Jahres nach Mallorca eingeladen.

Mallorca als Destination für Rennrad-Trainingslager

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Am Tag vor dem Event wird es eine große Infoveranstaltung geben. Am Renntag selbst werden die TeilnehmerInnen von Port de Soller aus mit dem Boot zum Hafen Sa Calobra gebracht. Dort warten ein Team von Helfern – und etliche bereitgestellte Rollen-Trainingsgeräte. Somit besteht die Möglichkeit, sich vor dem Start „warmzufahren“.

Kill The Hill: Das Event

Zudem kann jeder Teilnehmer vorab einen Beutel mit Wechselkleidung und Weiterem im Zielbereich deponieren. Das Ziel befindet sich oberhalb des legendären „Krawattenknotens“, der berühmten 380°-Grad-Kurve von Sa Calobra, die einen weiten Blick über die Serpentinen-Straße und das Meer bietet.

Radsportinsel im Lockdown: Mallorca und Corona

Für den Transport auf das Event-Gelände in Port de Soller werden Busse bereitstehen. Dort werden unter anderem die Siegerehrungen und eine After-Race-Veranstaltung stattfinden. Wir von RennRad sind der Medienpartner des neuen Events – und bieten Insider-Wissen zu Mallorca sowie Trainingstipps und -pläne zur Vorbereitung. Weitere Informationen zum Event: www.killthehill.cc

Kill The Hill

Kill the Hill – das Bergzeitfahren auf Mallorca. Ort: Sa Calobra, am Coll dels Reis.

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Campagnolo Bora Ultra WTO

Campagnolo Bora Ultra WTO

1994 präsentierte Campagnolo erstmals Laufräder der Highend-Serie Bora. Nun ist die neueste Serie der Bora Ultra WTO erhältlich. Angeboten werden die Laufräder in Varianten mit Felgenhöhen von 33, 45 und 60 Millimetern. „Disc only“: Der italienische Traditionshersteller produziert die neuen Laufräder nicht als Version für Felgenbrems-Systeme. Die Felgen werden mit Clincher- und Tubeless-Reifensystemen zu nutzen sein. Eine Version für Tubular-Schlauchreifen wird es nicht geben. Alle Informationen und die Preise.

Campagnolo Bora Ultra WTO

Campagnolos Bora Ultra WTO werden nur für Scheibenbrems-Systeme angeboten.

Die neuen Bora Ultra WTO sollen steifer, leichter und aerodynamischer sein als ihre Vorgänger. Eine Besonderheit sollen die hinsichtlich der Aerodynamik und der Wartung vorteilhaften in der Felge verlegten Speichen-Nippel sein. Auch die Nabe sowie die Felgen wurden überarbeitet. Neu ist auch die Optik: An der Felge und an den Naben wurden kupferfarbene Logos und Schriftzüge angebracht.

Aerodynamik: interne Nippel der Bora Ultra WTO

Campagnolos WTO-Prinzip steht für Wind Tunnel Optimized – und für den Anspruch, unter realen, rennradtypischen Einsatzbedingungen eine bestmögliche Aerodynamik zu bieten. Die neueste Entwicklung im Rahmen dieses Konzepts sind die intern in der Felge liegenden Aero-Mo-Mag-Nippel. Sie sollen einen effizienteren Luftstrom an der Felge ermöglichen, bei dem weniger bremsende Verwirbelungen entstehen sollen. Insbesondere in der Verbindung mit Campagnolos elliptischen Speichen soll der Vorteil hinsichtlich der Aerodynamik zum Tragen kommen.

Campagnolo Bora Ultra WTO

Die Besonderheit: Die Aero-Mo-Mag-Nippel liegen komplett intern in der Felge.

Steifigkeit und Haltbarkeit: Vorteile der neuen Konstruktion

Die innenliegende Konstruktion der Nippel soll außerdem eine höhere Steifigkeit und eine längere Haltbarkeit der Carbonfelgen ermöglichen. Denn nun können laut Campagnolo die Speichen- und Ventillöcher schon bei der Formung der Felgen umgesetzt werden. Sie müssen nicht nachträglich eingebohrt werden. Zudem soll es nun möglich sein, die Speichen noch akkurater und gleichmäßiger zu positionieren.

Campagnolo Bora Ultra WTO

Die innenliegende Konstruktion der Nippel soll vor allem die Aerodynamik verbessern.

Clincher und Tubeless: Bora Ultra WTO

Da die Nippellöcher nicht in das – für Tubeless- und Clincher-Systeme gleichermaßen geeignete – 2-Way-Fit-Felgenbett gebohrt sind, ist kein Felgenband nötig. Auch Tubeless-Systeme sollen entsprechend einfach abgedichtet werden können. Mit einem mitgelieferten Werkzeug sollen die innenliegenden Nippel zudem besonders einfach nachgezogen und gewartet werden können, wenn die Spannung der Speichen angepasst werden muss.

Dafür soll es nicht einmal nötig sein, den Reifen abzuziehen. Eine Glasfaser-Polymer-Schicht zwischen den Carbonfelgen und den Nippeln soll zudem Schäden durch Korrosion verhindern, welche bei intern liegenden Nippeln ein Problem sein kann. Die Felgen sind für die Verwendung von 25 Millimeter breiten Reifen optimiert.

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Handgemacht: Carbonfelgen der Bora Ultra WTO

Zum Einsatz kommt Campagnolos handgefertigtes „Hand Made Ultra Light Carbon“, welches der Hersteller entsprechend der Initial-Abkürzung als H.U.L.C. bezeichnet. Die Verarbeitung wurde jedoch, basierend auf den Erfahrungen mit der eigenen Carbonverarbeitung, angepasst. Durch einen verbesserten Einsatz der Carbonfasern und des Klebe-Harzes ist für die Bora Ultra WTO in der Version mit einer Felgenhöhe von 45 Millimetern ein Gewicht von 1425 Gramm möglich, während die Aerodynamik und die Steifigkeit verbessert wurden.

Campagnolo Bora Ultra WTO

Weder für Clincher- noch für Tubeless-Systeme soll ein zusätzliches Felgenband nötig sein.

Die Felgen sind mit Campagnolos C-Lux-Finish überzogen, welches eine Lackierung überflüssig macht und somit weiteres Gewicht einsparen lässt. Es soll zudem einen besonders sicheren Sitz der Tubeless-Reifen ermöglichen und die Felgen zudem vor Beschädigungen schützen.

CULT-Kugellager: 2:45 Stunden Drehzeit bis zum Stillstand

Campagnolos Ceramic Ultimate Level Technology, kurz „CULT“ kommt in den Kugellagern der Naben zum Einsatz, welche durch einen schmaleren Nabenflansch aerodynamisch verbessert wurden. Die CULT-Kugellager sollen haltbarer als Stahllager sein, widerstandsfähiger gegen Abnutzung sein und deutlich mehr Effizienz bieten. Die Reibung soll im Vergleich zu Standard-Kugellagern aus Stahl um 40 Prozent geringer sein. Laut Campagnolos Messungen dauert es zwei Stunden und 45 Minuten, bis die Laufräder stillstehen, wenn sie sich zuvor mit 78 km/h drehen. Standard-Kugellager stehen demnach bereits nach 30 Minuten still.

Campagnolo Bora Ultra WTO

Die reibungsarmen CULT-Keramik-Kugellager sollen sich nach einer Beschleunigung auf 78 km/h für 2.45 Stunden drehen.

G3-Speichenmuster: charakteristisch für Campagnolo

Auch bei den neuen Bora Ultra WTO kommt Campagnolos charakteristisches, asymmetrisches G3-Speichenmuster zum Einsatz. Es wurde für den Einsatz mit Scheibenbrems-Systemen optimiert und ist auf die Felgen, die neue Nippelkonstruktion sowie die Naben abgestimmt. Es soll sowohl bei explosiven Belastungen bei Sprints sowie bei starkem Bremsen eine bestmögliche Kraftübertragung sowie Stabilität bieten. Der patentierte N3W-Freilaufkörper ist für 11- bis 13-fach Kassetten von Campagnolo entwickelt und kann gegen Freilaufkörper getauscht werden, die auch Shimano- oder Sram-Kassetten aufnehmen können.

Die verjüngten Carbon-Naben am Vorderrad sollen besonders aerodynamisch und steif sein.

Der Preis der neuen Camapgnolo-Laufradsätze Bora Ultra WTO liegt bei jeweils 3150 Euro mit Campagnolo-N3W-Freilauf, für Shimano-HG- und Sram-XDR-Freiläufe liegen die Preise um fünf, respektive um zehn Euro höher.

Campagnolo Sarto

An einem Sarto-Rennrad werden wir in den kommenden Wochen unseren Test der neuen Bora Ultra WTO durchführen.

Die Daten: Campagnolo Bora Ultra WTO

Preise: 3150 Euro mit Camagnolo N3W-Freilauf, 3155 Euro mit Shimano-HG-Freilauf, 3160 Euro mit Sram-XDR-Freilauf Gewicht, pro Laufradsatz mit N3W-Freilauf: 1385 Gramm für die 33-Millimeter-Felgen, 1425 Gramm für die 45-Millimeter-Felgen, 1530 Gramm für die 60-Millimeter-Felgen
Maximales Systemgewicht: 120 Kilogramm
ASTM classification 1
Felgen-Material: UD-Carbon, H.U.L.C, C-LUX finish
Kompatibilität: 2-Way Fit – Tubeless, Tubeless-ready, Clincher
Empfohlene Reifendimensionen: 700c/28 Zoll, 25 Millimeter
Felgenhöhen: 33 / 45 / 60 Millimeter
Felgen-Innenbreite: 21 Millimeter
Felgen-Außenbreite: 27,4 Millimeter
Naben: Vordere Nabe: Carbon-Körper mit integriertem Flansch, 12 x 100 Millimeter
Hintere Nabe: Aluminium-Körper mit 36-Zähne-Freilauf, 12 x 142 Millimeter
Steckachse: Aluminium
Kugellager: CULT; Keramik
Scheibenbremsaufnahme: AFS disc
Freilauf-Kompatibilität: N3W, XDR, HG
Speichen: 24 Speichen, elliptisch, straight-pull, zweifach konifiziert, 1.5 Millimeter, G3-Speichenmuster
Nippel: Aluminium, Aero Mo-Mag™, self-locking, intern liegend
Lieferumfang: Aero-Mo-Mag-Nippel-Werkzeug, Tubeless-Ventile, AFS-lockrings, Campagnolo-Laufradtaschen, Accessories

Mehr Informationen gibt es auf der Website von Campagnolo. Folgende Artikel könnten Sie ebenfalls interessieren:

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Florian Lipowitz: Ex-Biathlet auf dem Weg zum Radprofi

Florian Lipowitz, Porträt, Radsport

Sie fahren bergauf, erst zu viert, dann zu dritt, dann zu zweit, 25 Kilometer und 1400 Höhenmeter weit – dies ist der letzte Berg des Engadiner Radmarathons. 170 Kilometer liegen hinter ihnen. Der finale Anstieg liegt vor ihnen – der Ort der Entscheidung: der Albulapass. Einer der schönsten und der härtesten Pässe der Schweiz. Der eine der beiden stärksten Fahrer dieses Tages ist der aktuell wohl erfolgreichste Radmarathon-Fahrer überhaupt: Matthias Nothegger, der zweimalige Sieger des Ötztaler Radmarathons, der „inoffiziellen Marathon-Weltmeisterschaft“. Der andere: Ein Unbekannter. Ein Teenager. Florian Lipowitz ist 18 Jahre alt, Schüler – und Biathlet.

Forcola, Bernina, Flüela, Albula – von Zernez nach Zernez. 1500 Starter. 214 Kilometer. Im ersten Drittel des Anstiegs attackiert der Favorit, Matthias Nothegger. Zwei der vier Fahrer der ursprünglichen Spitzengruppe verlieren ihn schnell aus dem Blickfeld. Der dritte Fahrer hält den Abstand, 50, 60, 70 Meter – konstant. Und schließt die Lücke wieder. Die Passhöhe des Albula bildet ein kleines Hochplateau. Abfahrt. Die finalen 30 Kilometer sind flach. Die beiden Fahrer bauen ihren Vorsprung auf 6:20 Minuten aus. Fünf Kilometer noch, zwei, einer. Sprint.

Florian Lipowitz: „Eines der größten Radtalente“

Nach 6:09:32 Stunden sind sie im Ziel – mit einem neuen Streckenrekord. Der Sieger des Engadiner Radmarathons heißt: Florian Lipowitz. Der „Engadiner“ war sein zwölfter Radmarathon überhaupt – und sein zweiter Sieg. „Florian ist für mich eins der größten Radtalente“, sagte der Zweitplatzierte Matthias Nothegger im Ziel. „Wenn er nicht in die Lizenzklasse wechselt, haben wir hier einen potenziellen Seriensieger.“

Acht Wochen später. Der Ötztaler Radmarathon – einer der prestigeträchtigsten Marathons Europas. Mehr als 4000 Starter, vier Pässe, 227 Kilometer, 5100 Höhenmeter. Florian Lipowitz fährt sein eigenes Tempo – und das seines Vaters. Erst im letzten Drittel des finalen Anstiegs – des 28 Kilometer langen und 2474 Meter hohen Timmelsjochs – trennen sie sich. Der Sohn erreicht das Ziel nach 7:06 Stunden. Als Gesamtzwölfter. Der Vater braucht nur zehn Minuten länger.

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Biathlon und Radmarathons

Biathlon – Radmarathons – Profi-Rennen. Das ist sein Weg, der Weg des Florian Lipowitz, bis jetzt, bis zum Alter von 20 Jahren. Sein Ziel: die Tour de France. Die Zahl seiner Starts bei Lizenz-Radrennen, bevor er im Herbst 2019 seinen ersten Vertrag bei einem Continental-Team unterschrieb: null. Seine erste große Rundfahrt im Oktober 2020: der Giro della Regione Friuli, Italien. Eines der wichtigsten und renommiertesten Etappenrennen für Nachwuchsfahrer überhaupt.

Sein Ergebnis: Gesamt-Vierzehnter, dritter der Nachwuchs- und dritter der Bergwertung. Der Sieger ist einer der überragenden Fahrer der U23-Klasse in der Saison: der Norweger Andreas Leknessund. Er wechselte zur Saison 2021 zum deutschen WorldTour-Team DSM.

Florian Lipowitz, Porträt, Radsport

„Biathlon bereitet größere Schmerzen als Radsport. Kürzere, aber intensivere.“


Florian Lipowitz: Mein Weg

„Wir sind eine Sport-Familie. Bewegung in der Natur gehörte schon immer zu meinem Alltag. Zum Alltag der ganzen Familie, schon als kleines Kind. Und ich bin schon immer, seit ich das ohne Stützräder kann, gerne Rad gefahren. Mein erster Radmarathon war der Dreiländergiro Nauders. Ich bin damals zusammen mit meiner Mutter und meinem Vater die kleine Runde gefahren – 120 Kilometer. Ich war neun Jahre alt. Mit dem Biathlon habe ich mit acht Jahren angefangen. In der Nähe meines Heimatortes bei Ulm gibt es eine Biathlon-Anlage – die wollte ich einmal ausprobieren. Also bin ich einfach einmal zu einem Probetraining gegangen. Die Kombination aus dem Langlaufen – der Ausdauer, der Geschwindigkeit – und der Präzision beim Schießen hat mich sofort fasziniert. Und tut es heute noch. Als Schüler war ich Deutscher Meister und im Nationalkader.

Wir sind dann nach Seefeld in Tirol gezogen, dort haben meine Eltern ein Haus gekauft. Zusammen mit meinem Bruder bin ich auf ein Sport-Internat, das Ski-Gymnasium in Stams, gewechselt. Mein Bruder Philipp ist ein Jahr älter als ich. Er absolviert derzeit eine Ausbildung bei der Bundespolizei, und ist Mitglied des Biathlon-Junioren-Nationalteams. Als Familie haben wir oft Radtouren unternommen. Als ich 16 war, sind wir – als Urlaub – durch die Alpen gefahren. Von Genf nach Nizza. Sieben Tage, 800 Kilometer, 16.000 Höhenmeter. Ein Jahr später haben wir eine Tour durch die Pyrenäen gemacht. Sieben Tage, 900 Kilometer, 18.000 Höhenmeter. Solch einen Urlaub vergisst man nie wieder. Ich finde so etwas viel schöner als einen Urlaub am Strand. Die wohl härtesten und schönsten Pässe waren für mich der Col du Galibier und der Cime de la Bonette.

Grundlage und Intervalle

Als Biathlet bin ich im Sommer meist zwischen 5000 und 6000 Kilometer Rennrad gefahren. Auf den Skiern habe ich, bei Grundlageneinheiten, im Durchschnitt 40 bis 50 Kilometer pro Tag absolviert. Mit 17, 18 Jahren kam ich auf irgendetwas zwischen 600 und 700 Trainingsstunden im Jahr. Von der Figur her könnte ich nie ein Sprinter werden. Ich bin 1,80 Meter groß und wiege 62, 63 Kilogramm. Meine Muskulatur war noch nie schnellkräftig. Ich habe langsame „rote“ Ausdauer-Muskelfasern. Das hat sich in vielen Sportarten gezeigt. Früher bin ich zum Beispiel auch viel gelaufen. Mit 15 Jahren habe ich einmal, ohne besondere Vorbereitung, bei einem Zehn-Kilometer-Lauf mitgemacht. Ich habe weniger als 35 Minuten gebraucht. Als 16-Jähriger bin ich dann die ‚kurze‘ Strecke des Dreiländergiro gefahren – und wurde Zweiter. 120 Kilometer und 3000 Höhenmeter in 4:18 Stunden.

Als Quereinsteiger aus dem Biathlon in den Radsport habe ich Vor- und Nachteile: Eine Besonderheit ist wohl, dass ich ein härteres Training gewohnt bin. Biathlon bereitet mehr Schmerzen als Radsport. Kürzere, aber intensivere. Der Gedanke daran, die Sportart zu wechseln, kam erst sehr spät. Mit 17 war ich oft verletzt. Ich hatte eine Entzündung in einer Wachstumsfuge im Knie, und konnte mein gewohntes Training nicht durchziehen. Einen Sommer lang konnte ich nur Radfahren.

Florian Lipowitz, Porträt, Radsport

Ein Kreuzbandriss warf Florian Lipowitz zwischenzeitlich zurück

Kreuzbandriss

Vor zwei Jahren hatte ich dann einen Kreuzbandriss. Auch danach konnte ich erst einmal keinen anderen Sport machen außer Radfahren. Der Übergang vom Biathlon zum Radsport war also eher schleichend. Spaß hatte und habe ich sowohl auf den Skiern als auch auf dem Rennrad. Ich habe recht schnell gesehen, dass auch auf dem Rad Talent da ist. Dass ich gerade an langen Bergen mit weit älteren, erfahrenen Fahrern mithalten kann. Die ersten Radmarathons bin ich nur aus Spaß gefahren. Im Laufe der Zeit wurde ich ehrgeizig.

Meine Taktik blieb immer gleich – sie ist sehr einfach: Es geht vor allem darum, möglichst lange möglichst viel Kraft zu sparen. Man fährt in den Gruppen im Windschatten und versucht möglichst weit vorne in Anstiege reinzufahren. Am letzten Berg gibt man dann alles, was noch übrig ist. Falls noch etwas übrig ist. Meine Marathon-Ergebnisse waren auch ein Grund dafür, dass ich heute Teil eines Profi-Continental-Teams bin, des KTM-Tirol-Teams. Der andere Grund sind die Ergebnisse eines Leistungstests. Und der dritte Grund: Zufall – beziehungsweise Glück. Denn ich bekam diesen Vertag, ohne je ein Lizenz-Radrennen gefahren zu sein.

Florian Lipowitz: Leistungstest und Taktik

Bei der Deutschen Meisterschaft im Sommer-Biathlon, an der ich teilnahm, traf mein Vater zufällig Dan Lorang am Streckenrand. Er ist Trainer im Team Bora-Hansgrohe. Mein Vater sprach ihn an und erwähnte, dass ich eventuell die Sportart wechseln möchte. Dan Lorang organisierte einen Leistungstest, bei meinem jetzigen Trainer, Peter Leo, der auch alle Athleten meines jetzigen Teams testet. Der Leistungstest war ein reiner VO2max-Test. Die maximale Sauerstoffaufnahme ist recht schlecht trainierbar, deshalb sagt sie viel über das Talent, das genetische Glück, aus. Mein VO2max-Wert liegt bei rund 80 Milliliter pro Kilogramm und Minute.

Eigentlich bin ich noch ein Radsport-Anfänger. Aber ich dachte mir: Ich probiere es, das mit dem Wechsel aufs Rennrad, wenn ich die Chance bekomme. Die Chance, in einem KT-Team zu fahren. Diese Chance habe ich bekommen, und ich bin sehr dankbar dafür. Auch wenn ich noch viel lernen muss. In Sachen Trainingssteuerung zum Beispiel – ich bin bislang ohne ein Powermeter am Rad gefahren. Das habe ich erst, seit ich im Team bin.

Und: Das Fahren im Feld, das Umgehen mit dieser Hektik, diese Kämpfe um gute Positionen – daran muss ich mich noch besser gewöhnen. Was ich aber wohl besser kann als andere ist, die Signale meines Körpers wahrzunehmen und zu verstehen. Natürlich haben die anderen Fahrer in meinem Alter mir gegenüber den Vorteil, dass sie alle seit vielen Jahren Rennen fahren. Sie kennen ihre Gegner, die Teams, die Taktiken, den Trainingsaufbau. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich sehr viel verpasst habe.

Die Rennen für Jugendliche sind fast immer flach. Oft kommt das Feld oder eine große Gruppe an – und die Sprinter gewinnen. Punkt. Ich finde es extrem schade, dass es in Deutschland fast nur flache Rennen gibt. Wie soll man da ein guter Berg- und Rundfahrer werden? Als Bergfahrer kann man kaum gute Ergebnisse holen. Ich mag die Berge. Ich mag es, wenn der Beste gewinnt. Und deshalb mag ich Radmarathons: weniger Taktik, weniger Sprints, mehr Ausdauer und Stärke.

Florian Lipowitz, Porträt, Radsport

 

Florian Lipowitz, Porträt, Radsport

 

Florian Lipowitz über sein erstes Lizenz-Rennen

Mein erstes Lizenz-Rennen war die Umag-Trophy in Kroatien. Ich stürzte – und wurde 102. Ein harter Beginn. Danach bin ich die Porec-Trophy gefahren. Dann kam Corona – und damit eine lange Zeit ohne Rennen. Bis zum Giro delle Regioni Friuli. Die erste Etappe war ein Teamzeitfahren, mein erstes überhaupt. In diesem Frühjahr saß ich überhaupt zum ersten Mal auf einem Zeitfahrrad. Vor dem Start war ich nervös. Denn wenn man da einen Fehler macht, schadet man nicht nur sich selbst, sondern dem ganzen Team. Doch zum Glück lief es ganz gut.

Sofort nach dem Start zur zweiten Etappe bin ich mit in die Fluchtgruppe. Die Strecke war wellig, mit vielen 100- bis 150-Höhenmeter-Anstiegen. Ich bin um die Bergpunkte gesprintet – und hatte am Ende das Trikot des besten Bergfahrers. Am nächsten Tag kam die Königsetappe mit zwei Pässen. Es fehlte nur wenig, um ganz vorne mit den Besten mitzufahren. Ich wurde zwölfter. Der letzte Tag war noch einmal extrem hart: Regen, Kälte, Rückenprobleme. Im Finale auf den letzten zehn Kilometern konnte ich mich nicht mehr ausbelasten. Ich wurde 14. der Gesamtwertung. Dafür, dass das meine erste große Rundfahrt war, bin ich sehr zufrieden.

Ausdauer und Intervalle

Als ich, ab dem Alter von 16 Jahren, immer mehr Rennrad und Radmarathons gefahren bin, hatte ich das Problem, dass mir nach drei, dreieinhalb Stunden die Power ausging. Erst ab 2018 wurde mein Rad-Training spezifischer. Im nächsten Sommer habe ich dann den Imster Radmarathon – 110 Kilometer, 2300 Höhenmeter – in 3:14:42 Stunden und den Engadiner Radmarathon – 214 Kilometer, 3800 Höhenmeter – in 6:09:32 Stunden gewonnen. 2019 bin ich den Ötztaler Marathon in 7:06 Stunden gefahren. Die meiste Zeit über war ich mit meinem Vater unterwegs. Er war nur zehn Minuten langsamer. Vor dem Start zum Ötztaler hatte ich in diesem Jahr rund 10.000 Trainingskilometer.

Taktisch laufen Radmarathons natürlich völlig anders ab als Amateur- und Profirennen. Viel einfacher, mit weniger Hektik, weniger Stress, weniger harten Antritten. Beim Engadiner Marathon blieb zum Beispiel die erste größere Gruppe von 20 bis 30 Fahrern rund 120 Kilometer lang  zusammen. Bis einige Fahrer auf die kurze Strecke abgebogen sind. Danach waren wir nur noch zu acht, neunt oder zehnt.

Dann kam der Flüela-Pass und es wurde schnell. Oben waren wir nur noch zu viert. Auf der Ebene haben wir gut zusammengearbeitet bis zum letzten Pass: dem Albula. Mathias Nothegger hat attackiert. Die anderen beiden Fahrer sind abgefallen – und auch ich hatte ein kleines Loch von vielleicht 50 Metern. Doch ich kam wieder hin. Die letzten 30 Kilometer waren flach. Wir sind zu zweit zusammengefahren. Das Rennen wurde im Sprint entschieden. Ich habe gewonnen. Vor dem Start hätte ich nie gedacht, dass ich um den Sieg mitfahren kann. Von den Leistungswerten her sind die Unterschiede zwischen KT- und Spitzen-Radmarathonfahrern gering. Die größten Unterschiede liegen darin, wie gefahren wird. In den Profi- und Amateurrennen wird, gefühlt, nach jeder Kurve angetreten. Man muss immer wieder hart beschleunigen. Und es ist viel mehr Hektik im Fahrerfeld. Manche fahren so, als gehe es um Leben und Tod.

Florian Lipowitz, Porträt, Radsport

„Ich finde es extrem schade, dass es in Deutschland immer weniger...“

Florian Lipowitz, Porträt, Radsport

"...und fast nur flache – Radrennen gibt."

Motivation: Leidenschaft

Von der reinen Ausdauer und von den reinen Wattwerten her fährt ein Spitzen-Radmarathonfahrer locker mit den besten Amateur- und KT-Fahrern vorne über lange Anstiege. Das ist mein Terrain. Ich liebe die Berge. Je länger ein Pass ist, desto besser. Mir bleiben jetzt noch zwei Jahre in der U23-Klasse – zwei Jahre, um mich für einen Vertrag bei einem WorldTour-Team zu empfehlen.

Ich konzentriere mich auf den Sport, und beginne zum nächsten Winter-Semester ein Fernstudium. Informatik. Die Zeit am Ski-Gymnasium Stams habe ich hinter mir. Mit meinen Matura-Prüfungen hatte ich Glück. In diesem Zeitraum fielen viele Rennen aus – deshalb konnte ich mich besser vorbereiten. Meine Durchschnittsnote ist ok: 2,0.

Meine Motivation: Leidenschaft. Und der Spaß am Radfahren. Der Sport gibt einem so viel zurück. Ich will in die WorldTour. Aber ich weiß, dass das nicht Viele schaffen. Man braucht einen Plan B. Ich würde nie alles auf eine Karte setzen. Denn dann ist man 25 Jahre alt und hat nichts als einen Schulabschluss. Klar haben andere in meinem Alter andere Prioritäten. Feiern, Tanzen, Alkohol, das Übliche. Aber ich war noch nie jemand, der das gebraucht hat. Das gibt mir nichts. Ich habe nicht das Gefühl, auf etwas zu verzichten. Ein Leben ohne Sport kann ich mir nicht vorstellen. Solche Erlebnisse und Erfahrungen macht man sonst nirgends. Man kann extrem gut abschalten. Man erlebt die Natur. Ich brauche das. Bewegung und Natur. Und dieses Gefühl danach. Dieses Gefühl abends nach einem harten Training – diese Zufriedenheit. Dieses Gefühl in den Muskeln. Es ist fast schon eine Sucht.“

Dieser Artikel erschien in der RennRad 4/2021. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.


Das Tirol KTM Cycling Team

Die Equipe umfasst 2021 zwölf Fahrer im Alter von 18 und 21 Jahren. Es wurde von Thomas Pupp und dem österreichischen Ex-Profi Georg Totschnig als U23-Mannschaft gegründet. Seit 2008 hält man eine UCI-Continental-Lizenz. „Wir wollen unsere Fahrer bei ihrem Ziel und ihrem Traum als Profi, für ein Worldtour-Team zu fahren, unterstützen. Das ist eines unserer großen Ziele. Dass uns das heuer gleich mit drei Fahrern gelungen ist, sprengt alle unsere Erwartungen“, sagte Thomas Pupp, der bereits als SPÖ-Abgeordneter im Tiroler Landtag saß, nach der Saison 2019.

Damals erhielten gleich drei junge Fahrer seines Teams Verträge bei WorldTour- beziehungsweise ProTour-Mannschaften: Patrick Gamper wechselte zum Team Bora-Hansgrohe, Nicolas Dalla Valle zu Bardiani und der Deutsche Georg Zimmermann zum Team CCC. Zimmermann hatte in dieser Saison unter anderem das Bergtrikot bei einem der großen Saison-Highlights der Equipe gewonnen: der Österreich-Rundfahrt.

Zu den vielen weiteren aktuellen Profis, die einst für das Tiroler Team fuhren, zählen unter anderem: Lukas Pöstlberger, Patrick Konrad, Michael Gogl und Patrick Schönberger. Weitere Informationen: www.ridewithpassion.tirol

Florian Lipowitz, Porträt, Radsport

 

Florian Lipowitz, Porträt, Radsport

 


Sportinternat: Der Tagesablauf

  • 06:45 Uhr Aufstehen
  • 07:00 Uhr Frühstück
  • 07:50 Uhr Schulbeginn
  • 13:00 Uhr Mittagessen
  • 14:00 Uhr Training
  • 17:30 Uhr Trainingsende
  • 18:00 Uhr Abendessen
  • 19:00 Uhr Laufrunde oder Hausaufgaben

„Im Sommer ist auch samstags Schule, aber im Winter haben wir dagegen häufiger freie Tage. Zum Beispiel eine ganze Woche lang einen Trainingslehrgang. Während der Hauptsaison haben wir nur bis Donnerstag Schule, denn freitags ist in der Regel der Anreisetag zu Wettkämpfen.“ Florian Lipowitz

Romain Bardet: Tour-de-France-Hoffnung in neuem Team

Romain Bardet, Tour de France, Porträt

Die Lacets du Montvernier – einer der schönsten, der spektakulärsten Anstiege der französischen Alpen: Die engen Serpentinen zu den Seen hinauf sind der Ort, an dem Romain Bardet seinen ersten großen Erfolg als Profi feiert: 2015, mit 24 Jahren, gewinnt er mit einer Attacke an diesem Anstieg seine erste Tour-Etappe. Bereits im Jahr zuvor wurde er Sechster der Gesamtwertung. Doch dieser Sieg zeigt: Romain Bardet kann eines Tages die Tour de France gewinnen. Das hoffen viele Radsportfans in Frankreich, die seit dem Sieg Bernard Hinaults 1985 auf einen französischen Sieger der Grande Boucle warten.

Sie warten auch sechs Jahre später noch. Romain Bardet wurde je Zweiter und Dritter der Gesamtwertung, und zweimal Sechster. Er gewann 2019 das Bergtrikot – doch er konnte sich nie das Gelbe Trikot überstreifen.

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Romain Bardet: Der nächste große Star?

Die Fans feiern ihn dennoch als den nächsten großen Star. Er verkörpert alles, was sie schätzen:  Kampfgeist, Aggressivität, Leid, Scheitern – Triumph und Tragik. Wie im Jahr 2017, als er im abschließenden Zeitfahren einbricht und beinahe noch den dritten Platz an Mikel Landa verloren hätte. Oder im vergangenen Jahr, als er in einer aussichtsreichen Position in der Gesamtwertung liegend stürzt und mit einer Gehirnerschütterung aufgeben muss.

Romain Bardet gewinnt nicht häufig. Er ist oft „dabei“, bei den besten. Die Hoffnungen und Erwartungen, die die Fans und die Öffentlichkeit in Bardet setzen, bleiben dennoch hoch. Auch wenn er inzwischen kein Talent mehr ist, sondern ein 30-jähriger reifer Fahrer.

Neun Jahre lang fuhr er für eines der traditionsreichsten französischen Teams, AG2R. Zur Saison 2021 wechselte er nun erstmals die Equipe, hin zu dem deutschen Team DSM. „Ich wurde schon früh in die Leaderrolle gedrängt“, sagt Bardet. „Ich konnte mich nie im Schatten anderer entwickeln. Im Team DSM kann ich nicht nur ruhiger und präziser arbeiten, sondern auch Rennen fahren, bei denen ich dem Team helfe, ganz ohne persönlichen Ehrgeiz.“

Rundfahrten und Klassiker

„Er ist ein großartiger Fahrer, der viele Möglichkeiten, vielseitige Qualitäten und ein sehr gutes Palmarès vorzuweisen hat. Er wird in einer Vielzahl von Rennen eine großartige Ergänzung für unser Team sein“, sagt der DSM-Teammanager Iwan Spekenbrink über seinen Neuzugang.

Bardet ist ein Rundfahrer, ein Bergspezialist mit Schwächen im Einzelzeitfahren. Er ist bei einer Größe von 1,84 Metern 64 Kilogramm leicht. Doch seine Ergebnisse bestätigen, dass der Franzose vielseitiger ist, als diese Einschätzung vermuten lässt. 2018 wurde er Zweiter in dem – sehr schweren – WM-Rennen von Innsbruck.

Mehrmals erreichte er die Top-Ten beim Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich. Im vergangenen Jahr nahm er erstmals an einem Kopfsteinpflaster-Klassiker teil, der Flandernrundfahrt – und wurde 25. Dies sind mehr als achtbare Platzierungen für einen vermeintlich „reinen“ Bergspezialisten. Neue Rennen, neue Ziele, neue Erfahrungen: Romain Bardet begann im Vorjahr, sich als Rennfahrer neu zu definieren, etwas zu verändern. Mit dem Teamwechsel will er nun den kompletten Neustart. Tabula rasa.

Romain Bardet, Tour de France, Porträt

Hoffnungsträger des französischen Radsports: Romain Bardet

Romain Bardet: Wechsel als „Schub“?

„Ich landete in einer Routine, die mir nicht mehr gefiel. Ich musste ein Risiko eingehen, mit einem Neuanfang und einem Schub für meine Karriere“, sagt der 30-Jährige. Er wolle sich jetzt erst einmal auf die Grundlagen besinnen und daran arbeiten, sich als Athlet insgesamt noch einmal zu verbessern. „Das Team setzt auf mich und meine Erfahrung. Aber ich bin nicht mehr der einzige Leader im Team.“

Der Effekt für ihn: weniger Druck, weniger Verantwortung. Gerade bei jenem Rennen, über das er seine Karriere bislang definierte: die Tour de France. Sie bedeutete für Romain Bardet vor allem eines: Stress. Mehr noch als für die anderen Fahrer im Peloton. Ob er um das Podium fuhr oder nicht – er war im Fokus der Öffentlichkeit. Er, der Hoffnungsträger der Nation. Auch als Julian Alaphilippe und Thibaut Pinot in einem ähnlichen Maß von der Sehnsucht einer Nation mitgerissen wurden, blieb das Interesse an Bardet hoch. Mit drei Etappensiegen und zwei Podiumsplatzierungen in Paris ist seine Bilanz sicher nicht enttäuschend – wenn man bedenkt, dass er insgesamt „nur“ sieben Rennen in seiner Karriere gewinnen konnte. Allesamt in Frankreich.

Völlig anderes Rahmenprogramm

In diesem Jahr wird sein Rennprogramm völlig anders aussehen: Bardet wird sich nicht auf die Tour, sondern auf den Giro d’Italia und die Vuelta konzentrieren. Zum ersten Mal seit 2012 wird er nicht bei der Grande Boucle starten. Beim Giro wird er wohl der Kapitän seines Teams sein. Eventuell wird er sich die Leaderrolle dort mit dem Vorjahreszweiten Jai Hindley teilen.

Durch die Abgänge von Wilco Keldermann zu Bora-Hansgrohe und Marc Hirschi zum UAE-Team-Emirates werden von ihm wohl auch bei seinem neuen Team DSM Erfolge erwartet werden. Doch die Umstände sind in diesem Jahr andere. Romain Bardet wirkt befreit.

Bei seinem ersten Rennen für das Team DSM, dem Klassiker Omloop Het Nieuwsblad, stellte er sich in den Dienst seiner Teamkollegen: Er leistete Nachführarbeit, um eine Spitzengruppe einzuholen. Und fuhr als 62. über die Ziellinie. Romain Bardet mag Deutschland, vielleicht gab auch dies den Ausschlag für das Team DSM, das mit einer deutschen Lizenz fährt.

Bardet hat künftig acht deutsche Teamkollegen, mit denen er sein Deutsch weiter verbessern kann. Als Jugendlicher war er zum Schüleraustausch in Leipzig und lernte später an der Wirtschaftsschule die Sprache des Nachbarlandes. „Die deutsche Sprache ist sehr schwer, man sollte sie öfter üben“, sagt Bardet, der als einer von wenigen Radprofis während seiner Karriere ein Studium absolvierte: Er erarbeitet sich an der Universität Grenoble einen Masterabschluss in BWL. Die finalen Prüfungen fanden kurz nach dem Zieleinlauf der Tour de France 2016 statt – nach seinem zweiten Platz. Seinem wohl größten Erfolg. Bislang.

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Styrkeprøven: Radmarathon von Trondheim nach Oslo

Styrkeprøven, Trondheim - Oslo, Reportage

Ich sehe, dass sie noch da sind – doch ich spüre sie nicht: meine Finger. Seit Stunden fühlten sie sich an wie Fremdkörper, wie Eisblöcke. Erst kam das Zittern, dann der Schmerz. Jetzt fühle ich nichts mehr. Es ist bald Mitternacht. Es regnet seit dem Start. Wir sind irgendwo in Norwegen und fahren mit dem Rennrad durch die nasse Kälte. Unser Ziel: Oslo. Die Distanz: 540 Kilometer. Wir haben ein Fünftel der Strecke geschafft – und noch die halbe Nacht, viel Regen und Kälte vor uns. Die Sonne geht nicht unter, es ist Mittsommer in Norwegen. An einem Tag mit klarem Himmel ist es auch nachts nicht dunkler als zu Hause in Deutschland, wenn es dämmert. Doch jetzt erscheint die Landschaft in einem dunklen Grau. Die Regenwolken lassen kaum Licht vom Himmel auf die Straßen vor uns fallen. Die Akku-Lampen schicken von unseren Lenkern Lichtkegel auf den vor uns liegenden Asphalt. Wir haben noch so viel vor uns – es kann von hier aus nur einfacher werden. Oder? Wenn nur endlich dieser Regen aufhören würde. So hatten wir uns unser Norwegen-Abenteuer bei der Styrkeprøven nicht vorgestellt.

Damals, vor einem Jahr, als wir wieder einmal an einem Wochenende stundenlang im Auto saßen, auf dem Weg zu einem Radrennen. Wir sprachen darüber, was wir erreichen, was wir erleben wollten. Wir wollten an unsere Grenzen gehen. Wie in jedem Radrennen. Doch wir wollten mehr: Wir wollten etwas Besonderes erleben. Für uns beide war klar: Wir suchten neue Herausforderungen, Abenteuer. Etwas Neues, etwas Fremdes. Ein Rennrad-Erlebnis, das wir uns bisher nicht vorstellen konnten. Wir überlegten, was das verrückteste, härteste und schönste Rennen wäre. Uns fiel sofort ein Name ein – und unser Plan stand fest.

Styrkeprøven: Pläne und Abenteuer

Styrkeprøven, „die große Kraftprobe“. Von Trondheim nach Oslo. 540 Kilometer am Stück – eine Nonstop-Distanz, die selbst als Bilanz einer ganzen Trainingswoche beeindruckend wäre. Und dazu: Norwegen zum Mittsommer, wenn die Sonne nie ganz untergeht. Wenige Tage danach meldeten wir uns an. 540 Kilometer am Stück, auf dem Rennrad – das klingt extrem. Wir wussten nicht, worauf wir uns mit der Anmeldung zum Langstreckenrennen Trondheim-Oslo eingelassen hatten. Wir wollten nur unser Bestes geben. Doch unsere Vorbereitung dafür war wohl eher gewöhnlich. Denn: Wir fahren Lizenzrennen. Diese sind meist zwischen 60 und 130 Kilometer lang, oder, in diesem Fall: kurz. Das Training dafür lässt sich mit unserem normalen Alltag, dem Studium und der Arbeit gut kombinieren.

Dieses normale Training musste reichen. An Wochentagen war es schwierig, neben dem Studium und dem Beruf lange Einheiten mit vielen Kilometern zu fahren. An den Wochenenden absolvierten wir längere Einheiten mit Distanzen von etwa 100 Kilometern. Wichtig für uns war es auch, einige ganz lange Einheiten zu fahren, um uns auf die Utra-Distanz vorzubereiten. Diese standen aber nicht zu oft auf dem Plan, um den Körper nicht zu sehr zu beanspruchen und Pausen zur Regeneration zu lassen.

Styrkeprøven, Trondheim - Oslo, Reportage

„Um 21 Uhr machen wir uns bereit zum Start – für 540 Kilometer, für das bisher mit Abstand längste Rennen unseres Lebens.“

Nerven bewahren

Trotzdem gab es die eine oder andere Einheit mit mehr als 300 Kilometern, um die Verdauung und auch die Sitzposition an eine solch lange Distanz zu gewöhnen. Was wir leider nicht geschafft haben, was aber wirklich wichtig gewesen wäre: eine gemeinsame lange Einheit zu fahren.

Denn um eine derart lange Distanz gemeinsam zu bestehen, sollte man auch unter psychisch kritischen Bedingungen zusammenhalten und die Nerven bewahren können. Wir wussten beide, dass wir uns gut verstehen – aber ob wir diese Situation ohne Streit meistern würden, war uns nicht klar. Der Tag der Styrkeprøven rückt näher. Wir verbringen immer mehr Zeit damit, Erfahrungsberichte zu lesen. Was erwartet uns? Gibt es noch letzte Tipps von erfahrenen Startern, von denen wir profitieren können?

Start in der Nacht

Wir lesen von Hungerästen, von Halluzinationen, von extremer Kälte, von 400 Kilometern im Regen, von Stürzen. Wir finden Geschichten, die an Horrorfilme erinnern. Wir wollten ein Abenteuer, einen unvergesslichen Tag auf dem Rennrad. In die Vorfreude mischt sich beinahe Angst. Der Respekt vor der Herausforderung wächst. Haben wir uns zu viel vorgenommen? Unsere Zuversicht sinkt eine Woche vor dem Rennen. Denn der Blick auf den Wetterbericht lässt uns das Schlimmste erwarten. Die Aussichten: Dauerregen und zehn Grad Celsius beim Start in Trondheim.

Wir waren nicht so naiv zu glauben, dass wir es komplett ohne Regen schaffen würden. Denn: Der Regen gehört zur Styrkeprøven. Kaum eine Erzählung über die 540-Kilometer-Distanz kommt ohne Regenschauer und totale Durchnässung aus. Was wir ebenso nicht unterschätzen: Die fast 4000 Höhenmeter, die auf der Distanz zu überwinden sind.

Wir beginnen also, alles an wärmender Radsportbekleidung zusammenzusuchen und zu überlegen, wie wir die Nässe und die Kälte möglichst lange vom Körper fernhalten können. Unterdessen werden während der letzten Tage vor dem Event die Wettervorhersagen immer schlechter. Als wir in Trondheim ankommen, hat sich das Wetter schließlich doch noch einmal gebessert. Zwar soll es zum Start regnen – doch auf dem Weg nach Oslo soll das Wetter immer besser werden. Für den erwarteten nassen Start werden wir noch Regenüberschuhe benötigen, dazu Ersatzbeinlinge und Regenschutz-Kappen, die wir über unsere Helme ziehen – alles, was uns trocken hält.

Vorteil Campingbus

Glücklicherweise haben wir einen Campingbus als Begleitfahrzeug dabei. Sofies Mutter fährt den Bus und begleitet uns auf der Strecke. Der Vorteil ist riesig, das wissen wir schon vorher. Wir werden jederzeit die Kleidung wechseln können. Und: Es gibt immer genügend Kuchen.

Wie verbringt man den Tag vor einem 540-Kilometer-Rennen? Wir verhalten uns wie in einem Campingurlaub – an einem Urlaubstag mit Temperaturen von zwölf oder 13 Grad Celsius, ohne viel Sonnenschein. Wir spazieren in die Innenstadt mit den kleinen Holzhäusern, manche von ihnen stehen auf Pfählen über dem Wasser des Fjords. Wir trinken Kaffee, und essen die, Zurecht, berühmten Kannelboller, Zimtschnecken.

Stunden im Regen

Was uns am meisten begeistert: ein Fahrradlift. In Trondheim ist es relativ flach – nur kleine Hügel durchziehen das Stadtgebiet. Doch ein größerer Anstieg führt vom Fjord auf einen Hügel. Wer sich die Auffahrt mit dem Fahrrad ersparen will oder es mit eigener Kraft nicht schafft, nimmt einfach den kostenlosen, 130 Meter langen Fahrradlift, genannt Sykkelheisen Trampe. Man bleibt dabei auf dem Rad sitzen und stellt den rechten Fuß auf die Metallplatte an der Gehsteigkante. Die Platte wird durch ein Zugseil in der Schiene nach oben gezogen – und mit ihr der Radfahrer. Praktisch – und vor allem sehr spaßig.

Spät am Nachmittag sind wir müde und gehen zurück zum Camper. Draußen wird es kühler, die Wolken werden mehr, drinnen ist es schön warm und gemütlich – ein perfekter Abend, um früh schlafen zu gehen.

Styrkeprøven, Trondheim - Oslo, Reportage

„Es regnet, es ist kalt: vier Grad Celsius. Unsere Zehen spüren wir schon nach 40 Kilometern nicht mehr. Was uns jetzt hilft: warme Rinderbrühe an der ersten Verpflegungsstation.“

Das längste Rennen unseres Lebens

Ein gemütlicher Abend eines Tages in einem Campingurlaub? Nicht heute. Denn um 21 Uhr bereiten wir uns nicht auf den Schlaf vor – sondern auf das bisher mit Abstand längste Rennen unseres Lebens. Schlaf wird es erst in der nächsten Nacht wieder geben. Nach einem Abenteuer, das uns bereits vor dem Start immer absurder erscheint. Die Aufregung und die Freude steigen jetzt mit jeder Minute, die bis zum Start vergeht.

Erst kurz vor dem Start legen wir alle Wechselklamotten bereit und entscheiden uns, mit welcher Bekleidung wir in die 540-Kilometer-Distanz starten. Trotzdem sind wir früh genug am Start. Und wir sind aufgeregt. Kreuz und quer fahren wir durch Trondheim, bis wir endlich herausfinden, wo wir uns an den Start stellen müssen. Sind wir hier richtig? Wir sehen ein sehr unterschiedliches, gemischtes Fahrerfeld, das in wenigen Minuten auf die Strecke eines der längsten Radmarathons der Welt geht.

Wir sehen Soldaten mit einfachen Fahrrädern, ältere Männer mit Zeitfahrhelm und aerodynamischen Zeitfahranzügen, dazwischen Frauen und Männer mit einfacher Fahrradbekleidung und normalen Rennrädern, wie sie am Start eines jeden Radmarathons zu sehen sind. Mittendrin stehen wir: Zwei junge Deutsche, die sich wie alle anderen der großen Kraftprobe stellen. Die der Wille antreibt, diese zu meistern. Aber: Ob wir hier wohl eine Gruppe finden, mit der wir große Teile der Strecke gemeinsam fahren können?

Styrkeprøven: Der Start

Wir reisten ohne Erwartungen nach Norwegen. Wir hatten keine Pläne, wie lange oder wie schnell wir unterwegs sein wollten. Doch ganz allein fahren wollen wir nicht. In einer Gruppe kann man sich Windschatten spenden – und ist viel schneller. Fast überhören wir das Startsignal. Denn die Durchsagen sind auf Norwegisch. Wir registrieren erst dann, dass es losgeht, als sich alle um uns herum in Bewegung setzen. Wir klicken in die Pedale und rollen los, genau wie rund 90 andere Starter um uns herum.

Während der ersten Meter rollen wir gemütlich durch Trondheim. Doch schon nach wenigen Minuten werden wir ungeduldig. Die von der Gruppe angeschlagene Geschwindigkeit von 26 km/h erscheint uns zu langsam für die 540 Kilometer, die wir noch vor uns haben. Unser Gedanke: Wenn wir weiterhin so langsam vorankommen, kommen wir nie an. Also überholen wir Fahrer um Fahrer, sobald wir die Stadt verlassen.

Dann schauen wir uns um – und sind allein. Da wir die erste Startgruppe bildeten, realisieren wir, dass wir an der Spitze sind. Wir führen sozusagen den Marathon an. Wir sind ganz vorne bei Trondheim-Oslo. Uns ist klar, dass das eine Momentaufnahme ist – aber wir genießen sie. Vor uns fährt mit Blaulicht das Führungsfahrzeug der Riesen-Veranstaltung. Hinter uns befindet sich ein Motorrad des Veranstalters.

Immer wieder Windschatten

So geht es erst einmal dahin, ab und zu kommen Gruppen, mit denen wir uns die Arbeit im Wind teilen können. Wir haben also immer wieder Windschatten und können etwas Kraft sparen. Doch als erste große Kraftprobe erweist sich der Regen. Denn Tropfen fallen vom Himmel, immer dickere und es werden immer mehr.

Wenigstens geht es jetzt bergauf – durch die Anstrengung frieren wir nicht sofort. Die Anstiege kommen uns angenehm vor. Meist ist die Steigung gemäßigt, wir fahren mit 16 bis 18 km/h bergauf. Doch die Nässe und die Kälte setzen sich durch. Die Finger werden immer kälter, die Zehen spüren wir nun schon lange nicht mehr. Aber die Stimmung ist weiterhin gut. Und das, obwohl der Regen immer stärker wird. Die Temperatur sinkt immer weiter. Den Weg bis zur ersten Verpflegungsstation nach 62 Kilometern bringen wir schnell hinter uns. Dort gibt es warme Rinderbrühe, die das bewirkt, was wir uns von ihr erhofft haben: Sie wärmt uns von innen. Zumindest ein wenig, zumindest für kurze Zeit. Dann geht es weiter, stetig bergauf.

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Rhythmus

Damit kommen wir zurecht – wir finden und halten unseren Rhythmus. Doch ebenso zuverlässig wie die Steigung ist der Regen. Er setzt uns immer mehr zu. Unsere Kräfte schwinden. Gegen Mitternacht haben wir mehr als 100 Kilometer geschafft. Wir erreichen die nächste Verpflegungsstation – gerade rechtzeitig. Wir sind inzwischen komplett durchnässt. Am Fahrradcomputer lesen wir die Temperatur ab: ein Grad Celsius. Wir sind nahe am Gefrierpunkt und genauso fühlt es sich an. Unsere Zehen und Finger spüren wir kaum mehr. Dabei hat unsere Fahrt erst begonnen: Noch gut 440 Kilometer sind es bis ins Ziel.

Wir entscheiden uns dazu, unsere Bekleidung zu wechseln. Wir steigen in unser Begleitfahrzeug und ziehen uns um. Wir packen uns ein in warme, wasserdichte Jacken und Hosen. Dies ist eine Erfahrung, die wir bisher noch nicht machen mussten. Doch nun wissen wir, wie viel Überwindung es kostet, durchgefroren und ohne Schlaf im Morgengrauen bei Regen wieder auf sein Fahrrad zu steigen – mit der Aussicht auf einige hundert Kilometer mehr, auf eine Fahrt, die noch bis zum Abend dauern wird.

Wir motivieren uns mit Musik und unserer weiterhin guten Laune. Wir beschwören uns selbst, dass wir es schaffen werden. Dass es eigentlich noch gut vorangeht. Schwieriger als bisher können die Bedingungen kaum werden: Noch kälter und feuchter geht es wohl nicht. In dieser Situation wird uns auch klar: Wir sind nicht allein. Wir sind hier zu zweit, wir sind ein Team. Uns wird klar, wie wichtig es ist, eine Leidenschaft zu teilen. Wie wichtig Freundschaft ist.

Berge und Sonne

Nach knapp sechs Stunden Fahrzeit und 170 Kilometern sehen wir die ersten hellen Flecken auf dem Asphalt vor uns. Die Sonne stimmt uns euphorisch. Die Geschwindigkeit steigt. Wir schauen auf die Anzeige unserer Durchschnittsgeschwindigkeit und versuchen sie zu steigern. Stundenlang sind wir im Spritzwasser anderer Fahrer vor uns gefahren. Jetzt regnet es nicht mehr. Langsam beginnt die Straße zu trocknen.

Und wieder wird es Zeit, gemeinsam mit unserem Begleitfahrzeug anzuhalten. Wie viele andere Starter haben wir das große Glück, diese Art der Unterstützung zu haben. Wir halten an und tauschen unsere durchnässten Klamotten gegen frische trockene Kleidung. Nach dem Stopp geht es uns sofort besser. Alles ist jetzt besser. Es ist, als hätte der Regen uns von der Landschaft, von der Natur getrennt. Erst jetzt nehmen wir richtig wahr, was uns umgibt.

Norwegen ist unglaublich schön: die Berge, die Hügel, die Wälder, die Seen. Die Strecke zwischen Trondheim und Oslo ist nicht nur extrem lang, sondern auch abwechslungsreich und kurzweilig. Der Regen und die dichten Wolken hatten diese Schönheit lange versteckt. Jetzt scheint die Sonne auf uns herab. Als die ersten hellen, warmen Strahlen die Wolkendecke über den Bergspitzen durchbrechen, vergessen wir für einen kurzen Moment, dass wir noch lange nicht am Ziel sind.

Wir erreichen ein Hochplateau, zu dessen Füßen eine wunderschöne Landschaft liegt. Die Berggipfel in der Ferne sind schneebedeckt. Immer wieder fahren wir während dieser 540 Kilometer an Seen vorbei, deren blaues Wasser mit den grünen blühenden Bäumen ab Lillehammer in großem Kontrast zum dunklen Grau der Nacht stehen. Die Anblicke während unserer kleinen Reise sind berauschend. Vor uns liegt eine lange Abfahrt. Das bedeutet: Geschwindigkeit.

Kaffee, Brühe, Kuchen, Waffeln

Am Ende der Abfahrt folgt die nächste Verpflegungsstation. Im Zelt finden wir andere Teilnehmer, die ihre kalten Füße und Finger vor elektrische Wärmestrahler halten und warme Suppe schlürfen. Auch wir frieren. Unsere Füße und Finger fühlen sich an wie Eiszapfen. Wir verlängern die Pause und versuchen, uns aufzuwärmen. Das Wichtigste ist jedoch in dieser Situation: Nicht zu lange sitzen bleiben, um nicht zu müde zu werden – wir sind schon fast neun Stunden unterwegs und es ist 7.30 Uhr morgens.

Darum fahren wir bald weiter. Es folgen die ersten kleineren Rückschläge. Anders als erwartet bilden sich nur wenige Gruppen. Lange Zeit über finden wir keine oder nur einzelne Begleiter. So müssen wir einen Großteil der Strecke zu dritt zurücklegen. So sind wir zwar sicher unterwegs, weil wir uns vertrauen und weil wir keine plötzlichen Bremsmanöver oder Ähnliches von den Begleitern befürchten müssen. Es bedeutet aber auch: weniger Windschatten, also mehr Arbeit, mehr Energieverbrauch. Werden unsere Energiereserven ausreichen?

Wir kämpfen uns von Verpflegungsstation zu Verpflegungsstation – oft allein, manchmal in einer Gruppe. Im Abstand von etwa 50 Kilometern erreichen wir Verpflegungspunkte, an denen wir immer wieder anhalten, essen und trinken. Es gibt: Suppe und belegte Brote, Kaffee und Säfte. Aus dem Auto werden wir mit Waffeln und Kuchen versorgt. Je weiter wir Richtung Oslo fahren, desto wärmer wird es. Es kommt uns so vor, als würde die Zeit nun immer schneller vergehen. Das liegt vor allem daran, dass die Bedingungen immer besser werden. Aber auch, weil wir uns Oslo immer mehr nähern.

Und sicherlich liegt es auch daran, dass wir wegen unserer zunehmenden Müdigkeit nicht mehr alles genau wahrnehmen, was um uns herum geschieht. Es kommt uns vor, als würden wir halb schlafend auf dem Rad sitzen. Wie automatisch pedalieren unsere Beine.

Styrkeprøven, Trondheim - Oslo, Reportage

Die Styrkeprøven führt von Trondheim nach Oslo

Verpflegungspunkt Kvitfjelltunet

Immer öfter sehen wir an den Verpflegungspunkten Fahrer, die auf den Feldbetten liegen und schlafen. Nach 307 Kilometern, am Verpflegungspunkt Kvitfjelltunet, legen wir eine längere Pause ein. Die Temperatur ist deutlich gestiegen – auf 15 Grad Celsius. Es kommt uns sogar warm vor. Wir fahren in kurzen Hosen und in Trikots mit kurzen Ärmeln.

Wir beschließen aber, wach zu bleiben beziehungsweise: uns wach zu halten, indem wir essen. Wie seit vielen Stunden gibt es Waffeln und Kuchen, dazu warmen Tee. Für uns ist klar: Sobald wir nur ein Auge zumachen, werden wir keine Motivation mehr finden, wieder auf das Rad zu steigen und weiterzufahren.

Für einige Minuten ist es, als wären wir wieder Kinder: Wir sitzen uns gegenüber und klatschen uns ab. So halten wir uns warm und müssen uns konzentrieren. Und: Wir vergessen, wie müde wir inzwischen sind. Auf dem weiteren Weg bemerken wir aber, wie unsere Konzentration immer weiter nachlässt. Wir fahren jetzt vorsichtiger, halten etwas mehr Abstand. Und vor allem strengen wir uns an, nicht auf den Rädern einzuschlafen. Dann, irgendwann, ist es, als würde die Müdigkeit langsam von allein verschwinden. Nach 380 Kilometern haben wir das Gefühl, die Müdigkeit überstanden zu haben.

Wieder bemerken wir, wie wichtig unsere Freundschaft, unsere Vertrautheit ist. Witze, Anekdoten, Diskussionen – unsere Gesprächsthemen reichen für hunderte von Kilometern. Wir sind uns sicher, diese Kraftprobe mental zu überstehen. Die Gewissheit, es zu schaffen, beginnt zu überwiegen. Auch wenn noch lange nicht klar ist, ob wir noch genügend Energie für die letzten 160 Kilometer haben. Immer wieder kommen wir an Häusern vorbei, deren Vorgärten bunt von den vielen blühenden Blumen sind.

Neue Energie

Ungefähr 150 Kilometer vor dem Ziel werden wir von einer Gruppe deutschsprachiger Fahrer eingeholt. Wir unterhalten uns und beschließen, den letzten Teil der Strecke gemeinsam zu bestreiten. Beim letzten Stopp stärken wir uns mit frischem Rhabarbersaft. Es ist, als hätte dieser bei allen neue Energie freigesetzt. Das Tempo steigt nun immer weiter an, wir kommen dem Ziel näher. Und vor allem wollen wir endlich ankommen.

Doch die Strecke mit vielen kleinen Hügeln ist nochmals anspruchsvoll. Das Tempo der Gruppe bleibt mit durchschnittlich 34 km/h hoch. Wir fahren schneller, als wir es ohne die Gruppe tun würden. Viel schneller. Wir spüren Laktatschmerzen in den Beinen – nicht gerade eine typische Situation für ein 540-Kilometer-Ausdauer-Rennen. Der Schmerz und die Erschöpfung sind in dieser konzentrierten Mischung eine extreme Herausforderung, wie wir sie uns am Abend zuvor nicht vorstellen konnten.

Styrkeprøven, Trondheim - Oslo, Reportage

Erlebnisse und Beobachtung bei der Styrkeprøven

Der letzte Abschnitt der Styrkeprøven

Doch die Motivation, den letzten Abschnitt schnell zu schaffen, ist hoch. Es ist hart. Aber wir können die Gruppe halten, um am letzten flachen Streckenabschnitt vom Windschatten zu profitieren. Die letzten 30 Kilometer verlaufen auf der Autobahn. Ein Streifen ist abgesperrt und für die Radfahrer der Styrkeprøven reserviert. Was für ein Erlebnis – eine Autobahn, nur für uns abgesperrt. Damit wir hier mit dem Rennrad fahren können. Dies wäre in Deutschland wohl völlig undenkbar.

Hier in Norwegen ist dieses Event, dieser lange, sehr lange, immer helle, immer harte Tag auf dem Rad ein Heiligtum. Am Ende versuchen wir, das Tempo nochmals anzuziehen. In der Gruppe schaffen wir es, die letzten Kräfte zu mobilisieren. Nach 18 Stunden und 25 Minuten erreichen wir mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 29,4 km/h das Ziel. Überglücklich kommen wir in Oslo an.

Wir sind hungrig, aber wir wünschen uns nach all dem Kuchen, den Brötchen und den Riegeln etwas anderes, Salzigeres, Gesünderes, etwas Frisches, mit Gemüse und Obst, am besten einen Salat. Doch im Ziel gibt es nur Pizza und Bier – und das schmeckt dann doch. Wir fahren zum nächsten Campingplatz und duschen. Dann gibt es endlich einen großen Salat mit Nüssen. Wir sind erschöpft und überglücklich. Endlich im Sitzen und in Ruhe essen. Ohne zu pedalieren, ohne Hand am Lenker.

Schmerz und Müdigkeit

Mit Messer und Gabel. Auch nach einer Nacht erscheint es uns noch  surreal, dass es jetzt vorbei sein soll. War es das jetzt wirklich? Ist es tatsächlich schon vorbei? Der Schlafentzug, die Nässe, die Kälte und die langen Anstrengungen hatten die Distanz irgendwann beliebig gemacht. Hätten wir weitere 100 Kilometer geschafft? Gar 200? Haben wir unsere Grenzen erreicht, sind wir über sie hinausgewachsen? Vielleicht ginge ja noch mehr.

Die Rückfahrt nach Deutschland ist lang. Es ist wie eine lange Autofahrt nach einem Radrennen, an einem der vielen Wochenenden im Jahr. Wie immer überlegen wir, was wir erleben und schaffen wollen. Abenteuer, Herausforderungen. Wir holen unsere Handys raus. Wir sind wieder auf der Suche – auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Nach der nächsten Kraftprobe. Was ist noch möglich?

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Styrkeprøven: Trondheim – Oslo

Der Name „Styrkeprøven“ bedeutet „Kraftprobe“. Die Veranstaltung in Norwegen zählt zu den größten und ältesten Radmarathons der Welt – und zu den härtesten. Seit der ersten Austragung im Jahr 1966 fand die Styrkeprøven bisher in jedem Jahr statt. 2019 war somit die 53. Austragung. 2020 musste das Event erstmals abgesagt werden. Im Jahr 2021 soll das Event vom 18. bis zum 20. Juni stattfinden. Gestartet wird, je nach der erwarteten Zielzeit, zwischen Freitagabend und Samstagmorgen.

Die Styrkeprøven wird traditionell zur Mittsommersonnenwende veranstaltet. In Norwegen sinkt die Sonne zu dieser Zeit nicht unter den Horizont – es wird also nie vollständig dunkel. Es werden sechs verschiedene Distanzen angeboten. Die seit 2016 angebotene Styrkeprøven Women Vélo ist ausschließlich für Frauen.

Die kürzeste Distanz startet in Eidsvoll und führt über 62 Kilometer, die längste Strecke verläuft über 540 Kilometer und 3627 Höhenmeter von Trondheim im Norden nach Oslo im Süden. Alle Strecken enden in Oslo.

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Fahrerinnen und Team

Betti Eder, 28 Jahre, Studentin, wohnt in Waging am See in Bayern. Früher war Radfahren für sie nur ein Mittel – zum Ausdauertraining als Mitglied der Ski-Nationalmannschaft. Nach dem Ende der Wintersport-Karriere wurden bei den Maloja Pushbikers FEM die Leidenschaft und die Ambitionen größer.

Sofie Mangertseder, 23, Studentin: Vor zehn Jahren, mit 13, begann ihre Radsportkarriere, mit Straßen- und Bahnrennen in Deutschland und auch international. Nach der Schule stand schnell fest:  Radsport in der Frauenklasse und ein 40-Stunden-Job sind schwer zu kombinieren. Dann kam die Erkenntnis: Radfahren kann man auch einfach zum Spaß – ohne strikten Trainingsplan und lange Fahrten zu Radrennen.

Die Maloja Pushbikers FEM führten vor wenigen Jahren fünf Frauen zusammen, die neben dem Beruf oder dem Studium ehrgeizig Rennen fahren wollten. Leistungssport ohne Leistungsdruck, aber mit umso mehr Spaß – das ist das Ziel und das Motto der Gruppe. www.pushbikers.com

Alter und Leistungsfähigkeit: Trainingstipps und Hintergründe

Alter, Leistungsfähigkeit, Training, Wissenschaft, Hintergründe

Je länger die Distanz, desto besser – dies könnte für ältere Athleten gelten: So gewann etwa der Deutsche Bernd Hornetz 2016, im Alter von 48 Jahren, den vielleicht renommiertesten Radmarathon überhaupt – den Ötztaler. 227 Kilometer, vier Pässe, 5100 Höhenmeter. Seine Siegerzeit: 6:57:04 Stunden.

Der Name der über Jahre hinweg weltweit dominierenden Ultradistanz-Triathletin: Astrid Benöhr. Die Deutsche gewann zwischen 1992 und 2005 – mit dann 47 Jahren – 25 Ultra-Triathlonrennen, auch gegen alle männlichen Starter, meist über die dreifache Ironman-Distanz: 11,4 Kilometer Schwimmen, 540 Kilometer Radfahren, 126 Kilometer Laufen.

Dennoch steht fest: Im Alter nimmt die Leistungsfähigkeit auch im Ausdauersport ab. Absolut gesehen – doch in der Relation sind diese Leistungsrückgänge in Ausdauer-Disziplinen geringer als in anderen Sportbereichen. Dies haben unter anderem Forschungsgruppen um den Schweizer Dr. Beat Knechtle nachgewiesen. Nach einem der weltweit einflussreichsten Forscher im Ausdauersport, Dr. Stephen Seiler, gibt es drei große altersbedingte Änderungen, die die Leistung beeinflussen.

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1. Der graduelle Rückgang der maximalen Herzfrequenz

Die ausdauerbezogenen Rückgänge können fast gänzlich aufgrund des Rückgangs der „HFmax“ erklärt werden. Dadurch sinkt auch zwangsweise die maximale Sauerstoffaufnahme, die berühmte „VO2max“ Diesem Rückgang kann man, auch durch Training, nur wenig entgegensetzen. Es geht demnach vor allem „Kapazität“ im Zentrum verloren. In der Peripherie sind ältere Sportler oft den jüngeren voraus – etwa bei der Kapillarisierung des Muskelgewebes.

Dieser Fakt ist ein Grund für die häufig extrem hohen Leistungen älterer Athleten bei Ausdauer- beziehungsweise Langdistanz-Wettbewerben. Diese muskuläre Ausdauer ist über das ganze Leben hinweg gut trainierbar. Man verliert mit dem Alter zwar an der maximalen, jedoch in deutlich geringerem Ausmaß an der sub-maximalen Ausdauerkapazität.

2. Der Verlust von Muskelmasse

Mit dem Alter kommt es zu einem muskulären Verlust – besonders betroffen sind die schnellzuckenden „weißen“ Muskelfasern: Deshalb verschlechtern sich mit den Jahren auch die Sprint- und Kurzdistanzleistungen früher und stärker als die Ausdauer-Fähigkeiten. Diesem generellen Muskel- und Kraft-rückgang kann man mit gezielten Trainingsprogrammen effizient entgegenwirken. Den natürlichen Verlust an Muskelmasse und -funktion nennt man in der Fachsprache „Sarkopenie“.

Bis zum 70. Lebensjahr nimmt die Skelettmuskelmasse um rund 40 Prozent ab – und analog dazu die Kraft um durchschnittlich 32 Prozent. Nach den Erkenntnissen großer Studien aus den USA an Über-75-Jährigen sind rund ein Drittel der untersuchten Männer und zwei Drittel der Frauen in diesem Alter nicht mehr in der Lage, ein Gewicht von 4,5 Kilogramm zu heben.

Eine Studie aus Skandinavien zeigte, dass 60 Prozent der 80-Jährigen die üblichen Treppenstufenhöhen an öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mehr gut bewältigen können. Die Sarkopenie wirkt sich auch auf das Herz-Kreislauf-System aus: Dadurch, dass Gefäße nicht mehr so elastisch sind, muss das Herz verstärkt mit Druck arbeiten und so kommt es zu einer nachteiligen Verdickung der linken Herzhälfte durch den erhöhten Blutdruck. Dem kann man entgegenwirken. Durch Ausdauersport. Denn: Durch die regelmäßige Belastung bleiben die Gefäße elastisch – eine negative Anpassung des Herzens bleibt aus.

3. Der Verlust von Elastizität und Steifigkeit von Sehnen & Faszien

Der Stand der Wissenschaft lautet: Ein sportliches Leben beugt zahlreichen Zivilisationskrankheiten – wie etwa Diabetes, Bluthochdruck oder Herzkreislauferkrankungen – vor und trägt dazu bei, die Alterungsprozesse zu verlangsamen. Dies konnten unter anderem Byberg et al. von der Universität Uppsala, Schweden, in ihrer Längsschnittstudie aus 2009 zeigen. Mit dieser untersuchten sie den Zusammenhang zwischen lebenslangem Sporttreiben und Mortalität. Das Ergebnis: Sportliche Probanden wiesen ein signifikant geringeres Sterbe-Risiko auf als gleichaltrige, unsportliche Versuchspersonen.

Nicht nur sinkt das Risiko, an Zivilisationskrankheiten zu sterben bei sportlich aktiven Menschen – zudem bleibt parallel auch die Lebensqualität deutlich länger auf einem hohen Niveau. Dies belegen zahlreiche Studien, die zeigen: Regelmäßige Kraft- und Ausdauereinheiten können dazu beitragen, die Selbstständigkeit und Lebensqualität auch im höchsten Alter aufrechtzuerhalten. Das Training wirkt dabei nicht nur krankheitsvorbeugend oder fitnesserhaltend: Mit den richtigen Trainingsprogrammen können sowohl die aerobe Kapazität als auch die Muskelkraft bei älteren Erwachsenen deutlich verbessert werden.

Leistungsfähigkeit, Alter, Unterschiede, Wissenschaft, Hintergründe

Wie unterscheidet sich die sportliche Leistungsfähigkeit nach Alter?


Die Leistungsfähigkeit im Alter

Im Hochleistungssport treten die besten Sportler der Welt gegeneinander an. Jahrelanges Training und viel Talent sind erforderlich, um auf den Zenit der eigenen Leistungsfähigkeit zu gelangen. In einigen Sportarten ist die Zeitspanne, in der Athleten ihr höchstes Level erreichen können, auf wenige Jahre begrenzt. Sprinter, Schwimmer, Turner oder Fußballer beenden nicht selten mit weniger als 30 Jahren bereits ihre Karrieren, weil sie kein Steigerungspotential in ihrer Leistung mehr erkennen.

Anders als in den oben genannten Sportarten, die hauptsächlich von der Schnelligkeit und Schnellkraft in Kombination mit koordinativen Fähigkeiten abhängen, können Radsportler verhältnismäßig lange auf einem hohen Niveau Rennen – und natürlich Radmarathons – bestreiten.

Die Leistungsfähigkeit steigt bis zum 20. Lebensjahr stetig an, dann erreicht diese Entwicklung eine Plateauphase, die bis zum circa 35. Lebensjahr anhält. Danach kommt es – so wurde es etwa im Rahmen einer großen Studie mit Marathonläufern festgestellt – zu einem Leistungsrückgang von durchschnittlich einem bis zwei Prozent pro Lebensjahr. Auch die maximale Sauerstoffaufnahme, ein wichtiger Indikator für die Ausdauerleistungsfähigkeit, nimmt bereits nach dem 25. Lebensjahr stetig ab. Diese Tendenz lässt sich auch bei trainierten Sportlern feststellen.

Leistungsfähigkeit, Alter, Unterschiede, Wissenschaft, Hintergründe

Die maximale Sauerstoffaufnahme, ein wichtiger Indikator für die Ausdauerleistungsfähigkeit, nimmt bereits nach dem 25. Lebensjahr stetig ab

Sauerstoffaufnahme und Körperfett

Der Körperfettanteil, der bei normalgewichtigen 20-jährigen Männern durchschnittlich zwischen zwölf und 16 Prozent beträgt, steigt im Alter an – auf 19 bis 26 Prozent bei 60- bis 70-Jährigen. Bei Frauen liegt der Körperfettanteil bei 20-Jährigen zwischen 23 und 28, und zwischen 60 und 70 Jahren bei 28 bis 38 Prozent. Zudem kommt es zu einer Abnahme des relativen Anteils der Muskelmasse. Ergo: Weniger Muskel- muss mehr Körpermasse bewegen.

Dieser Verlust an Muskelmasse – von bis zu einem Prozent pro Jahr – betrifft vor allem die schnell zuckenden Typ-2-Muskelfasern. Deshalb nehmen die Schnelligkeit und die Maximalkraft im Alter deutlich schneller ab als die Ausdauerleistung.

Auch das Herzkreislaufsystem ist von negativen Veränderungen betroffen: Das Atemvolumen – die Luftmenge, die pro Atemzug eingeatmet werden kann – sinkt mit jeder Lebensdekade nach dem 30. Lebensjahr um rund 250 Milliliter. Parallel dazu nimmt die Elastizität der Lungenstrukturen ab. Dagegen nimmt die Alveolengröße im Alter zu, was die Anstrengung beim Atmen deutlich erhöht. So steigt der für das Atmen aufgewendete Energieanteil von zehn Prozent bei 20-Jährigen auf knapp 20 Prozent bei 60-jährigen Sportlern.

Veränderung bei Lunge und Herz

Zudem nehmen sowohl die Gesamtzahl der Lungenkapillaren als auch die Perfusionsqualität mit dem steigenden Alter ab. Dies bewirkt, dass das Atemzentrum empfindlicher gegenüber einer CO2-Anreicherung im Blut wird und die Sauerstoffzufuhr verschlechtert.

Die maximale Herzfrequenz geht pro Lebensjahr um rund einen Schlag zurück. Dadurch, dass der Ruhepuls unverändert bleibt, verringert sich die Herzfrequenzvariabilität. Zudem wird die Herzkammer kleiner, infolgedessen geht auch die maximale Sauerstoffsättigung zurück. Die maximale Sauerstoffaufnahme in Relation zum Körpergewicht – der wichtige Kennwert der „VO2max“ – sinkt bei Trainierten in ähnlichem Ausmaß wie bei Untrainierten. Jedoch bleibt diese bei Trainierten auch im Alter deutlich höher als bei Untrainierten. Um rund zehn Milliliter pro Kilogramm und Minute bei 70-Jährigen. Die Kapillarisierung der Skelettmuskulatur ändert sich hingegen nicht.

Bei Marathonläufern konnte in einer Studie eine prozentuale Veränderung hinsichtlich der Muskelfaserzusammensetzung festgestellt werden: Es wurde bei ihnen ein erhöhter Anteil „langsamer“ Typ-1-Muskelfasern gefunden. Die Anzahl und Größe der Mitochondrien, der „Kraftwerke“ der Zellen, nimmt im Alter ab. Dies könnte jedoch auch aus einer Verminderung des Trainingspensums resultieren. Zu beobachten ist zudem in der Regel eine generelle Muskelatrophie: So nimmt vom 45. bis zum 65. Lebensjahr die Maximalkraft um durchschnittlich rund 25 Prozent ab. Dennoch konnte in zahlreichen Studien gezeigt werden, dass mit einem gezielten Krafttraining auch im Alter erhebliche Kraftzuwächse erlangt werden können.

Leistung, Zeiten und Alter

In der Wissenschaft wird davon ausgegangen, dass mindestens rund 20 bis 40 Prozent der physiologischen Verfallserscheinungen, die mit dem Alter in Zusammenhang gebracht werden, nicht unausweichlich sind. Viele der degenerativen Veränderungsprozesse entstehen durch die Aufgabe des Sports oder die starke Verringerung des Trainingspensums. Dies wiederum bedeutet, dass ein hohes Fitnesslevel und Trainingsniveau auch bei über 50- oder 60-Jährigen erreicht und aufrechterhalten werden kann.

Wie leistungsfähig sind Sportler verschiedener Altersklassen wirklich? Diese Fragestellung verfolgte eine 2010 im Deutschen Ärzteblatt erschienene Studie zu der Leistungsfähigkeit im mittleren und höheren Lebensalter bei Marathon- und Halbmarathonläufern. Dazu werteten Lek und Kollegen mehr als 900.000 Laufzeiten von 20- bis 79-jährigen Läufern aus. Zudem wurden mittels Fragebögen die Lebensgewohnheiten und die Gesundheit der Teilnehmer abgefragt.

Keine Leistungsverminderung vor Alter von 55 Jahren

Die Ergebnisse haben eine enorme Aussagekraft: Vor dem 55. Lebensjahr treten demzufolge keine signifikanten Leistungsverminderungen auf. Zudem fallen die Leistungsverluste der älteren Athleten nur relativ gering aus. Es zeigte sich, dass 25 Prozent der 65-bis 69-Jährigen sogar schneller als 50 Prozent der 20- bis 54-jährigen Langstreckenläufer waren.

Dabei fällt besonders auf, dass unter den 50- bis 69- Jährigen rund ein Viertel der Sportler vor weniger als fünf Jahren mit dem Lauftraining begonnen hatten. Rund 42 Prozent der über 50-Jährigen waren vor dem Beginn des Lauftrainings sportlich inaktiv. Gute Nachrichten für Sporteinsteiger also. Die Erkenntnis: Es kann auch für Ältere innerhalb weniger Trainingsjahre gelingen, ein leistungsstarker Ausdauer-Athlet zu werden – und etwa erfolgreich an Rad- oder Lauf-Marathons teilzunehmen.

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Im Zentrum des Muskelschwunds stehen die schnellen Typ-2-Muskelfasern. Der somit verminderte Energiebedarf – von rund minus 25 Prozent – im Alter erfordert angepasste Mahlzeiten mit einer teils erhöhten Nährstoffdichte

Radsport

Ähnliche Ergebnisse lassen sich im Radsport feststellen. Vergleicht man die Leistungssportler aller Altersklassen im Amateurbereich, wird deutlich: Der Abstand der besten Radsportler fällt gering aus.

Eine Grundlage für eine Analyse liefert beispielsweise der jährlich im österreichischen St. Johann ausgetragene Radweltpokal. Die Veranstaltung war von 1995 bis 2010 die offizielle Austragungsstätte der UCI-Masters-Weltmeisterschaften und wird seitdem als „WMCF World Championships“ fortgeführt. Der Zeitfahrwettbewerb wird auf einem 20 Kilometer langen, überwiegend flachen und technisch wenig anspruchsvollen Kurs ausgetragen. Dies bietet nahezu ideale Bedingungen für einen objektiven Leistungsvergleich am Wettkampftag.

Die zehn verschiedenen Altersklassen sind ab der „Klasse 1“, für Starter zwischen 30 und 39 Jahren, und darauffolgend mit jeweils fünf Jahrgängen zusammen in allen weiteren Altersklassen aufgeteilt. Der Sieger jener Klasse 1 benötigte für die 20 Kilometer im Wettbewerb von 2018 25:01 Minuten und fuhr durchschnittlich 48 km/h. Die Zeitschnellsten der Altersklassen 2 – von 40 bis 44 Jahren – und 3 – von 45 bis 49 Jahren – konnten diese Zeit sogar unterbieten. Wobei der Schnellste der Kategorie 3 mit einer Zeit von 24:34 sogar fast eine halbe Minute schneller war.

Nur die Ältesten haben deutliche Leistungseinbußen

Doch auch die Fahrer der Kategorien 4 bis 6 – zwischen 50 und 64 Jahren – konnten ähnliche Zeiten erzielen, wobei der Sieger der 60- bis 64-Jährigen mit 25:36 Minuten in der jüngsten Alterskategorie der teilweise gerade einmal halb so alten Fahrer auf Platz Drei gekommen wäre. Sogar in der Kategorie 70-74 Jahre fällt der Abstand auf die jüngeren Sieger mit etwas mehr als drei Minuten relativ gering aus. Damit erreichten die schnellsten Über-70-Jährigen noch Durchschnittsgeschwindigkeiten von mehr als 43 Kilometer pro Stunde.

Erst in den Kategorien der Ältesten sind deutliche Leistungseinbußen zu erkennen. Wenngleich die erbrachten Leistungen selbst bei den Über-80-Jährigen mit einer Sieger-Zeit von 32:50 – und damit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 36,5 km/h – beeindruckend ist. Allerdings muss eingeräumt werden, dass in dieser Rennklasse 1 nur 13 Sportler am Start standen und diese nicht das höchstmögliche Niveau ihrer Altersgruppe widerspiegeln. Zudem spielen bei Zeitfahren neben der absoluten Leistung noch weitere Faktoren, wie etwa die Windverhältnisse, wichtige Rollen.

Das Training: Kraft und Ausdauer

Zu den besonders auffälligen „Alters-Effekten“ zählt die Abnahme der maximalen Sauerstoffaufnahmefähigkeit, der VO2max. Ein potenzielles „Gegenmittel“: hochintensive Intervalle. Jedoch sollten gerade Sportler, die ein solches Training absolvieren wollen, regelmäßige medizinische Checks durchführen lassen. Neben den Ausdauer- und Intervalleinheiten sollte im Trainingsprozess dem Muskelabbau und der Verringerung der Schnellkraft konsequent entgegengewirkt werden.

Ein zentraler Aspekt des Leistungsaufbaus ist zudem das Einhalten ausreichender Regenerationsphasen. Mit einem durchdachten Trainingskonzept ist das Aufrechterhalten – oder gar der Ausbau – der Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter möglich.

Trainingsunterschiede nach Alter?

Wodurch unterscheidet sich ein effizientes Training eines jüngeren von dem eines älteren Athleten? Die grobe grundsätzliche Antwort: durch nichts. Zumindest wenn es um die Methodiken und die Trainingsprinzipien geht. Trainingsmethodisch gelten dieselben Vorgehensweisen für alle Altersgruppen. Zu den Besonderheiten im Alter zählt die verlängerte Regenerationszeit. Ein weiterer Aspekt ist der erhöhte Verschleiß an Geweben.

Doch auch hier gilt: Ein regelmäßiges Training hilft dabei, diesen Gewebeabbau zu verzögern beziehungsweise aufzuhalten. Der sehr „gelenkschonende“ Aspekt des Radfahrens kann im Alter auch einen negativen Aspekt haben. Durch die geringe Belastung passen sich Strukturen wie das Bindegewebe, Sehnen, Faszien und Knorpel nur sehr begrenzt an. Man wirkt der Degeneration des Gewebes – mit Ausnahme des Muskelgewebes – demnach nur bedingt entgegen.

Dies wäre jedoch wünschenswert – auch um das Verletzungsrisiko zu minimieren und um im Sport und Alltag belastungsverträglich zu bleiben. Je kräftiger und elastischer eine Sehne ist, desto besser wird auch die Muskulatur geschützt.  Damit dies passiert, gilt es eine einfache Regel zu beachten: use it or lose it – nutze es oder verliere es. Strukturen wie Sehnen brauchen Belastungen, um sich zu adaptieren – um altersbedingte degenerative Prozesse zu verhindern beziehungsweise zu verlangsamen. Die effizienteste Prophylaxe heißt: Krafttraining.

Intensität des Krafttrainings

Das Krafttraining an sich muss dabei auch gewisse Intensitäten überschreiten. Es genügt nicht, immer nur mit sehr geringen Gewichten zu arbeiten. Ein Kraftausdauertraining von 15 oder mehr Wiederholungen ist demnach in der Regel als zu niedrigintensiv einzustufen. Ein solches wirkt auf der muskulären Ebene eher versorgungsoptimierend. Natürlich sollte man als Einsteiger nicht sofort mit einem harten Krafttraining beginnen – doch man sollte mit dem Ziel starten, mittelfristig Hypertrophie-Einheiten durchführen zu können.

Ergo: In jenem Intensitäts-Bereich zu arbeiten, in dem Muskelwachstums-Prozesse provoziert werden. Für die Gesundheit am zielführendsten ist es, die Belastungsverträglichkeit über Monate hinweg aufzubauen. Und danach langfristig im Bereich von acht bis zwölf Wiederholungen zu arbeiten – bei drei bis sechs Sätzen pro Muskelgruppe beziehungsweise Übung. Das Gewicht sollte dabei so gewählt werden, dass die Ausführung technisch einwandfrei möglich und bis zur spätestens zwölften Wiederholung sehr fordernd beziehungsweise ausbelastend ist.

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Um die altersbedingte Leistungsbegrenzung oder -minderung aufzuhalten, oder zumindest zu verzögern, müssen besonders die limitierenden Faktoren im Fokus des Trainings stehen: der Fettstoffwechsel, die Sauerstoffaufnahmekapazität und der Muskelerhalt und -aufbau

Ruheblutdruck im Alter

In einer Studie konnte Martel zeigen, dass der Ruheblutdruck seiner 68-Jährigen Probanden durch eine sechs-monatige Krafttrainings-Intervention deutlich reduziert wurde. Zusätzlich dazu konnte Hepple in seiner Untersuchung zeigen, dass sich mit der zunehmenden Muskelmasse oft auch neue Kapillaren ausbilden – wodurch sich die VO2max und die Sauerstoff-Nutzung deutlich verbesserten.

Ein Beispiel: die freie Kniebeuge – die „Königsübung“ für Radfahrer. In der klassischen Durchführungsvariante, dem sogenannten „Back Squat“ mit der Langhantel hinten auf den Schulterblättern, werden sowohl die Wirbelsäule als auch die großen Gelenke der unteren Extremität belastet. Dadurch kommt es zu einer verbesserten Wassereinlagerung und zu einer Verstärkung der Bindegewebsfasern in den Knorpelstrukturen, was zu einer besseren Stoßdämpferfunktion und Belastungsverträglichkeit führt – in allen belasteten Gelenken und in den Bandscheiben.

Zudem unterstützt das intensive Kniebeugen-Krafttraining die organische Gesundheit durch die Ausschüttung von Botenstoffen: Myokinen, etwa das Interleukin-6, schaffen ein anti-entzündliches Milieu im Körper. Man erkennt schon an dieser einzigen Übung, warum das planvolle Krafttraining das effektivste verletzungsprophylaktische Mittel ist – sowohl für den Sport als auch für den Alltag. Gerade in einem Alter ab 45 oder 50 Jahren, und älter, ist ein zusätzliches Krafttraining absolut empfehlenswert, um den natürlichen Degenerationsprozessen entgegenzuwirken. Alle Untersuchungen zeigen, dass die Abnahme an Muskel-Querschnittsfläche und Kraft ab dem 55. Lebensjahr – in Relation zu vorhergehenden Lebensjahren – überproportional voranschreitet. Ergo gilt: Je früher man damit beginnt, diesen Prozessen entgegenzuwirken, desto besser.

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Warum profitieren Frauen besonders von zusätzlichem Krafttraining?

Gerade Frauen profitieren generell sehr stark von einem zusätzlichen Krafttraining. Sie können die, im Durchschnitt, geringere fasziale Festigkeit – ausgelöst unter anderem durch das Hormon Relaxin – mittels einer erhöhten muskulären Stabilität kompensieren. Je höher die Trainingsumfänge sind, desto wichtiger ist es, dass die Kollagen-Strukturen diese auch tolerieren.

Für die Anpassungen dieser passiven Strukturen sind in der Regel vier bis sechs Monate einzurechnen. Somit gilt auch für das Krafttraining: Man kann nicht in den Wintermonaten „auf Vorrat“ trainieren – und im Sommer pausieren. Mehrere Studien haben gezeigt, dass bereits ein einmaliges wöchentliches Training von rund 40 Minuten Dauer genügt, um die aufgebauten Strukturen zu erhalten.

Dieser Artikel erschien in RennRad 4/2021. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.

Nicole Reist: Ultracyclist – die beste Extrem-Radsportlerin der Welt

Nicole Reist, Extrem-Radsport, Frauen, Ultracycling, Portrait

Sie sitzt seit 16 Stunden auf ihrem Rad – und fährt mit 38 km/h durch die Dunkelheit. Es ist zwei Uhr nachts. Seit Stunden „liegt“ sie mit abgesenktem Oberkörper auf dem Zeitfahrlenker ihres Rades. Ihr Rennen begann in Francavilla – 500 Kilometer entfernt. Sie fährt durch Posticeddu, einen kleinen Ort an der italienischen Adriaküste, kurz vor Brindisi. Durch die Nacht. Gegen die Müdigkeit. Keine Ablenkung, keine Menschen, fast keine Autos. Monotonie. Bis eine Zehntelsekunde alles ändert. Ihr Vorderrad springt, ihre Hände verlieren den Halt am Lenker. Sie weiß, was passiert: In ein paar Hundertstelsekunden wird sie einschlagen, auf dem Boden, auf dem Asphalt. Sie hat überwachsene, längst unbenutzte Bahngleise übersehen, die quer über die Straße verlaufen. Flug. Aufprall. Ihre Hände schmerzen, als sie sich aufrichten will. Sie kann es nicht – der Schock ließ ihren Kreislauf absacken. Die Crewmitglieder stürzen aus dem Begleitfahrzeug und kümmern sich um sie. Ein paar Prellungen, ein paar Abschürfungen – sie ist nur leicht verletzt. Aber: Der Lenker ihres Zeitfahrrads ist gebrochen. Fünf Minuten nach ihrem Sturz steigt Nicole Reist auf ihr Ersatz-Rennrad – ein leichtes Bergrad – und fährt weiter. Mehr als die Hälfte des Rennens liegt noch vor ihr. Mehr als die Hälfte des „Adriatic Marathon“. Ihr Ziel: der Sieg.

Training und Rennen

Nicole Reist ist die erfolgreichste Extrem-Radsportlerin der Welt. Die 36-Jährige hat seit 2012 jedes Rennen, an dem sie teilnahm, gewonnen. Die Gründe für diese Erfolge: Ehrgeiz, Planung, Fleiß. Seit vielen Jahren sieht ein ganz normaler Tag bei ihr in etwa so aus: Um 1:30 Uhr nachts steht sie auf und beginnt mit ihrer ersten Trainingseinheit. Anschließend arbeitet sie von fünf bis 16 Uhr. Da sie für ihr „Hobby“, das Radfahren, etwa drei Monate im Jahr unterwegs ist, arbeitet sie in der übrigen Zeit bis zu zwölf Stunden am Tag.

Im Anschluss trainiert sie ein zweites Mal. Zwischen 19 und 20 Uhr legt sie sich schlafen. „Am Wochenende stehen längere Einheiten auf dem Programm, die bis zu zehn Stunden andauern. Aber dann kann ich dafür länger schlafen“, sagt sie. Freunde, Familie, andere Hobbys? „Dafür bleibt nicht viel Zeit.“ Mittlerweile haben ihre Familie und Freunde Verständnis für die strikte Aufteilung ihrer Tage. „Sie akzeptieren, wenn ich zum Beispiel nicht zu einer Geburtstagsfeier komme, weil ich trainiere.“ Seit 15 Jahren sieht so ihr Alltag aus.

Damals nahm sie spontan – und fast ohne Vorbereitung –an dem 24-Stunden-Radrennen von Schötz teil. Mit nur einem Ziel: durchhalten. Sie schaffte es. „Der Samen war gesät“, sagt sie heute. Sie beginnt zu trainieren, wird schnell immer besser – und 2007 Weltmeisterin. Beim Glocknerman in Österreich. Nach 1000 Kilometern mit 17.000 Höhenmetern.

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Perfektionistin

Nicole Reist ist Perfektionistin. An jedem Detail eines Ultracycling-Rennens kann etwas verbessert werden: körperlich, mental und organisatorisch. Sie verbessert sich immer weiter. Doch es ist kein linearer Aufstieg: Rückschläge erlebt sie bei der Tortour 2010 und dem Race Around Austria 2011 – beide Rennen muss sie vorzeitig beenden. Es sind Tiefpunkte, die sie dazu nutzt, sich weiter zu verbessern. Das Training, die Vorbereitung, das Betreuer-Team, die Abläufe – alles wird immer weiter optimiert. Die Folge: Siege. Die Tortour, ein Rennen über 1000 Kilometer und 14.000 Höhenmeter in den Schweizer Alpen, gewinnt sie vier Jahre in Folge.

Ebenso oft gewinnt sie das 2200 Kilometer lange Race Around Austria. Während all dieser Jahre arbeitet sie auf ein größeres Ziel hin: das Race Across America – das für Viele wichtigste Ultracycling-Event der Welt. Doch: Die Teilnahme ist teuer. Die Kosten betragen zwischen 40.000 und 60.000 Schweizer Franken. Ihre Vollzeit-Festanstellung als Hochbautechnikerin in einem Architekturbüro in Zürich ist daher alternativlos. Sie arbeitet – und spart. Das Race Across America bleibt neun Jahre lang ein Traum. Ein Ziel, auf das sie hinarbeitet. Jeden Tag – ab 1:30 Uhr morgens.

Während der Arbeit und auf dem Rad, draußen und drinnen. Nachts und im Winter sitzt sie oft stundenlang auf ihrem Rad, ohne vorwärtszukommen: Sie trainiert zu Hause, auf einem Rollentrainer. Umgeben von Fotos, Pokalen und Postern mit Motivationssprüchen darauf. Auf einem davon sieht sie während der oft stundenlangen Trainingseinheiten ihr Lebensmotto stets vor sich. Es lautet: „Erfolg entsteht außerhalb der Komfortzone.“

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„Durchhalten ist Kopfsache. Mir geht es nie darum, ob ich andere übertreffen kann. Ich will herausfinden, wo meine Grenzen liegen, und sie dann verschieben.“

Über Grenzen

Dort bewegt sie sich seit 15 Jahren. Auch während des „Adriatic Marathon“: Sie sitzt auf ihrem Ersatzrad – und versucht, die Schmerzen zu verdrängen. Zum Zeitpunkt ihres Sturzes lag sie auf dem dritten Platz. 700 Kilometer liegen bis zum Ziel in Francavilla noch vor ihr. Sie sucht – und findet – ihren Rhythmus. Die Straßen an der italienischen Adriaküste werden immer schlechter. Es wird dunkel. Sie muss sich konzentrieren – nach 30 Stunden auf dem Rad.

Auf solche Phasen, auf solche Situationen, ist sie vorbereitet: Sie trainiert sie. „Ich trainiere fast immer allein. Das gibt mir die Möglichkeit, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Im Training analysiere und reflektiere ich meine Gedanken: Wann denke ich was, was führt zu positiven und was zu negativen Gedankengängen? Was brauche ich zu welchem Zeitpunkt und wie können wir das auch in den Rennen gewährleisten?“ Sie fährt ihr Tempo –und hält es. An der letzten Zeitnahmestelle liegt sie auf Rang zwei. 169 Kilometer sind es von hier aus noch bis ins Ziel. Ein Sprint quasi. Je länger und bergiger ein Rennen wird, desto besser für sie.

Adriatic Marathon: Für Nicole Reist fast eine Kurz-Distanz

Die 1200 Kilometer des „Adriatic Marathon“ sind für sie fast schon eine Kurz-Distanz. Die bis dato längsten und bedeutendsten Rennen ihres Lebens waren rund viermal länger. Es waren Rennen quer durch ein ganzes Land, einen ganzen Kontinent: Es war das Race Across America – 4900 Kilometer, 55.000 Höhenmeter. 2016 erfüllt sie sich zum ersten Mal diesen Traum: Sie steht an der Startlinie, in Oceanside, Kalifornien, an der Westküste der USA, am Pazifik. Elf Tage, 14 Stunden und 25 Minuten später ist sie im Ziel –am Atlantik, in Annapolis, auf der anderen Seite der Vereinigten Staaten. Als Siegerin der Frauen-Wertung. Im letzten Abschnitt des Rennens kämpft sie immer wieder gegen den Sekundenschlaf.

An ihrem 32. Geburtstag erreicht sie das Ziel – das Ziel ihres Lebens. Es wird zu einem Teilziel: Nur sechs Wochen nach diesem Sieg steht sie bei ihrem Heimrennen, der Schweizer Tortour, am Start. Und gewinnt. In Rekordzeit. Die rund 1000 Kilometer und 14.000 Höhenmeter absolviert sie in 43:28 Stunden. Obwohl sie sich drei Wochen zuvor eine Steißbeinprellung zugezogen hatte. Obwohl ihr Oberkörper die Belastung des Wiegetritts kaum aushält. Sie, die wegen ihrer Fähigkeiten bergauf und ihrer leichten Statur den Spitznamen „Berggeiß“ verpasst bekommen hat, fährt im Sitzen über die Schweizer Alpenpässe: Und: Sie leidet. Mit jeder Kurbelumdrehung. Ihr Wille ist es, der sie ins Ziel trägt – und zum Sieg.

Auszeit

Schon 2016 ist sie an einem Punkt angelangt, an dem es eigentlich nicht mehr weitergeht – nicht mehr nach oben. Sie hat fast alles erreicht, was man im Extrem-Radsport erreichen kann: Sie ist Race-Across-America-Gewinnerin, Weltmeisterin, mehrfache Tortour- und Race-Around-Austria-Siegerin.

Nach der Tortour 2016 nimmt sie sich eine Auszeit. Nach dieser „perfekten Saison“, wie sie selbst sagt. „Ich habe mich gefragt: Was will ich? Wie geht es weiter?“ Sie benötigt einige Wochen, um sich selbst diese Fragen zu beantworten. Um den Fokus wieder in die Zukunft zu richten. Ihr Antrieb lässt gar nichts anderes zu als: neue Ziele, neue Verbesserungsmöglichkeiten. Ihr nächstes Ziel lautet: das Race Across America in weniger als zehn Tagen absolvieren.

2017 gewinnt sie erneut das Glocknerman-Rennen und damit die Ultraradmarathon-Weltmeisterschaft. Dann ein viertes Mal die Tortour und – eine Woche später – das Race Around Ireland, die Europameisterschaft im Ultracycling: 2150 Kilometer und 21.000 Höhenmeter rund um die Insel im Nordatlantik. Nach 112 Stunden erreicht sie das Ziel in Moynalty. Damit ist sie die Schnellste – nicht „nur“ der Frauen-Konkurrenz, sondern insgesamt. Der Zweitplatzierte und Sieger der Männer-Wertung, Valerio Zamboni, erreicht zwölf Stunden nach ihr das Ziel. „Um Siege geht es mir eigentlich nicht“, sagt Nicole Reist. „Durchhalten ist Kopfsache. Mir geht es nie darum, ob ich andere übertreffen kann. Ich will herausfinden, wo meine Grenzen liegen, und sie dann verschieben.“

Zweite Teilnahme am Race Across America

Es folgt: ihre zweite Teilnahme am Race Across America. Ein zweites Mal geht sie in Oceanside am Pazifik an den Start. Ein zweites Mal erlebt sie die extrem dünne Luft, den extrem langen Anstieg am Wolf Creek Pass in den Rocky Mountains, die extremen Temperaturunterschiede – 50 Grad in der Wüste Arizonas, null Grad in den Bergen Colorados. Ein zweites Mal sieht und spürt sie die Monotonie, die Eintönigkeit der Landschaft, der endlosen schnurgeraden Straßen des Mittleren Westens, in den unendlichen Great Plains.

Mit ihrer elfköpfigen Crew übersteht sie die Hindernisse, auch den Sturm und den Dauerregen in den Appalachen. Sie schläft insgesamt nur neun Stunden und absolviert durchschnittlich 500 Kilometer pro Tag. Ihre offizielle Zeit im Ziel in Annapolis: neun Tage, 23 Stunden, 57 Minuten. Weniger als zehn Tage. Nicole Reist hat, wie immer, ihr Ziel erreicht.

Nicole Reist, Extrem-Radsport, Frauen, Ultracycling, Portrait

„Zur Unterhaltung gehören Diskussionen, Kopfrechnen und Musik – vorzugsweise jene von Helene Fischer.“

Österreich und Italien

Sie wird damit – hinter dem inzwischen sechsfachen RAAM-Sieger Christoph Strasser aus Österreich und Ralph Diseviscourt aus Luxemburg – Gesamtdritte. Und ist damit die zweite Frau überhaupt, die das Rennen in weniger als zehn Tagen absolviert – die Rekordzeit von Seana Hogan 1995 wurde auf einem etwa 300 Kilometer kürzeren Kurs mit weniger Höhenmetern aufgestellt. Zur Reflexion bleibt erneut wenig Zeit. Die nächsten Aufgaben warten.

2019 gewinnt sie den Glocknerman, das Race Around Austria und das Race Around France – alles in einem Zeitraum von drei Monaten. Im Jahr 2020 will sie den dritten Sieg beim Race Around America. Aufgrund der Corona-Pandemie verzichtet sie jedoch auf einen Start. Nur wenige Tage nach ihrer Entscheidung sagen die Veranstalter das ganze Event ab. Doch zwei andere Rennen in Europa sollen stattfinden. Für Nicole Reist ergibt sich damit die Möglichkeit, das RAAM zu „simulieren“. Ihr Plan: die Teilnahme am Race Around Austria, im Anschluss über Nacht nach Nizza fahren und dort das Race Across France absolvieren. Insgesamt entspräche dies einer Rad-Rennstrecke von 4800 Kilometern und 75.000 Höhenmetern. Es wäre ihre bislang größte Herausforderung.

Motivation und Ziele

Beim Start in St. Georgen im Attergau besteht dieser Plan noch. Zwei Tage später nicht mehr. Ihr Team entscheidet sich gegen eine Teilnahme am Race Across France.

Der Grund: Kurzfristig gaben die Veranstalter bekannt, dass ein Streckenabschnitt am Mont Ventoux und die Abfahrt von dessen Gipfel ohne ein Begleitfahrzeug absolviert werden müssten. „Wir können es einfach nicht verantworten, Nicole nach ihrer bereits absolvierten Leistung diesen Abschnitt allein fahren zu lassen“, sagt ihre Teamchefin Beatrix Arlitzer. „Diese kurvige Abfahrt auf einer schmalen Bergstraße hat es schon unter normalen Umständen in sich – mit Nicoles zusätzlicher Müdigkeit wäre das viel zu gefährlich.“

Stattdessen konzentrieren sich Reist und ihr Team auf das Rennen in Österreich. Ihr eigener Streckenrekord der Frauen-Klasse aus dem Jahr 2019 ist zur Rennhälfte noch in Reichweite – obwohl sie wegen des zu diesem Zeitpunkt noch geplanten Starts beim Race Across France zurückhaltender fährt. Die Bedingungen sind während dieser ersten 1000 Kilometer gut – es ist sonnig und nicht zu heiß. Zehn Teammitglieder kümmern sich während der Fahrt um die Athletin. Pausenzeiten sind ebenso durchgeplant wie die Ernährung.

Nicole Reist, Extrem-Radsport, Frauen, Ultracycling, Portrait

 

Nicole Reist, Extrem-Radsport, Frauen, Ultracycling, Portrait

 

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Unterhaltung

Eine der wichtigsten Aufgaben des Teams lautet jedoch: Unterhaltung beziehungsweise mentale Beschäftigung beziehungsweise Ablenkung. Der Funkverkehr zwischen der Athletin auf dem Rad und den Teammitgliedern im Begleitfahrzeug ist ein permanenter: Wenn nicht gesprochen wird, läuft Musik – über das Funkgerät oder die Lautsprecher des Begleitwagens. Vorzugsweise Helene Fischer und andere Schlager- und Volksmusik. Das sei einfach, eingängig und lasse sich auch nach 35 Stunden auf dem Rad noch mitsingen, sagt Nicole Reist.

Durch die Gespräche mit ihr kann das Team reagieren, wenn der Schlafmangel zu stark wird, wenn Halluzinationen auftreten, wenn sie beginnt, Schlangenlinien zu fahren. Die Schlafpausen im Begleit-Wohnmobil sind kurz: Meist wird sie nach der ersten Tiefschlafphase geweckt – nach rund 45 Minuten. Nicole Reist kommt mit dem Schlafmangel gut zurecht. Nach einer solchen kurzen Pause fühlt sie sich „erholt“ – und bereit für die nächste 40-Stunden-Schicht auf dem Rad. Doch für einen neuen Streckenrekord beim Race Around Austria reicht es diesmal nicht, obwohl die Rennstrecke nun durch die Berge führt. Durch ihr Terrain. Es wird immer kälter und nasser. In den Alpen regnet es fast ununterbrochen. Die Temperaturen auf den Passhöhen der Silvretta, des Großglockners, des Kühtai: ein, zwei, drei Grad Celsius. Ihre Rekordzeit aus dem Vorjahr kann sie so nicht unterbieten.

Nicole Reist vs. Christoph Strasser

Auf den letzten 500 Kilometern entwickelt sich dennoch ein Duell: Nicole Reist gegen Christoph Strasser, die erfolgreichste Extrem-Radsportlerin gegen den erfolgreichsten Extrem-Radsportler. Frau gegen Mann. Schweiz gegen Österreich. Nicole Reist geht 24 Stunden vor Strasser ins Rennen, dennoch erwarten Beobachter, dass der Österreicher sie noch einholt. Doch sie bringt noch eine Stunde Vorsprung ins Ziel. „Der entscheidende Kampf im Ultra-Distanz-Radsport“, sagt sie, „ist nicht der gegen andere, sondern der gegen sich selbst.“

Wenige Wochen später geht sie in Italien an den Start, beim „Adriatic Marathon“. Die Daten: 1200 Kilometer und 7000 Höhenmeter. Nach 16 Stunden stürzt sie. Nach 36 Stunden liegt sie auf Rang drei. Nach 43:40:43 Stunden ist sie im Ziel. Als Siegerin. Mit einem neuen Strecken-Rekord – für die Frauen- und die Männer-Klasse.

Es ist ihr zweiter Gesamtsieg bei einem Ultradistanz-Radrennen. Ihr zweiter Sieg gegen die besten Männer. Wieder einmal hat sie ihre eigenen Grenzen getestet – und verschoben.


Die Athletin: Nicole Reist

Seit einem Jahrzehnt ist Nicole Reist die erfolgreichste Extrem-Radsportlerin der Welt. Die 36-Jährige lebt in Winterthur in der Schweiz und arbeitet als Hochbautechnikerin in einem Architekturbüro. Zusätzlich trainiert sie mehr als 40 Stunden pro Woche – oft auf der Rolle und auf den Passstraßen in ihrer Heimatregion. „Mich fasziniert das Zusammenspiel von Körper und Kopf, das notwendig ist, um solche Leistungen zu erbringen. Dazu kommt die Arbeit als Team, die hinter jedem meiner Erfolge steht. Ich trainiere zwar allein, doch meine Leistung kann ich nur dank meines Teams abrufen. Das treibt mich ebenso an – es ist sozusagen die intrinsische und extrinsische Motivation für mein Tun. Außerdem sehe ich es als ein großes Privileg, dass ich meine Leidenschaft auf diesem Niveau leben darf.“

Weitere Informationen finden Sie unter: www.nicolereist.ch

Nicole Reist, Extrem-Radsport, Frauen, Ultracycling, Portrait

Erfolge, Siege, Titel: Die Liste der Triumphe von Nicole Reist ist lang

Die Erfolge der Nicole Reist

  • 2x Race Across America 2016, 2018 | 5000 Kilometer
  • 4x Glocknerman | Ultracycling-WM 2007, 2014, 2017, 2019 | 1000 Kilometer
  • 4x Race Around Austria 2012, 2013, 2019, 2020 | 2200 Kilometer
  • 4x Tortour | Schweizer Meisterschaft 2014, 2015, 2016, 2017 | 1000 Kilometer
  • 2x Race Across France 2018, 2019 | 2500 Kilometer
  • 1x Gesamtwertung Race Around Ireland 2017 | 2100 Kilometer
  • 1x Adriatic Marathon 2020 | 1200 Kilometer

Race Around Austria: Taktik und Schlaf

Nicole Reist begann das Race Around Austria 2020 mit „angezogener Handbremse“, da sie damit rechnete, direkt im Anschluss das Race Around France zu absolvieren. Erst nach der Hälfte des Rennens traf ihr Team die Entscheidung, die Teilnahme an dem Rennen in Frankreich abzusagen. An den Plänen für die Schlafpausen änderte das nichts: Insgesamt legte sie zwei Schlafpausen ein, die erste nach 40 Stunden und 950 Kilometern auf dem Rad. Sie schlief insgesamt zweimal für 45 Minuten.

Zum Vergleich: Der Sieger der Gesamtwertung, Christoph Strasser, schlief im Laufe des Rennens insgesamt 70 Minuten. Er war allerdings einen Tag weniger unterwegs. Ihren eigenen Rekord aus dem Vorjahr verpasste sie dennoch um einige Stunden.

Der Hauptgrund war ein Wetterumschwung: Gerade im Hochgebirge und im letzten Drittel des Rennens wurde es kälter und sehr regnerisch. Dennoch gewann sie konkurrenzlos zum vierten Mal das Race Around Austria – und kommt in dem stark besetzten Teilnehmerfeld insgesamt auf Rang fünf.

Kilometer 2200
Höhenmeter 34.000
Gesamtzeit 4 Tage 10 Stunden 18 Minuten
Durchschnittsgeschwindigkeit 20,4 km/h
Nicole Reist, Extrem-Radsport, Frauen, Ultracycling, Portrait

Eine Inspiration: Nicole Reist


Adriatic Marathon

1200 Kilometer | 7000 Höhenmeter

„Die Umstände dieses Rennens waren sehr erschwert. Normalerweise bereite ich mich mehrere Monate sehr akribisch auf ein solches Rennen vor. Doch die Entscheidung, den Adriatic Marathon zu fahren, fällte ich diesmal erst drei Wochen vor dem Start. Nachdem mein Plan A – die Teilnahme am Race Around France – nicht umsetzbar war, ich mich jedoch in einer Topform befand, wollte ich diese nutzen und noch ein Rennen fahren.

Der Adriatic Marathon entspricht nicht meiner Stärke – den Bergen –, da seine Strecke mit nur 7000 Höhenmetern auf 1200 Kilometern verhältnismäßig flach ist. Doch genau diese Herausforderung wollte ich annehmen und konnte auf ein hochmotiviertes und professionelles Team im Rücken zählen. Leider hatte ich etwa 16 Stunden nach dem Start einen schweren Sturz. Ich übersah überwachsene Bahngleise und es schlug mir die Hände vom Lenker, sodass ich in die Leitplanke flog. Das Zeitfahrrad war somit für dieses Rennen Geschichte.

Zum Glück konnte ich mit den Verletzungen und den damit verbundenen Schmerzen umgehen und das Rennen nach einer kurzen Pause fortsetzen. Nach diesem Ereignis kämpften das Team und ich uns gemeinsam Kilometer für Kilometer Richtung Ziel. Die größten Probleme im weiteren Verlauf des Rennens: die sehr schlechten Straßenverhältnisse und teilweise auch der Verkehr im  Nachtleben von Italien. Mit einem Zielsprint holte ich alles aus mir heraus, was irgendwie möglich war, und konnte im Ziel den Overall-Sieg und den ersten Streckenrekord einer Frau bei einem Ultracycling-Rennen feiern.“

Startort Francavilla
Datum 18. September 2020
Website www.adriaticmarathon.com

Dieser Artikel erschien in RennRad 3/2021. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.

Bikepacking-Tour entlang der Grenze Böhmens: Gravel-Abenteuer

Bikepacking, Gravel, Bohemian Border Bash Race

Aus mehr als zwei Kilometern Entfernung sehen sie, was ihnen bevorsteht – sie sehen: eine Wand. Eine Wand in einem Wald. Ihr Weg ist ein eineinhalb Meter breiter Pfad. Ihr Weg, das sind Steine, Sand, Lehm, Schotter, Schlamm. Die Wand, das ist: Ein Hang, den sie hinauf müssen. Ein Anstieg, der mit jedem Meter steiler wird: 18, 20, 22 Prozent. Zu dritt kämpfen sie sich bergan – zusammen und doch allein. Der Berg siegt. Irgendwann fangen die Hinterräder ihrer Gravelbikes an durchzudrehen. Alle drei Fahrer müssen, an derselben Stelle, ausklicken, absteigen, schieben. Herzfrequenz: 180. Sie reden nicht, sie atmen, laut. Ihr Atem, die von ihren Schritten bewegten, den Abhang herunterrollenden Kiesel, und der Aufprall der Regentropfen auf ihren Helmen, ihren Regenjacken und den Blättern der Bäume sind die einzigen Geräusche. Seit sie am Morgen aufgebrochen sind, regnet es fast ununterbrochen. Mit jeder Stunde wird es kälter. Fünf, vier, drei Grad. Sie sind zu dritt. Sie sind allein. Im Wald. In der Natur. An der Grenze.

Kälte und Dauerregen

Der physischen. Der psychischen. Der zwischen Deutschland und Tschechien. Dies ist der vierte Tag ihrer Reise. Seit sechs Stunden sind sie heute unterwegs, 450 Kilometer haben sie diese Woche hinter, 800 noch vor sich. Die letzte Stadt, das oberpfälzische Furth im Wald, passierten sie vor etwa drei Stunden. Sie sind aufgebrochen, um eine Route für ein neues Rennen zu finden: das „Bohemian Border Bash Race“. Die Fakten: 1300 Kilometer, 23.000 Höhenmeter. Es ist ein Radrennen in der Mitte Europas.

Wenn es nicht regnet, liegt der Nebel über dem Böhmerwald, an der deutsch-tschechischen Grenze. Vor sechs Stunden, um acht Uhr morgens, sind sie aufgebrochen. Ihre Route: Wald, Wiesen, Wald und noch mehr Wald. Mittags müssen sie Umwege fahren, um etwas Essbares zu finden – an der einzigen Tankstelle im Umkreis von 20 Kilometern. Sie sind zu dritt. Max Riese, Ondrej Vesely, der Organisator des Rennens, und Dan Zoubek, der Fotograf – er ist ein „Neuling“: Dies ist seine erste Bikepacking-Tour. Er bewegt nicht nur Regen-, Freizeit- und Wechselkleidung, Rad-Material und Verpflegung mit sich, sondern auch seine Fotoausrüstung. Sein Rad mit den drei Packtaschen und der Fotoausrüstung daran wiegt fast 20 Kilogramm.

Outside is Free: Der Gravel-, Bikepacking- und Abenteuer-Podcast des Radclub

Bikepacking, Gravel, Bohemian Border Bash Race

"Die Tagesetappe: 117 Kilometer, 3000 Höhenmeter - entlang des Eisernen Vorhangs...

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"...entlang einer Grenze, die eine Welt trennte"

Mitten im Nirgendwo

Sie sind mitten im Nirgendwo. Eine Woche lang wollen sie unterwegs sein. Es ist Anfang Oktober, das Wetter ist „typisch mitteleuropäisch“ – und in ihrem heutigen Tagesziel werden sie erfahren, dass Tschechien wegen der Corona-Pandemie gerade den Notstand ausgerufen hat. Dan beschließt: Es reicht. Es ist genug. Alles – diese Erfahrung, dieses Wetter, dieser Matsch, diese Kälte, diese Höhenmeter. Am nächsten Morgen reist er ab. Zurück in die Zivilisation, in den Alltag, in den kommenden Lockdown.

Gestartet sind sie drei Tage zuvor im sächsischen Bad Schandau. Mit 3000 Einwohnern ist es eine der größten Ortschaften, die sie in den kommenden Tagen durchfahren werden. Die Straße führt nach wenigen Kilometern bergan. Dies ist das erste von fünf Mittelgebirgen ihrer Rundreise: Das Elbsandsteingebirge in der sächsischen und böhmischen Schweiz. Sie fahren vorbei an zerklüfteten Felsformationen, durch enge Schluchten – selten flach, fast immer bergauf oder bergab. Es regnet, seit sie in Bad Schandau aus dem Zug gestiegen sind.

Bohemian Border Bash Race

Die drei schaffen „nur“ 120 Kilometer am Tag. Das Wetter, der Schlamm, das Gepäck – und: Sie fahren nicht im Renntempo. Sie sind Suchende. Sie suchen die beste Strecke, die schönsten Trails, die Route, mit den wenigsten Schnittpunkten mit asphaltierten Straßen. Für ein Gravel-Extrem-Event, das es noch gar nicht gibt: das Border Bash Race. 2021 soll es zum ersten Mal ausgetragen werden. Als Rennen, als Abenteuer, als Herausforderung mitten in Europa.

Zwei Monate lang haben sie für diese Mehrtages-Tour – und Strecken-Such-Aktion – geplant. Schon vor dem Start entschieden sie sich dagegen, unterwegs zu zelten. Die Wetterprognosen waren zu katastrophal. Somit haben sie sich eine weitere Herausforderung geschaffen: abends ein Hotel oder Gasthaus zu finden. Von den wenigen, die es in dieser Region gibt, sind die meisten – corona-bedingt – geschlossen. Ihnen bleibt nur eines: fragen. In den kleinen tschechischen Dörfern kennt jeder jeden. Irgendjemand hat immer ein Zimmer frei, und etwas zu essen.

Der nächste Morgen. Der zweite Tag. Acht Uhr. Max, Dan und Ondrej steigen auf ihre noch verschlammten Räder. Für Max ist dies ein Tag wie viele andere. Er hat dutzende Bikepacking-Touren hinter sich. Er ist 30 und liebt den Radsport, seit er 13 Jahre alt ist. Erst fuhr er Lizenzrennen auf der Straße, dann Mountainbike-Marathons, dann vor allem Gravel-Touren und Rennen, die mehr Abenteuer als Leistungsvergleiche sind. Etwa: das Silk Road Mountain Race in Kirgisistan – über 1700 Kilometer und 32.000 Höhenmeter. Oder das Atlas Mountain Race in Marokko – über 1150 Kilometer und 24.000 Höhenmeter.  Oder, auf dem Rennrad, den Two Volcano Sprint in Italien – mehr als 1100 Kilometer und 24.000 Höhenmeter. Max fährt mit leichtem Gepäck: Sein Rad wiegt, mit allen Taschen, 12,5 Kilogramm.

Bikepacking, Gravel, Bohemian Border Bash Race

 

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Wälder und Berge

Ihre Tagesaufgabe heute: 117 Kilometer, 1800 Höhenmeter. Über vier größere Anstiege- und dutzende kurze Hügel und Rampen. Je weiter sie fahren, desto seltener werden die Dörfer, desto dichter wird der Wald. Sie sind im Osterzgebirge angekommen. Steile Berge, Felswände. Die tschechische Seite des Mittelgebirges ist schroffer, kantiger als die deutsche. Während der ersten vier Stunden auf dem Rad begegnen ihnen, außerhalb der wenigen kleinen Ortschaften: drei Menschen in Autos, ein Mountainbiker, ein Jäger, fünf Rehe.

Eines dieser Dörfer heißt: Krasny Les. Ondrej übersetzt den Namen für die beiden anderen: Schöner Wald. Etwa 100 Einwohner, eine Kirche, Ruinen. Aus dem dichten Wald sind sie in das Dorf gefahren, doch zwei Minuten später liegen die wenigen Häuser schon hinter ihnen. Die Route für das Rennen führt fast immer entlang der deutsch-tschechischen Grenze. Auf der deutschen Seite überqueren sie den höchsten Punkt der gesamten Strecke: den 1204 Meter hohen Fichtelberg. Sie halten sich nicht lange auf dem Plateau auf. Es wird spät: Die Streckenfindung, die Anstiege, der Regen und die Kälte. Sie kommen nur langsam voran.

Sehnsuchtsort

Es dämmert. Die Temperatur sinkt immer weiter, auf rund fünf Grad. Sie brauchen Wärme – von innen wie von außen. Einen Ofen, ein warmes Abendessen, einen Ort, um ihre durchnässte Rad-Kleidung zu trocknen. Um 20 Uhr erreichen sie ihren Sehnsuchtsort: das Dorf Milikov mit seinen 260 Einwohnern. Vor dem ersten Haus halten sie an, steigen ab, klopfen an die Tür. Nach drei Minuten des Fragens und Erklärens haben sie ein Zimmer – auf dem Hof eines Nachbarn. Das Abendessen: Gulasch mit Knödeln.

Der dritte Tag. Der Tag der Emotionen. Der Tag der Geschichte. Die Strecke führt sie mitten durch den Wald, durch die Natur – und entlang einer Grenze, die zwei Welten trennte: den Eisernen Vorhang. Hier verlief die Trennlinie zwischen „Westen“ und „Osten“, zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten und der NATO.

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Bikepacking-Tour durch Grenzgebiet

Max, Dan und Ondrej durchqueren das Grenzgebiet zwischen Bayern und Tschechien. Sie sind im Böhmerwald angekommen. Neben den schmalen geschotterten Waldwegen stehen immer wieder kleine grüne Schilder. Überall dort, wo bis 1949 kleine Dörfer standen. Bis sie abgerissen wurden – bis hier der Eiserne Vorhang entstand. Ihre Route führt genau entlang der Grenze. Irgendwann sehen sie ein altes überwuchertes Schild: „Nicht den Weg verlassen. Minengefahr.“

Die Wege sind schnurgerade angelegt – auch über die vielen Hügel hinweg: Wenn es bergauf geht, gibt es keine Serpentinen. Die Anstiege sind steil. Und werden, gefühlt, mit jedem Hügel steiler. Die Kraftreserven schwinden. Auf den meisten Hügelkuppen stehen noch Reste ehemaliger Scharfschützentürme. Nur 100 Kilometer schaffen sie an diesem Tag. Sie halten oft an und lesen Schilder und Infotafeln. Sehen verfallene Häuser, Zäune, Türme. Es sind: Zeugnisse der Geschichte. Europas und der Welt.

Richtung Mähren

Der vierte Tag ist beinahe eine Wiederholung des vorigen: Regen, Höhenmeter, Grenztürme. Sie kommen immer langsamer voran. Wegen des Geländes, wegen der Kälte, wegen ihrer Müdigkeit und wegen der fünf Platten, die sie während dieser Tagesetappe stoppen.

Es ist spät, fast 22 Uhr, als sie in Modrava ankommen. Das Dorf liegt im Süden des Böhmerwalds. 75 Einwohner, ein kleiner Skilift, eine Brauerei. Ihr Tages- und ihr Wunschziel. Es ist ein Wunsch, der sich erfüllt: Im Brauerei-Gasthaus ist noch genau ein Zimmer frei. Und: Die Küche ist noch geöffnet. Es gibt Essen – Hamburger und Pommes. Und noch mehr Pommes. Und noch mehr. Und zum Nachtisch: Dampfnudeln.

Der nächste Morgen, der Blick aus dem Fenster: Regen. Wie immer. Anziehen, Aufsteigen, Abfahrt. Von nun an zu zweit. Dan sitzt im Zug nach Hause. Sie durchqueren zerklüftete Felsformationen und Wald – bis sich plötzlich die Landschaft ändert. Sie öffnet sich – in Richtung Osten, gen Mähren. Entlang der Grenze zu Österreich wird das Gelände flacher, die Hügel werden weniger. Der Reichtum des ehemaligen Königreich Böhmens und der Habsburger wird in kleinen Ortschaften wie Csesky Krumlov, eine tschechische Märchenstadt, ersichtlich.

Auch die Landschaft erinnert an Szenen aus Erzählungen der Gebrüder Grimm. Nach einer langen Abfahrt im dichten Wald wird es nach einer Kurve ein wenig heller – ein See. Cerne Jezero, der Schwarzsee. Es ist der größte natürliche See Tschechiens. Er taucht fast unvermittelt auf. Eingerahmt vom Fichtenwald und einer senkrechten, 320 Meter hohen Felswand. Nebelschwaden hängen über dem glatten dunkelgrünen Wasser. Schöne kleine Dörfer wechseln sich mit großen dunklen sowjetischen Plattenbausiedlungen ab. Reich und arm, zwischen diesen Bildern liegen nur wenige Jahrzehnte.

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"Sie kommen langsam voran..."

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"...wegen des Geländes..."

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"...der Kälte..."

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"...der Müdigkeit. Und wegen fünf platten Reifen."

Böhmisch-mährischer Höhenzug

In dem offenen, flacheren Gelände kommen Max und Ondrej schneller voran. Je 140, 150 Kilometer schaffen sie an den kommenden beiden Tagen. Es könnten noch mehr sein, doch hier, an der Ostgrenze des ehemaligen Königreichs Böhmen, kennt sich Ondrej nicht aus. Die Mittelgebirgsregionen an der deutschen Grenze und das Adler- und Riesengebirge an der Grenze zu Polen hat er während etlicher Gravel-Touren durchfahren.

Doch der böhmisch-mährische Höhenzug ist ihm fremd. Die Strecke ist anspruchsvoller als die beiden erwarten. Mehr als 4000 Höhenmeter und 300 Kilometer legen sie während dieser beiden Tage zurück. Zwar ist keiner der vielen Anstiege länger als zwei, drei Kilometer – doch die beiden sind müde, und das Wetter bleibt schlecht. Am siebten Tag ihres Trips fahren Ondrej und Max durch Policka. Es ist die einzige etwas größere Stadt in dieser Region. Auch sie zeugt von der reichen Geschichte Böhmens.

Sieben Tage Bikepacking im Dauerregen

Die beiden fuhren einen Umweg in die Stadt, sie wollen ihre Vorräte auffüllen. Durch ein großes Tor gelangen sie in die Stadt, die von einer bis zu sechs Meter dicken Stadtmauer umgeben ist. Sie fahren über Kopfsteinpflaster auf den Marktplatz, vorbei an Fachwerkhäusern und Statuen und betrachten die Sehenswürdigkeiten vergangenen Reichtums. Es ist still in der Stadt, kaum ein Mensch ist zu sehen. Noch einmal halten sie inne und lassen die Eindrücke auf sich wirken.

Nach weiteren 50 Kilometern erreichen sie ihr Ziel, Chocen, eine Stadt im „Tal der Stillen Adler“. Dies wird ihr letzter Tag auf dem Rad, es wird der letzte Tag ihrer Reise. Ungeplant. Gezwungenermaßen. Der Lockdown erfordert es. 320 Kilometer vor der Rückkehr zum Ausgangspunkt brechen sie ihre Tour ab.

Nach sieben Tagen und mehr als 900 Kilometern im Dauerregen. Auf Trails, Schotterwegen und schlechten Asphaltstraßen, durch dichten Wald und vorbei an Zeugnissen der Weltgeschichte, entlang des zerklüfteten Elbsandsteingebirges und auf den Militärstraßen des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Sie erlebten ein Abenteuer, mitten in Europa – und wollen dieses Erlebnis auch anderen ermöglichen.


Das Rennen: Bohemian Border Bash Race

Das Bohemian Border Bash Race findet 2021 zum ersten Mal statt. Die Route ist entlang der Grenze des alten Böhmens fest vorgegeben. Die Teilnehmer fahren alleine oder als Paar, ohne Support. Die Strecke führt durch das Erzgebirge, den Böhmischen Wald, Mähren, das Riesengebirge und das Adlergebirge.

Etwas mehr als die Hälfte der Strecke verläuft auf ordentlich ausgebauten Schotterwegen, etwa vierzig Prozent auf oft schmalen Asphaltstraßen. Weniger als zehn Prozent sind schmale, anspruchsvolle Single-Trails.

Ein Ultracycling-Rennen, das ähnlich schwierig wie das Silk Road Mountain Race und das Atlas Mountain Race, aber in der Mitte Europas gelegen ist. Gleich nach dem Start erwarten die Fahrer gut 500 Höhenmeter, vom Elbufer in das Erzgebirge. Der Fichtelberg liegt auf der Route und ein paar längere Anstiege im Adler- und Riesengebirge am Ende.

Die große Schwierigkeit sind jedoch die kurzen, steilen Anstiege, die im Profil kaum sichtbar sind. Nicht nur in den Mittelgebirgen an der deutsch-tschechischen Grenze, sondern auch im vermeintlich flacheren Teil Richtung Mähren.


Training und Touren

Die Organisatoren des Bohemian Border Bash Race veranstalten bereits seit 2019 einmal jährlich ein Camp am Startort des Rennens in der Sächsischen Schweiz. Drei Tage lang verbringen die Teilnehmer dort mit anderen in einer Holzhütte und erleben das „Gravel-Flair“ – Lagerfeuer, Grillen, Geschichten und Ausfahrten über die Schotterwege des deutsch-tschechischen Grenzgebietes.

2021 findet das Camp vom 9. bis zum 12. September statt. Ein Rennen gab es auch in den vergangenen Jahren: den Big Bash. Start und Ziel befinden sich im Camp. Die Strecke: 307 Kilometer, mehr als 5000 Höhenmeter. Die Landschaft: traumhaft.

Die Strecke führt – wie auch der Beginn und das Ende des neuen Ultracycling-Rennens – durch das Weltkulturerbe des Elbsandsteingebirges. Die Fahrer passieren zerklüftete Felsformationen, durchqueren Sandsteinschluchten und überwinden den Gipfel des Jested, den mit 1012 Metern höchsten Punkt.


Bikepacking-Tour: Rad und Ausstattung

Prinzipiell kann jedes Rad zum Bikepacking verwendet werden. Die Wahl des Rades sollte den eigenen Ansprüchen und der Streckenplanung angepasst werden. Auf welchem Untergrund findet die Tour hauptsächlich statt? Welche Distanz will man pro Tagesabschnitt zurücklegen? Wie ist das Streckenprofil?

Gravelbikes eignen sich häufig für das Bikepacking. Sie verbinden eine langstreckentaugliche Geometrie und ein verhältnismäßig geringes Gewicht mit breiten Stollenreifen, die auch im Gelände viel Grip bieten.

Viele Hersteller bieten Gravelbikes mit einer Ausrichtung auf das Bikepacking an. Sie sind meist mit robusten, einfach zu wartenden Gravel-Komponenten ausgestattet. Zum Beispiel mit einem Einfachantrieb und offroadtauglichen Laufrädern. Der Rahmen bietet häufig zusätzliche Befestigungsmöglichkeiten für Gepäckträger, Taschen oder Flaschenhalter.

Einen großen Test von 17 Gravelbikes finden Sie hier.

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Welche Ausrüstung und welches Rad brauche ich für eine Bikepacking-Tour?


Bikepacking-Ausrüstung

Je nach der Länge der Reise und den Übernachtungsmöglichkeiten gibt es verschiedene Taschen-Kombinationen für das Gepäck. Die Grundausstattung: Lenkertaschen, Satteltaschen, Rahmentaschen, Oberrohrtaschen, Packsäcke, und bei Bedarf einen Rucksack.

Einen großen Test verschiedener Bikepacking-Taschen finden Sie hier.

Essenzielles Equipment für die Bikepacking-Tour

  • Fahrradausrüstung: Beleuchtung, Reparaturwerkzeuge, Flick-Set, Multitool, Ersatzschläuche, Reifenheber, Luftpumpe et cetera
  • Schlafen: Schlafsack, Isomatte, Zelt oder Biwaksack
  • Bekleidung: Helm, Brille, Schuhe, Trikot/kurz-lang, Hose kurz, Arm-/Beinlinge, Socken, Regenbekleidung, Fahrradhandschuhe, Freizeitkleidung und wärmere Radbekleidung je nach Wetter und Bedarf
  • Navigation: klassische Karte, GPS-fähiges Gerät mit Streckenplanung: Smartphone oder Fahrradcomputer
  • Sonstiges: Hygiene-Artikel und Erste-Hilfe-Set, Lebensmittel, Taschenlampe, Batterien, Ladekabel, Kamera etc.
  • Kochen – bei Selbstversorgung: mit Gaskocher, Feuerzeug, Becher, Topf, Besteck, Schüssel
  • Wasser: Trinkflaschen, eventuell Wasserfilter

Männer und Frauen: Unterschiede bei Training, Kraft, Ausdauer

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An der steilsten Stelle des Kurses tritt sie an, nach wenigen Hundert Metern ist niemand mehr an ihrem Hinterrad. Annemiek van Vleuten dreht sich kurz um – und startet ihr eigenes Rennen. Die Niederländerin kommt durch, nach einem 100-Kilometer-Solo – und wird Straßen-Weltmeisterin 2019. Annemiek van Vleuten ist eine Ausnahmeerscheinung im Frauen-Radsport. Insbesondere an Anstiegen ist sie – in den Saisons 2019 und 2020 – eine Klasse für sich. Könnte ein Phänomen wie sie nicht auch in der Männer-Konkurrenz mitfahren? Diese Frage stellt sich häufiger bei den besten Sportlerinnen ihrer Disziplin. Nur selten ist sie zu beantworten: Frauen spielen gegen andere Frauen Fußball, fahren gegen andere Frauen Ski und natürlich auch gegen andere Frauen Rad. Auch wenn Annemiek van Vleuten bereits häufiger das Männer-Team von Mitchelton-Scott in deren Trainingslager begleitete.

Sollten Frauen anders trainieren als Männer? Welches sind die konkreten Unterschiede zwischen Männern und Frauen? Wie erklären sich diese Leistungsunterschiede? Und wie können die Erkenntnisse darum in den Trainingsalltag integriert werden?

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Männer und Frauen: Die physiologischen Unterschiede

Körperliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind bereits bei der Geburt erkennbar. Jungen sind um durchschnittlich 1,4 Prozent größer und 3,8 Prozent schwerer als Mädchen. Dennoch sind Mädchen im Durchschnitt etwa zwei Wochen weiter als Jungen, was die Knochenentwicklung betrifft. Dieser Vorsprung erhöht sich in der Kindheit und erreicht zum Zeitpunkt der Pubertät etwa zwei Jahre – entsprechend früher setzt diese Phase bei Mädchen ein.

Dieser unterschiedliche Zeitpunkt ist von entscheidender Bedeutung für den menschlichen Geschlechtsdimorphismus. Jungen wachsen insgesamt durchschnittlich zwei Jahre länger und nehmen in der Adoleszenzphase auch weiter an Muskel- und Knochenmasse zu. Das sorgt dafür, dass Frauen einen um 25 Prozent leichteren Knochenaufbau besitzen – das weibliche Skelett ist graziler, Frauen sind daher im Durchschnitt kleiner und leichter als Männer, mit einem schmaleren Schulterumfang. Zudem besitzen Frauen, statistisch gesehen, um rund zehn Prozent kürzere Extremitäten und eine verhältnismäßig größere Rumpflänge. Diese Unterschiede sorgen für eine Verlagerung des Körperschwerpunkts nach unten. Dies wirkt sich – im statistischen „Normalfall“ – negativ auf die Lauf- und Sprungleistung aus.

Frauen verfügen zudem über weniger und kleinere Muskelfasern als Männer. Die mittlere Gesamtkörperkraft einer Frau beträgt rund 60 Prozent jener eines durchschnittlichen Mannes – zu diesem Ergebnis kamen Zatsiorsky & Kraemer in ihrer Studie durch den Vergleich breiter Gruppen ähnlich trainierter Sportler und untrainierter Personen. Der prozentuale Anteil der Muskeln am Gesamtkörpergewicht beträgt bei Männern durchschnittlich 42 Prozent – bei Frauen 32 bis 36 Prozent.

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Welche physiologischen Unterschiede gibt es...

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...zwischen Männern und Frauen?

Differenzen hinsichtlich der Ausdauerfähigkeit

Nach der Pubertät treten auch Differenzen hinsichtlich der Ausdauerfähigkeit zutage: Eine Studie von Wilmore und Brown verglich 2008 Langstreckenläuferinnen mit gleichaltrigen männlichen Läufern.

Die mittlere maximale Sauerstoffaufnahme – die VO2max – war bei den Läuferinnen mit 59,1 Millimol pro Kilogramm pro Minute bezogen auf das Gewicht um 15,9 Prozent niedriger als bei den Männern. Der Körperfettanteil ist bei Frauen durchschnittlich um fünf bis sechs Prozent höher als bei Männern.

Betrachtet man nur die fettfreie Körpermasse, sinkt die VO2max-Differenz auf 8,6 Prozent. Der höhere Körperfettanteil hat demnach einen großen Einfluss auf die VO2max. Frauen decken zudem durchschnittlich einen höheren Anteil des Energiebedarfs über den Fettstoffwechsel – was für die Ausdauerleistung vorteilhaft sein und sich auf die optimale Trainingssteuerung auswirken kann.

Der Faktor Testosteron

Ein weiterer wichtiger Faktor für die Leistungsfähigkeit ist das Herz-Kreislauf-System. Das Gewicht und die Größe des Herzens sind bei Frauen durchschnittlich geringer als bei Männern – absolut und relativ gesehen. Dies führt bei Ausdauerbelastungen zu einer höheren Herzfrequenzsteigerung – was im Ausdauersport ein Nachteil sein kann. Hinzu kommt, dass Männer aufgrund einer höheren Schweißbildung oft eine gesteigerte Wärmetoleranz aufweisen, Frauen haben im Gegenzug – alles rein statistisch gesehen – oftmals stärkere koordinative Fähigkeiten.

Blickt man auf die Spitzenleistungen in verschiedenen Sportarten, so lassen sich die Unterschiede auf Basis dieser geschlechterspezifischen Differenzen anschaulich erklären: Bei Ausdauersportarten beträgt der Leistungsunterschied durchschnittlich rund zehn Prozent – in Schwimm-Disziplinen teilweise weniger – bei Schnellkraftsportarten mehr: 15 bis 20 Prozent. Der Hormonspiegel variiert von Mensch zu Mensch stark, dennoch verfügen Männer meist über deutlich höhere Level eines Hormons, das einen Teil der Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern erklären kann: Testosteron.

Männer produzieren durchschnittlich mindestens zehnmal so viel davon wie Frauen. Dies hat Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit: Das Hormon regt die Bildung roter Blutkörperchen an, die den Sauerstoff zu den Muskeln transportieren. Testosteron kann zudem die Muskelmasse und die Hämoglobinwerte erhöhen sowie die Regeneration verbessern – ein klarer Vorteil für Athleten.

Der Menstruationszyklus

Frauen besitzen durchschnittlich zehn bis zwölf Prozent weniger Hämoglobin pro Kilogramm Körpergewicht als Männer. Im Rahmen einer Studie von Cureton & Bishop wurde männlichen Radsportlern rund ein Liter Blut entnommen, um ihr Hämoglobin-Level an das der an der Studie teilnehmenden Radfahrerinnen anzugleichen. Vor der Entnahme und drei Tage später wurde je die VO2max der Studienteilnehmer gemessen. Im Vergleich zu den Ergebnissen der Tests vor der Blutentnahme lag der VO2max-Wert der Männer nun im Durchschnitt um sieben Prozent niedriger. Ein durchschnittlich höheres Hämoglobin-Niveau, zu welchem das Testosteron maßgeblich beitragen kann, führt nach den Erkenntnissen aus der Studie zu einem höheren VO2max-Wert und damit zu einem Vorteil.

Die medizinische Forschung orientierte sich über Jahrhunderte am männlichen Körper. Und das nicht nur aufseiten der Forscher und Ärzte, sondern auch in Bezug auf Probanden und Untersuchungsobjekte. Der weibliche Zyklus – und sein Einfluss auf die Leistungsfähigkeit – ist daher lange Zeit recht wenig erforscht worden. Dabei verändert sich der Hormonhaushalt im Verlauf der Periode enorm, was große Auswirkungen haben kann.

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Welche besondere Ausrichtung des Trainings bietet sich bei Frauen an?

Belastungssteuerung am Zyklus ausrichten

Für Wettbewerbe, Training und die Leistungsfähigkeit im Allgemeinen kann es für viele sehr hilfreich sein, die Belastungssteuerung am Zyklus auszurichten. Der Modell-Zyklus ist 28 Tage lang und in drei Phasen unterteilt: Die Follikelphase dauert von Tag eins nach der Regelblutung bis etwa Tag 14. Anschließend folgen die Ovulations- und die Lutealphase. Von Tag 1 bis Tag 14 ist der Östrogenspiegel gering und somit dem Mann „ähnlicher“. Währenddessen kann der Muskel vermehrt Energie aus Kohlenhydraten nutzen, was für hohe Intensitäten im Training optimal ist.

Zudem ist in dieser Zeit ein Zuwachs an Muskelmasse besonders effizient möglich. Diese Phase empfiehlt sich für intensive Einheiten, aerob sowie anaerob, und Krafttraining. Dementsprechend sollten in dieser Phase auch mehr Kohlenhydrate zugeführt werden. Am Ende des Zyklus, etwa von Tag 20 bis Tag 28, sind die Östrogen- und Progesteronspiegel am höchsten. In dieser Phase sollten die Intensitäten eher reduziert werden.

Leistung & Training

Es steht dem Muskel dann oftmals weniger Energie aus Kohlenhydraten zur Verfügung und das Nervensystem ist ohnehin ermüdet, sodass hochintensive Trainingseinheiten kaum umgesetzt werden können. Die Auswirkungen der Periode auf die Leistung sind individuell verschieden, daher ist auch dieser Zeitplan nicht allgemeingültig, kann aber als eine Richtlinie dienen.

Die Leistungsfähigkeit vieler Frauen ist durch den Menstruationszyklus zum Teil eingeschränkt. Bei der Trainingssteuerung gilt zu berücksichtigen, dass das Leistungstief oftmals unmittelbar vor der Menstruation und das -optimum nach der Periode erreicht werden. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede bleiben auch nach einem gezielten Ausdauertraining bestehen, doch sind die Anpassungen hinsichtlich des Trainings laut Villiger et al. identisch.

Mithilfe dieses Wissens lässt sich die Intensität des Trainings auf die körperliche Verfassung abstimmen. Bei einem zu intensiven Training kann es auch sein, dass eine Amenorrhö, ein Ausfall der Periode, hervorgerufen wird. Dies ist bei rund 20 Prozent der Frauen mit einem Laufvolumen von 30 Kilometern pro Woche der Fall. Bei 90 Kilometern pro Woche sind es, nach der Studie, bereits rund 40 Prozent, bei denen eine Amenorrhö eintritt. Der Grund dafür ist die Verringerung des Fettanteils. Die weiblichen subkutanen Fettdepots gewährleisten ein Synthesepolster für Östrogene, die für den physiologischen Ablauf der Sexualfunktionen bedeutend sind. Sinkt der Körperfettanteil unter zwölf Prozent, so kann die Periode ausfallen.

Muskelanteil am Körpergewicht

Durchschnittlich ist der Muskelanteil am Körpergewicht bei Männern um rund zehn Prozent höher als bei Frauen, ein gleicher Trainingsstand vorausgesetzt. Dies hat Auswirkungen auf die Leistung: Die Beschaffenheit der Muskelfasern und die höhere Körperkraft bei Männern erklären die Leistungsunterschiede bei kraftbetonten Fahrsituationen wie zum Beispiel Sprints, Sprint-Disziplinen auf der Bahn und kurzen, steilen Anstiegen.

Aber: Die Trainierbarkeit der Kraftfähigkeit ist unabhängig vom Geschlecht. Athletinnen ist die gleiche relative Steigerung möglich wie Athleten, obwohl die Muskelmasse durchschnittlich geringer ist. Der Muskelaufbau ist ein komplexer Wachstumsprozess. Ausgelöst wird er durch einen entsprechenden Trainingsreiz. Zudem müssen die Voraussetzungen für das Muskelwachstum und eine erfolgreiche Regeneration vorhanden sein. Dazu braucht es ausreichend Nährstoffe, insbesondere Proteine und Kohlenhydrate. Körpereigene Substanzen wie Testosteron und andere Wachstumshormone dienen in diesem Prozess als Signale oder Botenstoffe. Ihre Konzentration im Blut ist nicht nur geschlechtsspezifisch, sondern steigt auch durch die körperliche Anstrengung während der Belastung.

Das Training ist die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu einem Muskelzuwachs kommt. Wer Muskeln aufbauen möchte, sollte zudem auf eine ausreichende Energieversorgung achten und hochwertige Proteine zu sich nehmen – unabhängig vom Geschlecht. Empfohlen werden bis zu 1,7 Gramm Protein pro Tag und Kilogramm Körpergewicht. Unter anderem innerhalb der ersten  Stunde nach der Belastung. Hochwertige Proteine sind etwa in vielen Getreide- und Vollkornprodukten, in Hülsenfrüchten wie etwa Erbsen sowie in Ei- und Milchprodukten enthalten.

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Wissenschaftliche Hintergründe und Studien zu Unterschieden zwischen Männern und Frauen

Männer und Frauen: Die Ernährung

Männer decken, statistisch gesehen, einen höheren Anteil ihres Energiebedarfs aus den körpereigenen Kohlenhydratreserven als Frauen. Männer und Frauen verstoffwechseln zwar bei einem Ausdauertraining knapp unterhalb der individuellen anaeroben Schwelle einen gleich hohen relativen Anteil von Kohlenhydraten zur Energiegewinnung.

Unterschiede zeigen sich allerdings bei den Quellen der Kohlenhydrate: Während Männer zu einem Großteil auf Muskelglykogen zurückgreifen, wird bei Frauen – durchschnittlich – stärker im Blut befindliche Glukose verstoffwechselt. Frauen scheinen demnach die Kohlenhydrate schlechter in den Zellen speichern zu können als Männer. Dies trifft allerdings nur dann zu, wenn die Menge der Kohlenhydrate auf das absolute Körpergewicht berechnet wird.

James et al. von der University of Western Australia betrachteten in ihrer Studie die Menge Kohlenhydrate pro „fettfreier“ Körpermasse. In diesem Fall gab es zwischen den Geschlechtern keine Unterschiede mehr. Das bedeutet, dass viele Frauen eine höhere relative Menge an Kohlenhydraten zuführen müssen, gemessen am Körpergewicht. Frauen können im Gegenzug stärker auf ihren Fettstoffwechsel als Hauptquelle des Energiebedarfs zurückgreifen. Dies ist jedoch nicht nur auf die geschlechtsspezifischen Hormon-Aktivitäten zurückzuführen, sondern lässt sich natürlich auch trainieren.

Analog zu dem Kohlenhydratspeicher weisen Frauen allerdings eine günstigere Ausgangssituation auf. Bei besonders langen Ausdauerbelastungen könnten sie davon potenziell besonders profitieren. Die Ultra-Triathletin Astrid Benöhr bewies dies Ende der 90er-Jahre, als sie die Männer-Weltrekorde über die fünffache und zehnfache Ironman-Distanz brach. Fiona Kolbinger siegte im vergangenen Jahr bei dem Transcontinental Race von Bulgarien bis nach Brest in Frankreich, einem Ultra-Radrennen ohne Unterstützung. Es war eines der ersten Ultra-Events ihres Lebens. Sie kam nach 4000 Kilometern als Erste von 263 Fahrern und Fahrerinnen ins Ziel.

Unterschiedliche Trainingssteuerung bei Männern und Frauen

Männer und Frauen unterscheiden sich statistisch gesehen hinsichtlich der Physiologie und der Hormonproduktion. Dies hat einen Einfluss auf die Trainingssteuerung und auf die Leistung. Frauen besitzen günstigere Voraussetzungen in Bezug auf den Fettstoffwechsel, Männer haben unter anderem Vorteile in den Bereichen der Maximalkraft und des Sauerstofftransportes.

Entscheidend ist, dass trotz dieser unterschiedlichen Ausgangssituation die physiologischen Eigenschaften gut trainierbar bleiben. Männer und Frauen können relativ gesehen gleichermaßen ihre VO2max, ihren Fettstoffwechsel und ihre Schnellkraft trainieren. Somit können alle Athletinnen und Athleten im gemeinsamen Training voneinander profitieren und die eigenen „Schwächen“ reduzieren.

Dieser Artikel erschien in RennRad 10/2020. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.